Historikerin Lorenz: Wikipedia ist ein heimliches Leitmedium

Moderation: Christine Deggau · 11.05.2007
Nach Ansicht der Historikerin Maren Lorenz von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur ist die Internet-Enzyklopädie Wikipedia ein heimliches Leitmedium. "Ich mache es daran fest, dass sowohl im Alltag als auch im wissenschaftlichen Bereich alle Welt diese Enzyklopädie zumindest vom Namen her kennt", sagte Lorenz.
Christine Deggau: Wissenschaft und Journalismus auf dubioser Grundlage. Von der Wirkungsmacht des heimlichen Leitmedium. Darüber möchte ich jetzt mit Frau Lorenz sprechen. Guten Tag.

Maren Lorenz: Guten Tag.

Deggau: Wikipedia, ein heimliches Leitmedium, wie Sie sagen, das ist ein großes Wort – woran machen Sie das fest?

Lorenz: Ich mache es daran fest, dass sowohl im Alltag, wenn ich mich mit Menschen unterhalte, als auch im wissenschaftlichen Bereich alle Welt diese Enzyklopädie zumindest vom Namen her kennt und man sich unterhält auch mit Studierenden in der Lehre, alle schon mal irgendwie drin rumgefummelt haben, die in irgendeiner Form einen Internetzugang haben.

Deggau: Das ist ja erst mal nichts Schlechtes.

Lorenz: Das ist erst mal nichts Schlechtes. Etwas besorgt werde ich dann, wenn ich von Journalisten bei Tagungen zum Beispiel dann gesagt bekomme, dass auch sie zum Großteil dort schon recherchieren und sich dann auch auf die dort gefundenen Informationen verlassen. Und wenn ich dann auch noch feststelle, dass zum Beispiel die "Financial Times Deutschland" in einer Statistik vom Januar festgestellt hat, dass das Wort Wikipedia inzwischen häufiger in wissenschaftlichen Journalen und vor allen Dingen ökonomischen Journalen benutzt wird als Begriffe wie Risikomanagement oder Qualitätsmanagement, dann wundere ich mich schon ein bisschen sehr, denn offensichtlich scheint ja auch im ökonomischen Bereich die Recherche dann schon zum Großteil auf Wikipedia zu beruhen.

Deggau: Aber da stellt sich doch die Frage, wie diese Wirkungsmacht zustande kommt, denn wer gesteht sie dem Medium Wikipedia denn zu, wenn nicht wir selbst, die Nutzer?

Lorenz: Genau, da haben Sie Recht. Wir selbst, wir leben ja in einem Zeitalter, das sich offensichtlich doch immer weiter beschleunigt. Der ökonomische Druck, der Zeitdruck ist extrem groß. Und die Zugriffsmöglichkeiten auf Wikipedia sind extrem bequem, zumal ja auch, wenn man irgendetwas googelt, inzwischen auch Wikipedia-Einträge immer ganz oben gerankt werden in den meisten Browser-Seiten und dadurch auch der Zugriff einfach extrem bequem und schnell ist.

Deggau: 90 Prozent aller Studenten, sagen Sie, berufen sich in ihren Aufsätzen, Artikeln, Hausarbeiten auf Wikipedia. Die erste Frage, woher wissen Sie das, und zweitens, warum lassen die Dozenten das denn durchgehen?

Lorenz: Ob die sich offiziell darauf berufen, das ist unterschiedlich, das hängt nämlich davon ab, ob Dozenten das tatsächlich auch akzeptieren, dass in Fußnoten Wikipedia zitiert wird. Fakt ist aber, dass, wenn man dann nachhakt, woher haben Sie denn Informationen, dann sagen Studenten durchaus auch ganz offen, ja, das habe ich doch bei Wikipedia gefunden. Viele Kollegen raten auch durchaus dazu, die selber auch ganz, sag ich mal, naiv mit Wikipedia umgehen und dann sagen: Wieso, das ist doch bequem, und viele Artikel sind da auch inhaltlich wunderbar, das kann man doch ruhig benutzen.

Deggau: Aber ist es nicht eigentlich Konsens, also hier in Journalistenkreisen – ich habe unter Kollegen eben gefragt –, jeder bedient sich bei Wikipedia, aber jeder recherchiert noch mal gegen –, ist das nicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit, gerade auch im wissenschaftlichen Betrieb?

