Historiker: Vorstellung von Ehe und Familie hat sich verändert

Moderation: Katrin Heise · 06.03.2013
Die CDU müsse ihre Wertvorstellungen an gesellschaftliche Realitäten anpassen, ohne die eigene Identität zu verlieren, meint der Historiker Andreas Rödder. Ein solches Spannungsverhältnis zu bewältigen sei schon immer "die eigentliche Kunst von Politik gewesen".
Katrin Heise: Wolfgang Schäuble sagte angesichts der Wertedebatte in der CDU kürzlich in einem Interview im "Tagesspiegel", wenn die CDU Volkspartei bleiben will, dann muss sie veränderte Realitäten zur Kenntnis nehmen. Denn wer glaubhaft für Werte einstehen will, muss sich immer auch Fragen, was heißt das Eintreten für diese Werte in einer veränderten Realität?

Andreas Rödder hat den Wertewandel in der Moderne untersucht, er ist Professor für neueste Geschichte in Mainz, momentan Gastprofessor am Deutschen Historischen Institut London.

Ich grüße Sie, Herr Rödder!

Andreas Rödder: Einen schönen guten Morgen, Frau Heise!

Heise: Was ist denn da nun Ihrer Meinung nach zu beobachten? Bewahrt die CDU, indem sie verändert, oder wirft sie Werte über Bord?

Rödder: Nun, beides. Es ist eine ganz alte Erfahrung, dass die Welt sich verändert, und dass sich jeder anpassen muss, auch die Parteien. Und es ist eine ebenso alte politische Debatte, dass man versuchen muss, sich an die Realitäten anzupassen, ohne die eigene Identität abzuschaffen. Und das ist die Kunst.

Heise: Die Identität schafft sich aber oft über die Werte.

Rödder: Ja, Werte sind so etwas wie allgemeine, grundsätzliche Orientierungsrichtlinien, nicht nur für das Verhalten und Entscheiden, sondern auch für das Denken und für das Reden. Es sind so etwas wie allgemeine Grundvorstellungen über falsch und richtig. Und das eint oder unterscheidet Menschen.

Heise: Warum eigentlich - weil sie gerade gesagt haben allgemein - warum eigentlich immer wieder diese Wertediskussion in der CDU/CSU? Das betreibt - also habe ich jedenfalls so beobachtet - keine andere Partei so obsessiv, beziehungsweise keiner anderen Partei wird diese Diskussion auch aufgehalst.

Rödder: Es klingt vielleicht so, aber das ist in der Sache nicht so, denn alle Parteien haben ja Werte. Wenn Sie vor allen Dingen gar nicht von Werten von Grundwerten sprechen, dann klingt das schon wieder viel vertrauter bei allen Parteien.

Denken Sie an die SPD: der Grundwert der Solidarität - für die FDP ist das die Freiheit, für die Grünen ist es Nachhaltigkeit oder Gewaltfreiheit. Das sind ja Werte, über die auch diskutiert wird, wenn wir zum Beispiel an die schweren Auseinandersetzungen in der SPD über die Agenda 2010 denken, oder die Auseinandersetzungen innerhalb der Grünen über den Einsatz im Kosovo 1999.

Das heißt, auch in anderen Parteien werden Werte diskutiert, wenn auch unter anderem Namen. Man hat manchmal den Eindruck, dass in der Union, desto lauter von Werten geredet wird, je unklarer ist, was in der Sache eigentlich damit gemeint ist.

Heise: Ja, während sie gesprochen haben, habe ich auch gedacht, klar, die Grünen diskutieren auch ständig über Werte. Winfried Kretschmann betont ja auch immer wieder, die Grünen seien wertkonservativ. Da kommt dann auch das konservativ, davor scheut er auch nicht zurück.

Rödder: Ja, das sind so ganz eigentümliche Begriffsverwendungen. Den Begriff konservativ können Sie politisch eigentlich kaum ungestraft verwenden - wenn Sie wertkonservativ sagen, ja. Wenn man von Werten spricht wiederum, denken alle wieder an konservativ, und es ist ein unausrottbares Vorurteil, dass Werte etwas sind, das politisch eindeutig konservativ belegt ist.

Dabei, wie gesagt, sind es allgemeine Orientierungsrichtlinien und Grundvorstellungen über falsch und richtig, wie gesagt, die sind überall anzutreffen.

