Hirnforscher fordert Extra-Steuer auf "Killerspiele"

Moderation: Maike Albath · 24.11.2006
Der Amoklauf von Emsdetten hätte nach Ansicht des Hirnforschers Manfred Spitzer weder durch mehr Medienpädagogik noch durch ein besseres Frühwarnsystem verhindert werden können. Gewaltmedien müssten mit einer höheren Steuer belegt oder verboten werden, forderte Spitzer.
Maike Albath: Bilderchaos im Kopf. Was können "Killerspiele" auslösen? Nach dem Amoklauf von Sebastian B. in Emsdetten diskutiert man wieder über die Auswirkungen von Computerspielen. Als "unverantwortliche Machwerke" unserer Gesellschaft bezeichnete sie der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber. Im Studio von Deutschlandradio Kultur ist jetzt der Hirnforscher Professor Manfred Spitzer, Professor für Psychiatrie, Autor zahlreicher Bücher zum Gehirn und zu den Auswirkungen der Medien. Guten Tag, Herr Spitzer.

Manfred Spitzer: Guten Tag.

Albath: Herr Spitzer, Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch veröffentlicht unter dem Titel "Vorsicht Bildschirm!". Und da heißt es an einer Stelle: "Bildschirmmedien machen dick, dumm und führen zu Mord und Totschlag." Haben wir die Gefahren von Computerkonsum ganz einfach unterschätzt?

Spitzer: Nun, das hängt davon ab, wen Sie mit "wir" meinen. Ich denke, Wissenschaftler nicht. Denn es gibt eine ganze Reihe von Studien, die tatsächlich zeigen, dass Bildschirmmedien ganz allgemein und Computerspiele ganz besonders wirklich ganz unerwünschte Konsequenzen haben, gerade bei Kindern und Jugendlichen. Sie machen tatsächlich dick, dumm und gewalttätig. Sie stören die Aufmerksamkeit. Sie führen zu Lese-, Rechtschreibstörung. Sie machen wirklich all das, was wir nicht wollen, was mit unseren Kindern und Jugendlichen geschieht. Das machen die. Was mich ein bisschen verwundert, ist, dass es immer erst einen Amokläufer braucht, bis die Erkenntnisse, die die Wissenschaft wirklich lange hat und auch klar hat, bis die, ja, mal in die Köpfe der Leute reingehen.

Denn im Falle eines einzigen Amokläufers ist es im Nachhinein, selbst wenn der lange jetzt an Medien gespielt hat, was er wohl hat, ist es im Nachhinein gar nicht auszusagen, was der Anteil der Medien und was vielleicht der psychosoziale Hintergrund und was auch sonst da mitgespielt haben mag. Aber es ist halt ein statistisches Problem. Das ist wie mit Rauchen und Lungenkrebs: Jeder kennt einen, der hat bis 80 geraucht, wird dann vom Lastwagen überfahren; und es gibt andere, die kriegen mit 25 Lungenkrebs, haben nie geraucht. Aber einen statistischen Zusammenhang zwischen Rauchen einerseits und Lungenkrebs andererseits, den kennen wir und wir wissen auch, wie es funktioniert. Und bei den Gewaltspielen und der realen Gewalt ist das genauso. Wir kennen erstens einen statistischen Zusammenhang. Und die Gehirnforschung sagt uns auch, wie Lernen, wie Gewöhnung, wie Habituierung, wie das funktioniert.

Albath: Woher haben Sie denn überhaupt diese Erkenntnisse gewonnen? Wie konnten Sie das messen?

Spitzer: Nun, Beispiel: Man lässt Leute ein gewalttätiges Computerspiel spielen oder eben was anderes und hinterher guckt man, wie gewalttätig sind die. Und auch das kann man experimentell messen. Man lässt sie zum Beispiel einen Drink mixen aus Tabasco und Wasser. Und wenn die vorher ein Gewaltspiel gespielt haben, dann tun sie mehr Tabasco rein. Sie können das in Gramm Tabasco messen, dass die Leute vierfach – die tun da wirklich viermal mehr da rein -, vierfach aggressiver werden. Und es gibt eine Reihe von solchen Tests, wo man Aggressivität ganz objektiv messen kann. Und mit solchen Methoden kann man rausfinden: Ja, da gibt es einen Zusammenhang. Wir wissen auch, dass der Anblick einer Waffe den Testosteronspiegel ansteigen lässt. Das wissen wir mittlerweile. Ihr männliches Sexualhormon, was auch Aggression macht, ja, geht rauf, einfach nur, wenn Sie 15 Minuten mit einer Knarre spielen. Und solche Mechanismen, die kann dann die Hirnforschung liefern.