Lorenz: Das sollte eine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit sein, dazu gehört aber auch, dass Sie bestimmte Recherchekompetenzen haben. Und das ist etwas, was in der universitären Ausbildung oder auch in der schulischen Ausbildung erst mal vermittelt werden muss. Das heißt, Sie müssen dann auch Multiplikatoren, sprich Lehrer und Dozenten, haben, die diese Recherchetechniken – und damit meine ich eben nicht nur die alten "analogen" über Bücher und Bibliotheken und Karteikästen, sondern eben gerade die modernen technischen Recherchemöglichkeiten, die müssen Sie beherrschen. Und da müssen Sie bestimmtes Kontextwissen haben, damit Sie überhaupt die Information beurteilen und einordnen können und auch überprüfen können. Und das ist nicht so einfach, und das muss eben auch gelernt werden.

Deggau: Aber es ist ja zum Beispiel so, dass in Grundschulen den Schülern die Nutzung von Wikipedia anempfohlen wird, an der Uni soll man es dann aber nicht mehr nutzen. Das ist aber doch ein bisschen Widerspruch, denn in der Schule wird ja die Grundlage für unsere Wissensbeschaffung gelegt, und irgendwann hat man das drin. Man geht auf Wikipedia, ein,klick und Wikipedia sagt uns, was wir wissen wollen.

Lorenz: Genau. Und das Wesentliche, was man eigentlich vermitteln müsste – und deswegen empfehle ich zum Beispiel auch in meinen Lehrveranstaltungen, es einfach auszuprobieren. Also ich habe das in meinen Online-Seminaren so gemacht, dass ich Studierenden gesagt habe, versuchen Sie doch mal, einen Eintrag zu verändern, und Sie werden sehen, wie einfach das ist. Und wenn man merkt, dass das Wissen in Wikipedia sozusagen ein fließendes ist, dass es keine fixen Wahrheiten gibt, dass in einer Sekunde, in der man sich vom Bildschirm weggedreht hat, schon wieder was ganz anderes auf der Seite stehen kann, dann merkt man, dass man dieser Information nicht trauen kann. Aber genau diesen Umgang, den lernt man, indem man darin ausprobiert, aber das heißt noch lange nicht, dass man den Informationen, die man darin findet, dann auch vertrauen soll. Man muss wirklich damit arbeiten, das ausprobieren sehr kritisch, aber es ist was anderes, ob ich damit sozusagen experimentiere oder ob ich es denn in irgendeiner Form als Informationsgrundlage benutze.

Deggau: Das ist sozusagen Wissen in Bewegung. Gehen wir mal von dem normalen Menschen aus, der geht nämlich davon aus, dass die Einträge von Wikipedia kontrolliert werden und dass es Hand und Fuß hat, was da steht. Wenn dem nicht so ist, würde es denn was ändern, wenn jeder über die Strukturen von Wikipedia Bescheid wüsste, würde das zu einem veränderten Umgang führen?

Lorenz: Ich denke auf jeden Fall. Es gibt, wie gesagt, überhaupt keine Redaktionen, die irgendeiner Weise inhaltliche Qualitätskontrolle leistet. Wikipedia funktioniert – wie Sie auch eben gesagt haben – über eine bestimmte Software, und das ist verbunden mit bestimmten technischen Zugriffsrechten. Und Wikipedia funktioniert nur darüber, dass bestimmte Leute bestimmte Zugriffsrechte haben und andere nicht. Das heißt, jeder normale User, also jeder normale Nutzer kann Einträge anlegen oder auch bearbeiten, es gibt aber andere Nutzer, die aufgrund bestimmter Verdienste, die sie sich eben in Wikipedia erworben haben – das wird auch alles sehr individuell gehandhabt –, bestimmte technische Vorrechte haben. Und diese Nutzer können dann zum Beispiel Artikel löschen oder sperren oder auch Nutzer löschen, dass die nicht mehr weiter an anderen Artikeln arbeiten können. Das heißt, diese Struktur, die kann man sich, auch wenn man sich mit Wikipedia intensiver beschäftigt, auf den Seiten teilweise durchaus nachlesen. Es gibt Informationsseiten über Wikipedia, die zur Verfügung gestellt werden, und da kann man sich über diese hierarchischen Strukturen auch informieren. Und wenn man die besser durchschaut, dann kann man auch mit Wikipedia anders arbeiten, und dann wird man auch die Informationen, die man dort liest, anders wahrnehmen.