Heise: Das heißt, Werte können auch progressiv sein?

Rödder: Ja, sicher, das kommt jetzt darauf an, wie Sie es jetzt, wie Sie es politisch bewerten, aber natürlich sind Freiheits- oder Selbstentfaltungswerte Emanzipationswerte, Werte, wie sie heute diskutiert werden, allgemeiner Gleichberechtigung, diese Differenztoleranz oder Antidiskriminierung, das sind ja ganz hochaufgeladene werthaltige Vorstellungen und Begriffe, und die würden Sie auf einer klassischen politischen Skala als fortschrittlich nicht so sehr konservativ einschätzen, wobei man über diese Frage progressiv konservativ bei solchen Werten auch immer noch mal eine zweite Diskussion anschließen kann.

Heise: Ronald Inglehart, der US-amerikanische Politologe und Sozialforscher, der stellte so ab 1965 einen Wertewandel fest, weg von - wie es damals hieß - materialistisch-bürgerlichen Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu postmaterialistischen Freiheits- und Selbstentfaltungswerten. Sie haben jetzt eben schon so angedeutet, unsere Gesellschaft geht jetzt auf diesem Weg weiter zu Individualwerten.

Rödder: Die Vorstellungen, die hinter den alten Forschungen von Ronald Inglehart aus den 70er-Jahren stecken, sind so sicherlich viel zu einfach. Wenn man sagt, dass die Werte sich von materialistischen zu postmaterialistischen Werten wandeln, dann ist immer die Frage, was ist eigentlich mit dem Postmaterialisten, der in Zeiten der New Economy sein Aktiendepot gefüllt hat und sehr genau drauf geachtet hat, wie die Wertentwicklung in seinem Depot ist.

Heise: Sehr materialistisch.

Rödder: Das wollte ich damit sagen, genau. Das heißt, Inglehart hat es sich zu einfach gemacht, es gibt dann Weiterentwicklungen dieser Forschungen - Helmut Klages hat das in Deutschland in den 70er- und 80er-Jahren betrieben, der gesagt hat, dass wir es mehr mit einem allgemeinen Wertewandelschub zu tun haben von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu Freiheits- und Selbstentfaltungswerten.

Auch das ist in sich noch ziemlich pauschal, weil Klages von dem sozusagen historisch einmaligen Schub seit den 60er-Jahren ausgeht und das im Grunde auch als eine Art linearer Entwicklung sieht. Im Kern ist das, was Klages damals festgestellt hat, durchaus richtig, aber es gibt nicht diese lineare Entwicklung von Werten. Wenn Sie daran denken, dass wir in den 90er-Jahren und in den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts sehr stark Werte erlebt haben, die so etwas wie ein Spillover aus der New Economy und aus einer globalisierten Ökonomie gewesen sind - wir haben ja ganz stark uns an Ratings und an Rankings und an Zahlen und an ökonomischen Werten orientiert -, das hat sich mittlerweile, spätestens seit 2008 erkennbar wieder verschoben.

Heute haben wir es sehr viel mehr mit einer Dominanz von inklusiven Werten zu tun, wenn Sie bis hin zur Diskussion über die Abschaffung des Sitzenbleibens in der Schule denken, über die Gleichstellung von Frauen beziehungsweise die Frauenförderung in Aufsichtsräten von Unternehmen, also Gender Mainstreaming, oder Diskriminierungsverbot, das durch das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, dann sind wir schon am Rande der Debatte, die wir momentan über homosexuelle Lebensgemeinschaften führen. Aber das ist etwas anderes als die Debatte aus den 70er-Jahren.

Heise: Wertewandel - unser Thema im Deutschlandradio Kultur mit dem Historiker Andreas Rödder. Herr Rödder, sind eigentlich Werte, wenn sie moralisch fundiert sind, immer höher zu bewerten, also haben sie auch ein höheres Ansehen in der Gesellschaft?

Rödder: Werte haben ein hohes Ansehen bei denjenigen, die sie vertreten, bei denjenigen, die sie artikulieren. Denn noch einmal, Werte sind Grundvorstellungen über falsch und richtig, und deshalb sind sie natürlich moralisch aufgeladen. Derjenige, der einen Wert hat, begreift diesen, weil es sich aus seiner Sicht um etwas grundsätzlich Richtiges handelt, als moralisch. Zugleich sind Werte, weil es sehr grundsätzliche Vorstellungen sind - Werte sind ja nicht ganz konkret ins Einzelne gehende Bedürfnisse, sondern so etwas wie allgemeine Grundvorstellungen.