Albath: Was passiert denn genau im Gehirn der Spieler, wenn die jeden Tag vier bis fünf Stunden oder sogar acht Stunden am Computer sitzen und diese "Killerspiele" spielen?

Spitzer: Ihr Gehirn ändert sich mit der Benutzung. Das ist die wichtigste Einsicht, die die Neurowissenschaft in den letzten, ja, ich sage mal ein bis zwei Jahrzehnten hat. Und man kann auch nicht sagen: "Ach ja, ich weiß ja, dass alles bloß virtuell ist." Ich meine, Sie wissen auch, wenn Sie vor dem Fernseher sitzen, dass das bloß eine Mattscheibe ist. Dennoch, wenn da geworben wird für irgendwas, kauft man die Produkte hinterher, sonst gäbe es keine Fernsehwerbung. Die Tatsache, dass es die gibt und dass es ein Milliardenmarkt ist, zeigt, wie gut virtuelle Medien funktionieren. Und wie gut die unser Verhalten beeinflussen. Also das Argument, wir wüssten doch, dass das nur virtuell ist, das stimmt einfach nicht. Wir mögen das wissen - auch wenn Sie vor dem Horrorfilm sitzen, wissen Sie, da ist ja ein Kameramann dabei gewesen. Wenn der Horrorfilm aber gut ist, dann vergessen Sie das und dann geht Ihnen der Herzschlag hoch, weil Sie sich ängstigen und weil Sie entsprechende emotionale Erlebnisse haben. Und die Computerspiele, die leben ja davon, dass die Erfahrungen sehr, ich sage mal: realitätsnah dargeboten werden – in dieser Hinsicht wurden die auch in den letzten Jahren immer besser -, und sie leben davon, dass Sie ja aktiv auch noch ins Geschehen eingreifen, also so da reintauchen, dass Sie vielleicht im Hinterkopf immer noch wissen: "Ja, ist bloß virtuell", aber es ist Teil Ihrer Lebenserfahrung. Und weil das so ist, deswegen ändern Sie sich auch – genauso wie Sie sich durch reale Gewalt ändern. Und deswegen machen Computerspiele tatsächlich gewaltbereiter. Das ist nachgewiesen.

Albath: Also die Grenzen zwischen Realität und dem, was auf dem Bildschirm sich abspielt, verschwimmen auch immer stärker?

Spitzer: Erstens das. Aber man muss gar nicht so weit gehen und sagen, dass das verschwimmt, weil immer alle sagen würden: "Nein, ich weiß genau, das ist so." Die Grenzen zwischen Bildschirm und Realität verschwimmen immer dann, wenn die Bildschirme und das, was da gezeigt wird, in der Realität Auswirkungen haben. Und das ist der Fall. Wie gesagt: bestes Beispiel Fernsehwerbung. Hat eine Auswirkung. Da ist einerseits eine Mattscheibe, aber diese Mattscheibe hat in der wirklichen Realität ganz klar messbare, in Milliarden Euro, Auswirkungen. Und das ist damit gemeint, dass virtuelle Realitäten reale Auswirkungen haben können.

Albath: Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp nennt diese Bilder, die da immer projiziert werden, "Schwerthiebe" oder "Faustschläge". Das seien gar keine losgelösten Bilder mehr, sondern tatsächlich neue Realitäten. Würden Sie damit übereinstimmen?

Spitzer: Nun, das kann man sicherlich so nennen. Ich würde es viel nüchterner sehen: Wenn Sie einen Gewaltakt sehen, ist das nicht schlimm. Aber wir wissen heute, dass Kinder, die 18 sind, die haben 200.000 gesehen. Und diese Gewalt, wenn man dann sie auch noch einübt, und zwar mit Spielen, die zum Teil von der amerikanischen Armee erdacht und produziert wurden, um ihren Soldaten auch in der wirklichen Realität das Töten anzutrainieren - weil Soldaten bis in die 90er oft daneben geschossen haben, das wollte man denen abgewöhnen, also hat man denen Spiele beigebracht, womit sie richtig Draufhalten sich antrainieren -, und diese Spiele spielen heute Jugendliche. Wir bringen also mit komplexer Software und Hardware der nächsten Generation das Töten bei. Und ich frage mich, ob das sinnvoll ist.

