Historikerin Susanne Rau

Grenzenloses Europa ist Fantasie

Die Friedensglocke auf der Oderpromenade in Frankfurt an der Oder.
Die Friedensglocke auf der Oderpromenade in Frankfurt ist Baudenkmal für die Oder-Neiße-Grenze. © picture-alliance / dpa-ZB / Soeren Stache
Susanne Rau im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 27.04.2016
Grenzen sind notwendig, um sich im gesellschaftlichen Miteinander zu definieren, sagt die Historikerin Susanne Rau. Der Glaube, angesichts der Globalisierung in einem Zeitalter ohne Grenzen leben zu können, sei eine "Einbildung" gewesen.
Liane von Billerbeck: Mauerfall, Grenzöffnung, ja, das war einmal, lange her. Nach einer historisch kurzen Zeit erleben wir auch in Europa die Rückkehr der Grenzen, die wieder gesichert, mit Stacheldraht versehen und auch genauestens kontrolliert werden. Gestern sprach ich hier im Programm mit dem einstigen Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio, und der erinnerte uns in Sachen Grenzen an einen Irrtum:
Udo di Fabio: Wir haben lange Zeit gesagt: Die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, also im Inneren eines Staates und dem Außen, der internationalen Welt, die sei überholt. Das habe ich immer für eine Fehlvorstellung gehalten. Die Grenzen wandeln sich, sie wirken nicht mehr so hermetisch, sie können nicht mehr vollständig geschlossen werden; aber die Grenze zwischen Innen und Außen bleibt bestehen, sogar in Europa, wie wir sehen. Es kommt darauf an, mit der Grenzvorstellung eines Staates umzugehen. Das Grundgesetz geht von der Konzeption eines offenen Staates aus, das heißt aber nicht, dass alle Grenzen niedergerissen werden, sondern dass man intelligent, kooperativ und eben auch immer im Hinblick auf die überragende Rechtsstellung des Einzelnen im Mittelpunkt der Rechtsordnung umgeht.
von Billerbeck: Der einstige Verfassungsrichter Udo di Fabio hier im Deutschlandradio Kultur. Susanne Rau ist Historikerin und hat in Erfurt den Lehrstuhl Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit inne und forscht zum Thema Grenzen. Sie ist jetzt am Telefon. Frau Rau, schönen guten Morgen!

Grenzen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit

Susanne Rau: Guten Morgen!
von Billerbeck: di Fabio sagt, die Grenzen wandeln sich, aber sie verschwinden nicht. Welche Formen von Grenzen, welche Arten, machen Sie denn als Historikerin aus?
Rau: Im historischen Rückblick haben wir natürlich noch sehr viel mehr Arten von Grenzen. Diese Vorstellung, dass jetzt Grenzen irgendwie in Form von Stacheldrähten oder Mauern da sind, das ist ja alles eine vergleichsweise relativ junge Erscheinung, jedenfalls, wenn man es flächendeckend betrachtet.
Grenzen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit waren vor allem Grenzpfähle, Grenzsteine, manchmal auch nur Markierungen, möglicherweise in Farbe oder an irgendwelchen markanten Bäumen. Also erst später kamen dann vielleicht mehr noch Schlagbäume hinzu, aber wie Sie sehen, das sind alles Dinge, die sind ganz leicht überwindbar. Das sind nur Zeichen im Grunde genommen. Und das ist eigentlich dann das Spannende daran, wenn man weiter zurückblickt, was für eine Vielfalt es insgesamt eigentlich schon gegeben hatte.

Grenzziehung als Folge der Staatenbildung

von Billerbeck: Warum aber sind Grenzen wichtig?
Rau: Das muss man ja auf verschiedenen Ebenen sehen. Das ist, wenn man es in politischer Hinsicht betrachtet, dann ist es eine Folgeerscheinung der Staatenbildungsprozesse. Und manchmal natürlich auch in älteren Kulturen hat es was mit zivilisatorischen Grenzen gegenüber anderen Ethnien, Völkern zu tun.
Aber Grenzen sind ja letztendlich überhaupt nicht nur was Politisches, nicht eine Ausformung von Staatlichkeit, sondern Grenzen brauchen wir auch im zwischenmenschlichen Miteinander. Grenzen gibt es ja auch zur Gruppenbildung. Wir brauchen Grenzen im Grunde genommen immer, um uns selbst zu definieren: Ich mich selbst gegenüber jemand anderem genauso wie Gruppen diese Differenz benötigen, um selbst sich als Gruppe finden zu können. Also gewissermaßen, ohne diese Differenz gibt es kein Miteinander, gibt es auch keine Erkenntnis in einem weiteren Sinne.

Nur die wirtschaftlichen Grenzen haben sich aufgelöst

von Billerbeck: Ist das auch ein Grund dafür, dass wir ausgerechnet jetzt, in Zeiten der Globalisierung, mit viel Unsicherheit, mit viel Druck so etwas wie eine Hochzeit der Grenzen erleben, dass man sich also wieder zurückzieht, auf etwas besinnt auch, also nicht bloß auf einen Raum, sondern auch auf ein Gebilde, auch ein inneres?
Rau: Ich glaube, im Moment – meiner Beobachtung nach, wenn Sie sagen, Zeitalter der Globalisierung oder so etwas: Die Unsicherheit ist womöglich darauf zurückzuführen, dass das eine Suggestion oder eine Einbildung von uns allen gewesen ist, dass sich diese Grenzen, wirtschaftliche Grenzen, auflösen. Wir sind ein Schengen und ein Euro-Europa, und alles löst sich auf. Aber das war vielleicht materiell so, das war sicherlich so, dass wir es auch im Alltag in vielerlei Weise positiv bemerkt haben, wenn wir nicht mehr so lange an Grenzübergängen stehen müssen oder Händler nicht an Zollstationen stundenlang warten müssen.
Aber de facto hat es ja Grenzen weiterhin gegeben, nur sie waren nicht in der Weise praktiziert worden. Sie sind auch weniger sichtbar geworden. Und vielleicht kommt da ein bisschen auch die Enttäuschung her für die Leute, die jetzt meinen, wir verlieren dadurch etwas.
Also, ich will nicht sagen, dass die Entwicklung gut ist, aber ich wollte nur darauf hinweisen, dass diese Verlustgeschichte auch daher kommt, dass man irgendwie für sich gedacht hat, wir leben in einem Zeitalter ohne Grenzen. Und das war eigentlich ja auch nicht der Fall.
von Billerbeck: Grenzen aus der Sicht der Erfurter Historikerin Susanne Rau. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Rau: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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