Hochdekoriert, dann deportiert

Von Gerald Beyrodt · 24.06.2009
Hunderttausend deutsche Soldaten jüdischen Glaubens zogen begeistert in den Ersten Weltkrieg. Am Ende sollten sie Schuld sein am verlorenen Krieg und dessen Folgen. Nur etwas mehr als zwei Jahrzehnte nach Ende des Ersten Weltkrieges wurden die meisten der einstigen Soldaten in den Konzentrationslagern umgebracht.
Bundeswehrsoldaten marschieren im Paradeschritt. Auf Kommando drehen sie die Köpfe. In der Hand: Kränze für die Kameraden von einst. Jüdische Soldaten, die im Ersten Weltkrieg umgekommen sind. "Gefallen", wie man damals sagte. Für ein Vaterland, das sie nur 30 Jahre später wahrscheinlich umgebracht hätte, im Nationalsozialismus. Ein Ritual, jedes Jahr am Volkstrauertag, auf dem sogenannten Ehrenfeld des riesigen jüdischen Friedhofes in Berlin-Weißensee.

Begeistert zogen die jüdischen Soldaten in den Krieg. Wollten unbedingt gute Deutsche sein, ihre Tapferkeit unter Beweis stellen. Doch schon bald sollten sie daran schuld sein, dass Deutschland im Krieg kein Glück hatte, sollten schuld sein an Mangel und Unterversorgung, galten als vaterlandslose Gesellen, als Profiteure des Krieges, als Drückeberger. Sie wollten Gleichberechtigung und wurden zum Sündenbock für alles und jedes. Eine Geschichte voller Hoffnungen, an deren Ende eine Katastrophe steht.

"An die deutschen Juden! In schicksalsernster Stunde ruft das Vaterland seine Söhne unter die Fahnen. Dass jeder deutsche Jude zu den Opfern an Gut und Blut bereit ist, die die Pflicht erheischt, ist selbstverständlich. Glaubensgenossen! Wir fordern Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterlande zu widmen! Eilet freiwillig zu den Fahnen!"

Aufrufe wie dieser im Berliner Gemeindeblatt erschienen 1914 in vielen jüdischen Zeitungen. Der Verein der deutschen Juden und der Centralverband deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens schworen ihre Mitglieder auf den Krieg ein. Die jüdischen Soldaten empfanden sich in erster Linie als Deutsche, waren oft froh aus der Stadt herauszukommen und gespannt auf Abenteuer. "Loyalitätskonflikte empfanden sie nicht", sagt Sabine Hank vom Berliner Centrum Judaicum.

"Sie haben sich so assimiliert gefühlt, dass sie Deutsche waren, die eben `n anderen Glauben hatten, mehr nicht, und da hat man nicht darüber nachgedacht, dass in Frankreich vielleicht auch Menschen sind, die auch den jüdischen Glauben haben, dass sich Glaubensbrüder gegenüberstehen und sich umbringen. "

Etwa 96.000 jüdische Soldaten zogen in den Krieg. In den Synagogen erklangen Gebete für Kaiser und Kaiserin und für einen siegreichen Ausgang des Krieges. Über Gut und Böse herrschte kein Zweifel: hier das gute deutsche Vaterland, dem der Krieg aufgezwungen worden war, dort die frevelhaften Feinde. Mehr noch: der Kampf Deutschlands wurde zur Sache der Gerechtigkeit stilisiert, die Feinde Deutschlands waren auch gleich "Verächter" von Gottes "heiligsten Geboten". Zudem fallen die wiederkehrenden Appelle an Tapferkeit, Pflichterfüllung über das Maß und an Opferbereitschaft auf.

Nur patriotisches, kaisertreues Getöse, wie es in Deutschland überall zu hören war? Leichtsinnige Floskeln von Menschen, die den Krieg unterschätzten? Die glaubten, dass er schnell zu Ende gehen würde? Oder mehr als das? Wer sich die Appelle an die Tapferkeit näher ansieht, merkt schnell, was solche Aufrufe übertönen sollen.