Albath: Wie sollen wir gesellschaftlich damit umgehen? Das ist ja jetzt die daran anknüpfende Frage. Sollen wir das verbieten? Sollen wir Schulen einführen, Kurse, in denen man lernt, verantwortungsbewusst mit Computer- und Fernsehkonsum umzugehen?

Spitzer: Das genau funktioniert nicht. Dazu gibt es Untersuchungen. Immer der Schrei, wir brauchen noch mehr Medienpädagogik, der ist falsch. Es gibt Studien, die zeigen, dass das überhaupt nichts bringt, den Umgang mit, ich sage mal: diesen furchtbaren Dingen lernen. Ich wüsste auch nicht, was das soll. Diese Spiele, wo, da hängen nackte Frauen von der Decke und je nachdem, wo man die abschießt und wo man sie trifft, stöhnen sie auf andere Weise – also dass wir in den Schulen den Umgang mit so was jetzt noch beibringen den Kindern, also das ist so wie Anfixen. Dann können wir auch noch den Umgang mit Heroin beibringen, indem wir ihnen ein paar Mal einen Schuss setzen. Das halte ich für völlig blödsinnig. Es wurde ja in den letzten Tagen von einem "Frühwarnsystem für Amokläufer", das ist Unsinn. Definitionsgemäß finden Amokläufe immer wieder, einfach mal so statt, weil jemand irgendwie ausrastet. Wenn Sie das, was jeder so mal heimlich irgendwo macht, wirklich alles kontrollieren wollten, dann bräuchten Sie einen Apparat, der wäre schlimmer als die Stasi, die es mal irgendwann gab. Also insofern …

Albath: Ja, aber was machen wir dann?

Spitzer: Nun, was kann man machen? Ich denke mir, man muss Gewalt in den Medien – und das haben amerikanische Ökonomen schon längst sich überlegt – so behandeln wie Umweltverschmutzung. Das sind so genannte negative Externalitäten von Produktionsprozessen. Damit ist Folgendes gemeint: Wenn Sie dreckig produzieren, produzieren Sie billig, deswegen sind Sie auch am Markt der Führer, aber den Dreck, das stört alle. Und deswegen leiden auch alle darunter. Was Sie machen müssen, ist sozusagen den Dreck teuer machen. Und genauso ist es mit der Gewalt: Sie müssen die Gewalt verteuern – zum Beispiel durch eine Steuer auf Gewaltmedien, durch eine Steuer auf deren Verbreitung. Die schlimmsten Dinge muss man wohl auch verbieten. Und dann ist es beim Umweltschutz ja auch so, dass wir alle zu Hause Mülltrennung machen können. Das heißt, jeder kann zu Hause darauf achten: Was habe ich da für Spiele, was machen meine Kinder und Jugendlichen mit diesen Dingen? Und schlimmstenfalls Bildschirmmedien einfach abschaffen, zu Hause.

Albath: Also den Staat stärker in die Pflicht nehmen auf der einen Seite und Reglementierungen schaffen und die Eltern in die Pflicht nehmen?

Spitzer: Absolut. Absolut, ja

Albath: Nun wird ja auch immer als Argument, gerade auch vonseiten der Eltern, im Munde geführt, es sei auch eine Möglichkeit zu lernen, mit dem Computer umzugehen.

Spitzer: Natürlich können Sie am Computer Französischvokabeln trainieren – und der ist langmütiger als jede Mama und jeder Vater: Wenn man es beim zehnten Mal nicht weiß, wird der Computer nicht verrückt, und der Vater wird es. Das kann man. Aber zeigen Sie mir den Zwölfjährigen, der mit seinem Computer nur das tut. Wenn sie Computerspiele spielen, dann lernen sie auch, aber sie lernen eben das Falsche. Dann gibt es noch Leute, die sagen, wir würden die Aufmerksamkeit trainieren. Das ist auch falsch. Sie ändern zwar was an der Aufmerksamkeit, aber wenn sie vor dem Gegner, der überall kommen kann, aufpassen müssen, lernen sie ihre Aufmerksamkeit über viele Bereiche zu verteilen – was genau das Problem dessen ist, der schon eine Aufmerksamkeitsstörung hat. Das heißt: Ja, sie können am Computerspiel ihre Aufmerksamkeit trainieren, das heißt, sie können sich eine Aufmerksamkeitsstörung antrainieren, sofern sie noch keine haben. Und wenn sie schon eine haben, wird sie schlechter.

