Historiker Rödder über Samuel Huntington

Kein Prophet, aber ein unkonventioneller Denker

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Der Politologe Samuel P. Huntington in schwarzweißer Nahaufnahme
Der Politologe Samuel P. Huntington lehrte fast 60 Jahre in Harvard. © picture alliance / akg-images / Armin Pongs
Andreas Rödder im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 22.03.2016
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1996 veröffentlichte Samuel Huntington das Buch "The Clash of Civilizations". Vieles darin wirkt fast seherisch, wie seine Vorhersagen über den Islam und die Ukraine, doch in einigen Punkten liege er auch daneben, meint der Historiker Andreas Rödder.
Laut dem 2008 verstorbenen US-Politologen Samuel Huntington befindet sich der Westen auf dem absteigenden Ast – eine globale Ausbreitung seiner Ideen werde es nach dem Ende des Kalten Krieges nicht geben. Besonders zum Islam werde der Westen eine brisante Beziehung führen, prophezeite Huntington. Ebenso, dass die Ostukraine bald wieder zu Russland gehören werde. Dies sind nur einige der Thesen aus Huntingtons 1996 erschienenem und heftig diskutiertem Buch "The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order".
Vieles davon sei eingetreten, doch Huntington habe in einem Punkt nicht Recht behalten, sagt der Mainzer Historiker Andreas Rödder: "Was wir seit den 90er-Jahren erlebt haben, ist der Aufstieg der anderen, vor allem in Ostasien. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit einem Abstieg des Westens. Die USA sind bis heute, um ein Beispiel zu nennen, der globale Vorreiter der Spitzentechnologie, der digitalen Technologie. Und Europa, Deutschland zumal ist zum bevorzugten Ziel von globalen Flüchtlingsströmen geworden."

Was bedeutet dem Westen die Freiheit?

Allerdings habe Huntington darin Recht, dass der Westen mit seiner Freiheit nach dem Ende des Kalten Krieges wenig anzufangen gewusst habe. Die Frage, was der Freiheitsbegriff des Westens, den dieser im Ost-West-Konflikt wie ein Banner vor sich her getragen habe, eigentlich bedeute, sei nach 1989 kaum gestellt worden.
Problematisch findet Rödder bei Huntington die Gleichsetzung von "Islam" und "Islamistischer Terror". Das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Interessant finde er aber den Gedanken der "kulturellen Differenz", der bei Huntington auftaucht. Um solche Unterschiede zu studieren, müsse man nicht in den Nahen oder Mittleren Osten gehen - diese kulturellen Differenzen seien bereits in Europa zu beobachten, etwa in der Euro-Krise.


Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Es war ein Aufsatz, dann ein Buch, dann irgendwann ein Begriff, ein politischer Kampfbegriff: der "Kampf der Kulturen". Vor allem für alle, die sich dank Samuel P. Huntington bestätigt sahen in der Unvereinbarkeit zwischen dem Westen und dem Islam. 2014 hat Russland die Krim annektiert, ein Detail aus dem 20 Jahre alten, umstrittenen Werk "Kampf der Kulturen". Aber hat denn das Gesamtwerk heute noch irgendeine Gültigkeit? Fragen wir den Mann, der gerade eine "Kurze Geschichte der Gegenwart" vorgelegt hat, der Mainzer Historiker Andreas Rödder. Fangen wir mal mit der Grundannahme an: Der Abstieg des Westens, den Huntington 1996 prophezeit, haben wir den erlebt oder erleben wir ihn gerade, im Moment?
Rödder: Was wir seit den 90er-Jahren erlebt haben, ist der Aufstieg der anderen, vor allem in Ostasien. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit einem Abstieg des Westens. Die USA sind bis heute, um ein Beispiel zu nennen, der globale Vorreiter der Spitzentechnologie, der digitalen Technologie. Und Europa, Deutschland zumal ist zum bevorzugten Ziel von globalen Flüchtlingsströmen geworden. Allerdings ist richtig, dass der Westen mit seiner Freiheit nach 1990 wenig anzufangen gewusst hat. Die Frage, was die Freiheit des Westens, die der Westen als Banner in der Auseinandersetzung im Ost-West-Konflikt vor sich hergetragen hat, die Frage, was diese Freiheit des Westens eigentlich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sei, die ist nach 1989 kaum gestellt worden.