"Wir sind überzeugt, dass auch diejenigen unserer jüdischen Mitbürger, denen es nicht vergönnt ist, zu den Fahnen zu eilen und in Reih' und Glied mit ihren christlichen Mitbürgern dem Feind entgegenzutreten, es an Opferwilligkeit nicht fehlen lassen und den von allen Seiten ergehenden Aufrufen zu Sammlungen Folge leisten werden. Jetzt wird es sich zeigen, wie ungerechtfertigt die Behauptungen unserer Gegner sind, dass die Juden für die Verteidigung des Vaterlandes stets nur ein laues Interesse bekundet haben."

Aus den "Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus" vom August 1914. Wenn Juden ihre Vaterlandsliebe betonten und für Tapferkeit warben, dann war das immer auch ein Dementi.

Das Wort Antisemitismus stammt aus den 1880er Jahren, wahrscheinlich aus dem Umfeld des Journalisten Wilhelm Marr. Den alten judenfeindlichen Klischees von Gottesmord und Hostienfrevel erteilte Marr zwar eine Absage, dafür aber prägten Marr und seine Mitstreiter Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke neue Klischees: von einer geheimen Übermacht der Juden, vom Weltjudentum, von der Untreue der Juden gegenüber Deutschland. Es gab antisemitische Vereine, kleine antisemitische Parteien, antisemitische Kongresse, antisemitische Versammlungen an Universitäten.

Erst mit der Verfassung von 1871 hatten Juden die vollen Bürgerrechte bekommen. Gleichgestellt waren sie im Kaiserreich nicht: Das Richteramt blieb ihnen genauso versperrt wie der Staatsdienst oder die höheren Ränge der Armee. Vom Krieg erhofften sich die Juden, endlich gleichberechtigte Staatsbürger zu werden.
Bei Kriegsbeginn verkündete der Kaiser, dass er nur noch Deutsche kenne, unabhängig von Partei und Konfession. Großmütig, wie er wohl meinte, verzieh der Kaiser den Sozialdemokraten ihre frühere Renitenz. Auch Juden fühlten sich von dieser sogenannten "Burgfrieden-Rede" angesprochen. Ob sie gemeint waren, ist fraglich. Doch tatsächlich konnten in den ersten Kriegsmonaten viele Juden in die höheren Ränge aufsteigen. Die Zensur brachte die Antisemiten in den ersten Kriegsmonaten zum Schweigen, sagt Werner Bergmann vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung:

"Zu Beginn des Krieges sah es 'n Moment so aus, gerade mit dieser Verkündigung des Burgfriedens, dass der Antisemitismus, der gerade so ab 1912 noch mal richtig stark wieder aufgeflammt war, also 'ne ganze Reihe von antijüdischen Organisationen sich gegründet haben, dass das sozusagen im ersten Weltkrieg in der Anstrengung gegen den äußeren Feind, dass dort Ruhe wäre, die Antisemiten Ruhe geben würden."

In dieser Zeit wurde auch das Amt des Feldrabbiners möglich. Die deutschen Rabbiner waren begierig darauf, ihren Patriotismus zu zeigen: Das Amt war so begehrt, dass längst nicht alle Bewerber eingestellt wurden. Wer Feldgeistlicher werden wollte, musste einen militärischen Grad haben, musste "gedient haben", wie man sagte. Und er musste bereits als Gemeinderabbiner gearbeitet haben.

Sicher wissen wir von mindestens 30 Feldrabbinern, wahrscheinlich waren es mehr. Die jüngsten Feldrabbiner waren Anfang 30, die ältesten Mitte 40. Körperlich fit sollten sie sein. Reiten mussten sie können. Obwohl das Automobil schon erfunden war, waren Pferde das wichtigste Fortbewegungsmittel im ersten Weltkrieg. Oft betreuten Feldrabbiner jüdische Soldaten in einem Umkreis von 200 Kilometern – Strecken, die sie mit dem Pferd zurücklegen mussten, wenn es keine Bahnlinien gab. Wie alle Soldaten damals trugen die Rabbiner eine feldgraue Uniform, allerdings mit einer Armbinde mit Rotem Kreuz. Zu ihrer Uniform gehörte auch ein Revolver. Um ihren Hals hing eine Kette mit einem Davidstern.