Deggau: Wikipedia-Erfinder Wales reagiert ja schnell auf Kritik. Es soll jetzt bei Wikipedia Deutschland eine Reform geben, in der die Artikel in verifizierte und nicht kontrollierte unterteilt werden. Wäre das Hauptproblem damit behoben?

Lorenz: Das ist in der Theorie sehr schön, ich frage mich nur, wie das in der Praxis laufen soll. Es gibt ungefähr im Moment 580.000 Artikel nur in der deutschsprachigen Wikipedia, in der englischen zum Beispiel sind es inzwischen fast zwei Millionen. Es gibt in der deutschsprachigen Wikipedia 1,6 Millionen Seiten in der Datenbank. Da weiß ich nicht, wer sozusagen – und das läuft ja im Moment alles ehrenamtlich –, ich frage mich, wer das in der Praxis leisten soll. Dazu müsste man ja Fachleute finden, die sich dann bereit erklären würden, solche Artikel zu lektorieren, und dann müssten solche Artikel auch in regelmäßigen Abständen aktualisiert werden. Es gibt aber – und das weiß ich von sogenannten Wikipedisten, also leidenschaftlichen Wikipedianern – einen ganz massiven Widerstand unter den Leuten, die dort aktiv sind. Also es ist ja eine kleine Minderheit, die dort sehr, sehr stark aktiv ist. Und die sagen, das kommt überhaupt nicht in Frage, das verändert den demokratischen Charakter von Wikipedia, und dann würden wir alle aussteigen.

Deggau: Aber in Anbetracht der Arbeitslosigkeit unter Akademikern wäre das doch wunderbar?

Lorenz: Ja, das wäre wunderbar, wie gesagt, dann müsste es eben bezahlt werden, und dann müsste aber Wikipedia auf eine ganz andere ökonomische Grundlage gestellt werden. Und das ist ja ein ehrenamtliches Engagement, und die Wikimedia Foundation in den USA, die alte Wikipedia-Sprachversionen betreibt, sammelt ja auch fleißig Spenden. Das ist aber eine Frage, wird dieses Spendenaufkommen hoch genug sein, und dann müsste man tatsächlich auch erst einmal eine Struktur einrichten, die dann sagt, so, wir stellen tatsächliche Redakteure an für verschiedene Fachgebiete, und die werden dann bezahlt und die werden dann hauptamtlich diese Tätigkeiten vornehmen. Das würde eine Ökonomisierung dieses ehrenamtlichen Phänomens – will ich es mal nennen – bedeuten, und da gibt es unter den engagierten leidenschaftlichen Wikipedisten ganz massiven Widerstand.

Deggau: Bei der Tagung zur Seriosität von Wikipedia kürzlich in Basel, bei der Sie auch referiert haben, sprach man von einer Entwurzelung des Wissens. Wird Wikipedia da nicht etwas hoch gehängt?

Lorenz: Ich weiß es nicht, ich würde es nicht ideologisieren wollen, aber Fakt ist einfach, dass es im Alltag offensichtlich schon sehr, sehr wirkmächtig ist und dass Wissen ja auch ein relativer Begriff ist. Wissen kann nur eingeordnet werden in Zusammenhang mit anderem Wissen, das heißt, Sie brauchen immer Kontextwissen, um eine Information zu beurteilen, um den Wahrheitsgehalt überprüfen zu können. Und wenn Sie sozusagen sich nur noch über schnelle Klicks auf so einer Seite informieren und dann aber verzichten, weiterführende Informationen zu überprüfen oder auch vielleicht sogar die Basisinformationen, die darin stehen, zu überprüfen, dann führt das natürlich zu einer Entwurzelung, weil Sie gar nicht mehr wissen, wie kommt dieses Wissen überhaupt dahin, wer hat diesen Satz geschrieben, warum wurde dieser Begriff gewählt und nicht ein anderer. Sie können ja sehr viel Ideologie transportieren, und das passiert auch in Wikipedia. Also es wird ja auch benutzt, und wenn Sie nicht mehr überprüfen können, ob man Sie dort manipuliert, dann ist tatsächlich Wissen entwurzelt.

Deggau: Maren Lorenz war das, Historikerin an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Wir sprachen über die Frage, die sie eindeutig mit nein beantwortet, ob Wikipedia als seriöse Informationsquelle dient. Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Lorenz: Bitte schön, gern geschehen.