Die E-Learning-Community, Sie wissen, vor Jahren hieß es: E-Learning, E-Learning, E-Learning. Die reden nicht mehr davon. Warum? Sie rausgefunden, es funktioniert nicht. Jetzt reden sie alle von "Blended Learning" – "to blend" heißt "mischen". Was wird reingemischt? Der Lehrer wird reingemischt. Das heißt, letztlich hätten die sagen müssen: "Tut uns leid, E-Learning klappt eigentlich nicht." Das verkauft sich aber schlecht. Deswegen sagen sie: "Wir haben noch was Besseres: Blended Learning." Vorneweg Lehrer, mittendurch Lehrer, hinterher Lehrer und zwischendurch ein bisschen am Computer üben. Das war schon immer der gesunde Menschenverstand. Und der ganze Hype drumherum - Computer ist toll und wir haben jetzt Onlinezugang zu unserem Gehirn und können das schnell … - das ist alles Blödsinn, weswegen Computer weder im Kindergarten noch in der Grundschule noch in der Sekundarstufe I irgendwas zu suchen haben.

Albath: Der Professor Manfred Spitzer, Psychiater und Autor zahlreicher Bücher. Wir diskutieren über die Folgen von Computerkonsum. Herr Spitzer, es gibt ja eine große Popularität, was Gehirnforschung angeht. Es gibt sehr viele Bücher, die dazu erschienen sind. Und es scheint auch so zu sein, dass man heute häufig damit argumentiert, es liege an bestimmten Genen, an einer bestimmten biologischen Ausstattung einer Person, weshalb diese Person bestimmte Dinge tut. Gibt es da so etwas wie einen neuen Determinismus? Sehen Sie da auch eine Gefahr?

Spitzer: Eigentlich nicht. Ich meine, wenn die Gehirnforschung eines gezeigt hat, dann unter anderem, dass in der Evolution der Gehirne es zu immer mehr Freiheitsgraden gekommen ist. Also so, dass … diese Rede heute: "Mein Gehirn entscheidet sich für mich und meine Gene haben schon längst entschieden und ich habe eigentlich gar nichts zu sagen", das ist völliger Unsinn. Was sich im Gegenteil zeigt, immer besser zeigt, ist: Sie sind Ihr Gehirn. Das Gehirn ist das einzige Organ, sind Sie lieber Spender als Empfänger, weil Sie sind es ja und wenn Sie ein neues kriegen, dann sind Sie es nicht mehr, sondern der andere bleibt es dann. Deswegen kann man sich nicht die Frage stellen: "Entscheide ich mich oder entscheidet sich mein Gehirn?" Sondern Sie sind es.

Albath: Sie sind ja von der Ausbildung her auch Philosoph.

Spitzer: Richtig.

Albath: Hat das Wissen um diese Prozesse, die im Gehirn stattfinden, und die Untersuchungen dessen, auch Ihr Bild des Menschen verändert?

Spitzer: In gewisser Weise schon. Ich bin sicherlich weniger dogmatisch geworden. In der Philosophie kann man dazu neigen. Ich war das nie, aber ich bin es noch weniger, als ich es mal war. Und es ist ja nicht so, dass die philosophischen Fragen durch die Hirnforschung gelöst werden. Aber man kann die Hirnforschung viel besser verstehen und auch viel besser in den Gesamtzusammenhang einbetten, wenn man sie eben die philosophischen Fragen auch hinein nimmt – woher kommen wir, wohin wollen wir gehen, was ist überhaupt der Sinn dieses ganzen hier und wie können wir etwas erkennen? Das sind alles Fragen, die eigentlich philosophische Fragen sind, wo die Hirnforschung heute einen Beitrag leisten kann, weil sie zu unserem Selbstverständnis beiträgt. Deswegen, ich bin sehr froh, dass ich Philosophie studiert habe, und das hilft mir sehr viel weiter, die Hirnforschung in der richtigen Perspektive zu sehen.

Albath: Wir sprachen mit Manfred Spitzer, Professor für Psychiatrie, über Computerspiele, die Auswirkungen und die Möglichkeiten der Hirnforschung. Vielen Dank, Herr Spitzer.

Spitzer: Bitte.