"Sie waren natürlich vorwiegend zuständig für die Seelsorge vor Ort. Man hat versucht, Gottesdienste zu den hohen Feiertagen zu organisieren, man hat auch versucht, mit den Militärs vor Ort eine Freistellung der Soldaten zu erreichen, was auch oft funktioniert hat. Synagogen waren nicht immer da, man hat in christlichen Kirchen jüdische Gottesdienste abgehalten. Man hat versucht, in den Soldatenheimen für Literatur zu sorgen. Und man hat Kriegsgefangenenfürsorge abgehalten, man ist in die Kriegsgefangenenlager gegangen und hat versucht, die jüdischen Soldaten der Feinde seelsorgerisch zu betreuen."

Die Rabbiner versorgten die Soldaten mit sogenannten "Liebesgaben" aus der Heimat, also vor allem mit Tabak und Schokolade – und sie publizierten viel. Besonders zu den Feiertagen erstellten die Rabbiner Handreichungen mit Liedern und Gebeten.

Vor dem Frühlingsfest Pessach hatten sie alle Hände voll zu tun, für Hunderte von Soldaten den Auftakt des Festes zu organisieren, den Sederabend, ungesäuerte Brote zu bekommen und dafür zu sorgen, dass jeder Soldat ein Buch mit dem Ablauf der Feier hatte. Der Feldrabbiner der elften Armee Paul Lazarus schreibt über Pessach 1917:

"Das Bewusstsein, Hunderten von jüdischen Kameraden an der mazedonischen Front wahre Festtage bereitet zu haben, die einem jeden Juden für sein Leben lang in Erinnerung bleiben werden, mag der schönste Lohn für alle Helfer in Rheinland und Westfalen gewesen sein. - Cirka 350 - 400 Mann nahmen an den Seder-Abenden teil, aus allen Gauen Deutschlands stammten sie. Außerdem waren viele Österreicher und Ungarn sowie die gefangenen Glaubensbrüder anwesend. An langen weiß gedeckten Tischen hatte man Platz genommen. Eine frohe Stimmung herrschte: ein jeder freute sich, Jude unter Juden sein zu dürfen."

Von der Begeisterung über Pessach an der Front schreiben auch viele Soldaten in Feldpostbriefen. Das Fest muss sie inmitten von Mangel und Unterversorgung an Kindheit, Friedenszeiten und Familie erinnert haben.

Die Seelsorger widmeten sich dem Wohl und Wehe der Soldaten, waren für ihre Sorgen und Nöte da, doch sie schworen sie auch auf den Sieg ein, schickten sie in die Schlacht und oft genug in den Tod. Hier ein Gebet des deutschnational gesinnten Rabbiners Aron Tänzer.

"Gott der Gnade und des Erbarmens! In den Kampf auf Leben und Tod gehe ich jetzt für die heilige Sache unseres Vaterlandes (...). Auf unserer Seite ist das Recht und darum auch deine Hilfe. Erfülle mich und meine Kameraden mit Mut und Kraft, auf dass wir siegreich den Kampf bestehen und unversehrt aus demselben zurückkehren. Vergib mir und meinem reuevollen Empfinden alles, was ich in meinem bisherigen Leben vor dir gefehlt habe, damit ich sündenrein und deiner Gnade würdig sei. (...) Mit dir, o Gott, mutig hinaus für Kaiser und Vaterland! Amen."

"Wir müssen siegen" - Diesen programmatischen Titel trägt ein Kapitel in einer Schrift von Feldrabbiner Martin Salomonski über Seelsorge an der Westfront.