Kein Generalschlüssel zur Erklärung der Weltpolitik

Frenzel: Also kein "Ende der Geschichte", kein Francis Fukuyama, sondern – jetzt komme ich wieder auf Huntington und das bestätigen Sie ja eigentlich mit dem, was Sie sagen – es gibt andere kulturelle Blöcke, die ihren Platz gefunden haben. Ist das, ja, ein Paradigma, dieses Zivilisationsparadigma, das heute hilfreich ist?
Rödder: Also, das Zivilisationsparadigma, so wie es Huntington vorgestellt hat in seinem Buch, ist als ein analytisches Raster sicherlich zu pauschal und sehr statisch und als ein Generalschlüssel zur Erklärung der Weltpolitik sicherlich überzogen. Das gilt aber grundsätzlich für jedes Modell. Das Entscheidende ist halt die Frage: Worum geht es eigentlich bei Huntington und wogegen richtet er sich? Wogegen richtet sich seine Theorie? Sie richtet sich gegen die Großideologien des 20. Jahrhunderts, die mit dem Ende des Kommunismus 1989 in der Tat abgewirtschaftet hatten. Aber er sagt ja noch mehr …
Frenzel: Aber er sieht ja im Gegenzug einen Aufstieg einer anderen neuen Großideologie, den Ersatz für den Marxismus, und den findet er im Islam. Das war ja auch die spannendste, die konfliktträchtigste Gegenüberstellung, die er vorgenommen hat. Wenn wir jetzt die lange Liste des islamistischen Terrors seither aufzählen, ist das die Bestätigung eigentlich, dass wir diesen Kampf der Kulturen in der Tat bekommen haben?
Rödder: Man muss aufpassen, dass man jetzt nicht den islamistischen Terror mit dem Islam gleichsetzt, den gibt es ja so nicht. Aber dennoch gibt es Tendenzen einer Politisierung und der Fundamentalisierung der arabisch-islamischen Welt, die hat sichtbar begonnen im Iran seit 1979 und sie hat sich vor allen Dingen niedergeschlagen im Wahhabismus und im Salafismus, das heißt in Strömungen, die sich an früheren Zuständen orientieren und diese früheren Zustände wiederherstellen wollen. Das nennen wir in unserem westlichen Begriffsverständnis schlicht und einfach reaktionär.

Politische Implosion des Nahen Ostens

Wir können es aber auch mit Navid Kermanis großen Rede zur Verleihung des Friedenspreises 2015 ausdrücken, der von einem Niedergang von kultureller Vielfalt, von Kreativität und von Freiheit innerhalb des Islam gesprochen hat. Und das hat zu einer politischen Implosion des Nahen Ostens geführt und das wiederum ist ein Faktum, das so bei Huntington nicht prophezeit worden ist, aber auch nicht so ganz weit davon entfernt ist. Und das zeigt, dass die Entwicklung des Nahen Ostens – und für den spielt der Islam eine große Rolle – ein weltpolitisch wichtiges Phänomen geworden ist.
Frenzel: Die Frage ist natürlich, inwieweit ein Huntington und andere in seinem Fahrwasser genau diesen Konflikt auch mit programmiert haben, mit dieser stillen, ich nenne sie mal postkolonialen Attitüde: Der Orient ist und bleibt im liberalen Sinne rückständig.
Rödder: Ja, es gibt natürlich immer die Gefahr der selbsterfüllten Prophezeiung, immer die Gefahr, dass eine Wahlanalyse das Wählerverhalten beeinflusst. Aber umgekehrt, finde ich, wird ein Schuh daraus, denn umgekehrt kann man ja sagen, dass die Gefahr besteht, dass man den Überbringer einer Botschaft köpft. Die Gefahr, wenn man das so formuliert, auch die, dass man Denk- oder Sprechverbote ausdrückt.
Und ich würde etwas anderes sagen: Das Entscheidende, was Huntington in seiner Schrift ausdrückt, ist der Hinweis auf die kulturelle Dimension, die für die weltpolitische Entwicklung eine große Rolle spielt. Und die richtet sich sowohl gegen das Weltbild eines selbstgewissen westlichen Neoliberalismus als auch gegen die Vorstellung eines fortschrittsgläubigen westlichen Universalismus.

Kulturelle Differenzen in Europa

Dass kulturelle Differenzen – da liegt das Entscheidende, was Huntington zum Ausdruck gebracht hat – eine große Bedeutung haben, das haben wir ja auf einer anderen Ebene beispielsweise innerhalb der europäischen Integration gemerkt, wo man die kulturellen Differenzen innerhalb Europas – das hat jetzt mit Huntingtons Zivilisation gar nicht so viel zu tun – zutiefst unterschätzt hat, beispielsweise im Hinblick auf die Währungsunion, das fällt uns jetzt auf die Füße. Und genau darauf hinzuweisen, finde ich, ist die große Leistung von Huntingtons Buch.
Frenzel: Was folgt daraus? Letztendlich die Verabschiedung von der Idee, dass es universelle Dinge, universelle Werte gibt?
Rödder: Zumindest die Verabschiedung von der Idee eines Endes der Geschichte unter dem Vorzeichen von westlichen Werten. Huntington – das übersieht man immer so leicht – ist ja sehr klug, wenn er sagt, dass das, was der Westen als universelle Werte ausgibt, für andere oftmals nichts anderes ist als westlicher Imperialismus. Und ich finde, die Idee des Westens hat ihre Bedeutung und große Strahlkraft, aber sie zu einer globalen Missionsidee zu machen, hat in der Tat etwas Imperialistisches an sich.
Ich finde ganz wichtig, dass Huntington die politisch-kulturellen Unterschiede in globaler Hinsicht zur Geltung gebracht hat, als Faktor benannt hat. Das hat man in den 90er-Jahren nicht wahrhaben wollen und deswegen ist Huntington ja auch vielfach angefeindet worden. Heute ist die Bedeutung von Religion als ein wichtiger Faktor der Gegenwart weitestgehend akzeptiert. Ich würde sagen, Huntington war kein Prophet, aber er war ein unkonventioneller Denker gegen den Mainstream. Und ich glaube, das ist nötiger denn je.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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