Deswegen sind sie zugleich vage, sie sind moralisch aufgeladen, und deswegen sind sie zugleich aber auch so emotionalisiert. Und deswegen laufen diese Debatten über Grundwerte, weil sie moralische Debatten sind, immer auch so schnell so emotionalisiert ab. Das sind Fragen des Selbstverständnisses und der Identität, die dahinter stehen.

Heise: Des Selbstverständnisses des Einzelnen, und dann aber auch der Gesellschaft. Weil, wenn ich mir jetzt so vorstelle, einen schwulen, verheirateten CDUler, der hat seinen Wert und den Wert seiner Partei, und da gibt es dann die Kollisionen, und dann wird es eigentlich spannend.

Rödder: Ja, ich würde noch dazwischen, zwischen den Einzelnen und die Gesellschaft würde ich die sozialen Gruppen setzen. Sehen Sie, man kann sich ja fragen, ist das eigentlich nötig, muss das eigentlich sein. Aber ebenso stellen wir empirisch fest, dass Menschen nach Sinn suchen, die wollen wissen, was falsch und richtig ist.

Das gilt für Einzelne, das gilt für Gruppen - stellen Sie sich allein ein Unternehmen vor, irgendwann haben die auch alle gesagt, reiner Profit ist dann irgendwie doch zu wenig, und dann hat man angefangen, Corporate-Governance-Richtlinien zu erlassen oder ein Mission Statement zu erlassen und sich irgendwie dann doch wertorientiert zu verhalten.

Für Gesellschaften gilt das auf der Ebene der politischen Auseinandersetzungen auch, na ja, und dann muss sich natürlich der Einzelne in diesem Rahmen verhalten. Werte sind auch so etwas wie der Rahmen des allgemein akzeptierten, und weil Sie gerade von dem schwulen CDU-Politiker sprachen, da ist es natürlich so, dass sich Werte schlicht und einfach auch verändern.

Wir haben in Artikel sechs des Grundgesetzes die Aussage, dass Ehe und Familie den besonderen Schutz des Grundgesetzes besitzen. Das steht da so da, was sich aber wandelt, ist das - und das sehen wir ja gerade im Moment -, was wir unter Ehe und Familie eigentlich ganz konkret verstehen. In dem Zusammenhang ...

Heise: Ja, aber eines würde mich am Schluss noch interessieren: Die Politik, welche Rolle spielt sie dabei, soll sie die Werte füllen oder soll sie nur die Wertdiskussion anstoßen?

Rödder: Werte und Wertewandel vollziehen sich - wir sagen das in unserem Mainzer Forschungsprojekt immer - wie in einem Dreieck, dem sogenannten Wertewandelsdreieck.

Da haben Sie auf der einen Seite die Werte als kulturelle Artefakte, Sie haben dann zweitens das Verhalten, die soziale Praxis der Menschen und Sie haben drittens Institutionen. Das sind rechtliche Regelungen, das sind aber auch Parteien, das sind auch materielle Rahmenbedingungen und Strukturen.

Und diese drei Faktoren wirken aufeinander ein, das heißt, die Politik wird auf der einen Seite natürlich vom gesamtgesellschaftlichen Rahmen beeinflusst, und wenn der sich verschiebt, dann verschiebt sich auch die Politik. Da hat ja unser Gespräch vorhin begonnen.

Umgekehrt ist aber auch die Politik, sind auch Politiker, sind aber überhaupt Menschen in einer Gesellschaft Akteure des Wertewandels und so auch die Politik, die also so in einem ständigen Spannungsverhältnis steht, dazwischen einerseits gesellschaftlichen Wandel nachzuvollziehen, andererseits aber auch den Anspruch zu haben, diesen Wandel mitzugestalten. Und das in die Balance zu bringen, und damit kommen wir zum Anfang unseres Gesprächs zurück, ist immer schon - aber das beobachten wir in der gesamten Geschichte - die eigentliche Kunst von Politik gewesen.

Heise: Andreas Rödder über Wertewandel in - und nicht nur - unserer modernen Gesellschaft. Danke schön, für dieses Gespräch!

Rödder: Sehr gerne, auf Wiederhören, Frau Heise!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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