"Segen oder Fluch, das ist es ja, um das unser Vaterland jetzt kämpfen muss mit der ganzen Kraft, Segen oder Fluch, das ist es ja, was jedem einzelnen zufallen muss aus diesem Kampf. (...) Und das ist das Gewaltige, und ich will es ruhig aussprechen, das Schöne an diesem Krieg!
Ja, auch ein Krieg kann schön sein. Ein Krieg, der so begonnen, so aufgenommen wurde, der ist schön trotz aller Schrecken, die er bringt, einem jeden von uns noch bringen wird, trotz aller Wunden, die er geschlagen hat und noch schlagen wird, der bringt Segen."

Dass Feldrabbiner überhaupt in der deutschen Armee arbeiten konnten, erreichte der "Verband der deutschen Juden" – ein 1904 gegründeter Dachverband vieler jüdischer Organisationen, sagt Sabine Hank.

"Der 'Verband der deutschen Juden' hat also gleich nach Ausbruch des Krieges beim deutschen Kriegsministerium interveniert, weil bisher gab es keine jüdische Militärseelsorge. Zum Beispiel im Krieg 1870/71 waren keine jüdischen Feldgeistlichen dort. Man hatte jetzt aufgrund der Anzahl der jüdischen Soldaten diesen Anspruch noch mal beim Kriegsministerium bekräftigt und hat dann auch erreicht, dass im September 1914 die ersten Feldrabbiner an die Front gehen konnten."
Einen Vertrag zwischen dem Kriegsministerium und dem Verband der deutschen Juden gab es nicht. Aber das Kriegsministerium duldete die Arbeit der Feldrabbiner und bezahlte sie ab 1915 mit einer Aufwandsentschädigung, aus "Billigkeitsrücksichten", wie es hieß. Gleichgestellt mit den regulären christlichen Feldgeistlichen waren die Rabbiner nie.

Auch im Einsatz für das Amt des Feldrabbiners drückte sich der Traum von der Gleichstellung aus: Judentum sollte kein Makel mehr sein, sondern eine Religion wie das Christentum auch. Eine Eigenschaft, die hinter der deutschen Staatsangehörigkeit zurücktritt.

Sabine Hank: "Zu demonstrieren, dass man genauso assimiliert ist und integriert ist in die Gesellschaft wie die christlichen Bürger auch. Man wollte auch die jüdischen Soldaten gleichstellen, die nichts anderes waren als Bürger jüdischen Glaubens wie die anderen Bürger, die evangelischen oder katholischen Glaubens waren."

An der Ostfront waren die Feldrabbiner auch für die jüdische Zivilbevölkerung zuständig. Dort begegneten die Herren mit den deutschen Doktortiteln der ostjüdischen Welt des Schtetls oder dem, was davon übrig geblieben war.

Aron Tänzer war in Brest-Litowsk stationiert. Eigentlich war er ein Deutschnationaler – einer, der keinen Zweifel am Krieg hatte, der so von Deutschland überzeugt war, dass er sich häufig sogar Arnold Tänzer nannte. Doch an der Ostfront fühlte er sich als Jude, war entsetzt über die Pogrome, die im Zarenreich gegen Juden verübt worden waren. 1915 berichtete er für die Zeitung einer jüdischen Loge.

"Während bei den Kämpfen im Westen für den Soldaten jüdischer Konfession nur sein treudeutsches Empfinden vorherrschend ist und er dem Feinde nur als Deutscher, nicht aber als Jude gegenübertritt, kommt im Osten auch der Jude in ihm zur Geltung. Er bekämpft im Russenheere nicht nur den Feind des Deutschtums, sondern auch des Judentums. Und zwar den grausamsten, rohesten, den das Judentum jemals gehabt hat. "

Wehmütig und wütend erinnert Aron Tänzer an die zerstörte jüdische Gemeinde von Brest-Litowsk: an ihre sechshundert Jahre alte Geschichte, ihren fünfzig Synagogen. Für den deutschen Rabbiner "eine hochangesehene Stätte der Gelehrsamkeit". Tänzer findet nur noch Trümmer vor.

"Zusammengesunkene Häuserleichen, klaffende Lücken von in die Luft gesprengten Häusern, herabhängende Balkonfetzen, ein Anblick, der wahnsinnig machen könnte, wäre man nicht schon auf dem Wege bis hierher allmählich an derartige Bilder gewöhnt geworden. Und eine Spezialität dieses ungeheuren Trümmermeeres bilden die allenthalben herumliegenden Bücher und Blätter von solchen. Welches man dann auch aufheben mag, fast immer zeigt es hebräischen Druck, gibt Kunde vom gelehrten Treiben unglücklicher Juden, die einst hier ihre Heimstätte hatten und jetzt Gott weiß wo herum irren. Denn hier gibt's keine Juden mehr."

Jude und deutscher Patriot sein: das gehört für Tänzer zusammen. Zumindest versucht er Judentum und deutschen Nationalismus als zwei Seiten einer Medaille darzustellen. Denn wenn die Russen in Deutschland einfielen, würden sie dort ähnliche Verwüstungen anrichten wie in Brest-Litowsk, warnt er. Die Ostjuden haben Aron Tänzer so sehr interessiert, dass er sogar eine Geschichte der Juden in Brest-Litowsk schrieb.

Tänzers Rabbiner-Kollege Leopold Rosenack gründete 1916 im heute weißrussischen Kowno eine jüdische Volksküche, wirkte am Aufbau eines jüdischen Gymnasiums mit und an der Wiedereröffnung einer Talmudschule, einer sogenannten Jeschiwa. Ein Ort, an dem neue Rabbiner ausgebildet werden konnten. Rosenack veröffentlichte Broschüren auf Jiddisch und auf Hebräisch. Von der Obersten Heeresleitung, von Ludendorff und von Hindenburg, wurde Rosenacks Arbeit anerkannt. Das Engagement für die Zivilbevölkerung war durchaus gewollt. "Das Deutsche Reich wollte sich Sympathien aufbauen", sagt Sabine Hank.

"Das wird Kalkül gewesen sein, militärisches Kalkül. Es sollte ja deutsches Gebiet sein. Dann hat man sich gesagt, man kann die ja auf die entsprechende Seite ziehen, indem man die Bedingungen für die Menschen, die dort leben, verbessert. Und dann sind sie nicht gegen uns, sondern mit uns. Das ist eine ganz einfache Überlegung gewesen."

Im deutschen Reich wurde der Antisemitismus umso stärker, je länger der Krieg dauerte. Das Verbot antisemitischer Artikel hatte nur einige Monate gegriffen. Auch im Reichstag mehrten sich die judenfeindlichen Stimmen.

Einen Höhepunkt erreichte die Judenfeindlichkeit 1916. Da ließ das Kriegsministerium eine Zählung unter den jüdischen Soldaten durchführen. Evangelische oder katholische Soldaten mussten keine Fragebögen ausfüllen.

Sabine Hank: "Sie wollten wissen, ob sie freiwillig gezogen sind, und wann sie wo in welcher Stellung gewesen sind. Wenn jemand jetzt doch mal in der Schreibstube war oder in den hinteren Linien war, dann war es für sie gleich ein Beweis, dass derjenige sich gedrückt hat."

Für die jüdischen Soldaten war die Zählung eine Demütigung, schrieb Rabbiner Rosenack an den Verband der Deutschen Juden:

"Ein Landsturmmann erzählt mir, welch deprimierende Auswirkungen es auf die jüdischen Soldaten ausgeübt hat, als gleich beim ersten Appell 'die Juden vor die Front gerufen' und gezählt wurden. Da ging das bezeichnende Wort durch die Reihen: 'Jetzt sind wir gezeichnet.' "

Die Ergebnisse der Judenzählung wurden nie veröffentlicht. Das war neues Futter für die Gerüchte von der angeblichen Drückebergerei. Jude sein und gleichzeitig deutscher Patriot – das war seit der Judenzählung im Jahr 1916 schwieriger: Denn die Hoffnung, dass Juden in Deutschland Gleiche unter Gleichen sein könnten, zerschlug sich. Die Feldrabbiner setzten sich nun häufig dafür ein, dass antisemitische Schriften aus den Feldbibliotheken verschwinden sollten, meist erfolglos.

Im Winter 1916/1917 wurden wegen der militärischen Verluste die Lebensmittel knapp. Auch für den Hunger wurden Juden verantwortlich gemacht. Es hieß, jüdische Händler hielten die Lebensmittel zurück, um sie zu Wucherpreisen verkaufen zu können. Der Antisemitismus wurde geschürt von Vereinigungen wie dem Reichshammerbund und dem Alldeutschen Verband.

Werner Bergmann: "Man versucht also, schon vor Ende des Krieges 1917 so ´ne Art antisemitische Gesamtorganisation zu schaffen und sofort nach Kriegsende gibt es diese Bestrebungen und in diesem deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund schließen sich eine ganze Reihe dieser Organisationen zusammen. Immerhin hat der nachher ungefähr zweihunderttausend Mitglieder in Deutschland und bis 1922, wo er verboten wird, entfacht er wirklich eine Welle antisemitischer Propaganda, die man so vorher in Deutschland nicht gekannt hat."

Nach dem Krieg gründete sich ein "Reichsbund jüdischer Frontsoldaten". Der Verein veröffentlichte Statistiken, die die jüdische Kriegsteilnahme belegten, und Gedenkbücher für die gefallenen jüdischen Soldaten. Die sollten zeigen, welche Opfer Juden für Deutschland gebracht haben.12000 deutsch-jüdische Soldaten sind im ersten Weltkrieg umgekommen. Gegen das Stereotyp vom jüdischen Drückeberger, Wucherer und Kriegsgewinnler haben solche Richtigstellungen kaum geholfen. Die sogenannte Dolchstoßlegende besagte, dass die deutsche Armee inneren Feinden zum Opfer gefallen sei. Neben Sozialdemokraten vor allem Juden. Besonders Generalfeldmarschall Hindenburg verbreitete die Dolchstoßlegende. Als ehemaliger Kriegsherr musste er es besser wissen.

Der Friedensvertrag von Versailles wurde als Judenfrieden denunziert, die Weimarer Republik als Judenrepublik. Juden sollten an allem und jedem schuld sein: am Kapitalismus, am Bolschewismus, an der verhassten Demokratie, an der modernen Kunst.

Einen Höhepunkt fand die Gewalt gegen Juden mit dem Mord an Walter Rathenau. In dessen Folge wurde der deutsch-völkische Schutz- und Trutzbund verboten. Für Werner Bergmann ist der Unterschied zwischen dem Antisemitismus im Kaiserreich und dem in der Weimarer Republik evident.

"Da kann man schon sagen, dass abgesehen von dem Wendepunkt 1880 mit der Entstehung des modernen Antisemitismus der Erste Weltkrieg sicherlich eine ganz zentrale Radikalisierung des Antisemitismus bringt. Es gibt den Übergang vom Wort zur Tat. Im Kaiserreich, muss man sagen, ist der Antisemitismus normalerweise etwas Schriftliches. Die Leute veröffentlichen Zeitschriften, Broschüren und so weiter. Es gibt aber relativ wenig Tätlichkeiten. Es gibt wenig Aktionen eigentlich. Das ändert sich mit dem ersten Weltkrieg. Er wird handlungsbetonter."

Rabbiner Rosenack kämpfte nach dem Krieg offensiv gegen den Antisemitismus. Er ging auf antisemitische Versammlungen, diskutierte mit den Rädelsführern, konnte sogar den Mob beruhigen. Am Ende verließ er die Versammlung allerdings unter Polizeischutz. Seine Broschüre "Wahrheit und Gerechtigkeit" erschien in 60.000 Exemplaren. Sie sollte antisemitische Klischees widerlegen. Unterstützung erhoffte sich Rosenack von Hindenburg und Ludendorff – den Kriegsherren, mit denen er einst eng zusammengearbeitet hatte, doch die Unterstützung blieb aus. Für Rosenack eine herbe persönliche Enttäuschung.

Die ehemaligen Soldaten und Feldrabbiner waren stolz auf ihre Verdienste im Ersten Weltkrieg. Häufig waren sie Mitglied in örtlichen Veteranenvereinen. Rabbiner Aron Tänzer veröffentlichte sogar eine Geschichte des Göppinger Veteranenvereins.

Als er in der Nazi-Zeit aus dem Verein ausgeschlossen wurde, war das ein schwerer Schlag für ihn. Auf den entsprechenden Brief des Veteranenvereins von 1933 schrieb Tänzer mit der Hand die bitteren Worte: "Des Vaterlandes Dank". Für sein Begräbnis verfügte der einst deutschlandbegeisterte Rabbiner:

"Bei meiner Beerdigung soll keinerlei deutscher Nachruf oder dergleichen gehalten werden, auch keinerlei deutsches Gebet, sondern nur die üblichen hebräischen Gebete."

Die Deportationen hat Aron Tänzer nicht mit erleben müssen. Er starb 1937 eines natürlichen Todes. Seine Frau kam im Konzentrationslager Theresienstadt um.

Lange Zeit herrschte unter den jüdischen Soldaten die Hoffnung, von Diskriminierungen im Nationalsozialismus verschont zu werden. In der Tat bekamen sie noch 1934 zusammen mit anderen Soldaten das Frontkämpferkreuz. Hindenburg stiftete die Auszeichnung, "der Führer" verlieh sie. Die Ehre hat den Soldaten nichts genützt: Die meisten von ihnen wurden deportiert, nur wenige konnten sich ins Ausland retten."Besser erging es den einstigen Feldrabbinern", sagt Sabine Hank.

"Sehr viele konnten emigrieren, es gibt doch einige, die deportiert worden sind, aber die meisten konnten emigrieren. Das ist sicherlich auch dem geschuldet, dass sie auch viele Kontakte ins Ausland hatten durch ihre Tätigkeit als Gemeinderabbiner oder auch als Wissenschaftler, viele haben ja nebenbei veröffentlicht, und sie hatten dann natürlich die Kontakte, um eher emigrieren zu können als andere. Es gibt natürlich auch andere wie zum Beispiel Siegfried Alexander, der nicht emigriert ist, oder auch andere, die gesagt haben, ich bleib bei meiner Gemeinde, ich bin wie ein Kapitän auf einem Schiff, ich verlasse mein Schiff erst, wenn alle gegangen sind. Und das war dann auch das Problem, dass sie dann nicht mehr emigrieren konnten, weil es zu spät war und sie dann deportiert worden sind."

Die Zeremonie auf dem Ehrenfeld in Weißensee ist schon vorüber, da tritt ein alter Mann auf die Stufen des Mahnmals. In der Hand hat er Blumen. Die legt er neben die Kränze. Zwei jüngere Männer helfen ihm abwechselnd beim Gehen: seine Söhne. Karlheinz Heilmann heißt der alte Mann. Er ist 86 Jahre.

"Dass in allen Ländern die Juden genauso viel geopfert haben an Toten und Verwundeten wie die nichtjüdische Bevölkerung, nicht. Das ist erwiesen."

Karlheinz Heilmann erzählt von seinem Vater, der jüdischer Soldat war im Ersten Weltkrieg. Im Zweiten Weltkrieg trug der Vater den gelben Stern. Im Alter von 46 Jahren kam er um, bei einem Bombenangriff der Alliierten. Karlheinz Heilmann verabschiedet sich höflich. Das Ehrenfeld ist wie leergefegt. Man kann zu sich kommen und an die Zeit denken, als das Denkmal am Ehrenfeld eingeweiht wurde. Und an die Worte, die Leo Baeck hier sprach. An einem Junitag des Jahres 1927.

"Es ist ein Denkmal auf dem Friedhofe (... ), in dem beth olam ‚dem Hause der Ewigkeit - , der Ewigkeit, das will sagen, dass hier alle Leidenschaften schweigen, alles fern bleibt, was Menschen voneinander trennt und gegeneinander erregt. Nicht gegen irgendjemand ist dieses Denkmal errichtet, nicht ein Stein der Feindschaft will es sein. Für unsere Gefallenen steht es da. Für sie und gegen keinen."