Hinter der Fassade von Kleinstadt-Existenzen

17.01.2012
Der romanartige Reigen von Sherwood Anderson war beim Erscheinen ein Skandal, ging es doch um vorehelichen Sex. Er revolutionierte die amerikanische Literatur mit seinem lakonischen Ton und seiner genauen Betrachtungsweise. Zwei neue Übersetzungen tragen dem Rechnung.
1919 erschien dieser Klassiker der amerikanischen Moderne, über den John Updike einmal geschrieben hat: "Sherwood Andersons 'Winesburg, Ohio' gehört zu den Büchern, deren Titel so bekannt ist, dass wir uns vorstellen, wir wüssten, was drinsteht: eine Skizze der Einwohnerschaft, mehr oder weniger im Querschnitt gesehen, einer kleinen Stadt im Mittleren Westen. Das ist ebenso zutreffend wie die Aussage, Edvard Munch habe Porträts der norwegischen Mittelschicht um die Jahrhundertwende gemalt."

Bei seinem Erscheinen war dieser romanartige Reigen aus Erzählungen und Kleinstadt-Porträts ein ziemlicher Skandal, ging es hier doch auch um Sex - und zwar vorehelichen. Das Buch wurde trotzdem schnell nicht nur zu einem Bestseller (dem ersten Erfolg nach drei erfolglosen Büchern des Autors), sondern vor allem zu einem literarischen Klassiker. Anderson, der nach einer gescheiterten Ehe, nach einem körperlichen Zusammenbruch und dem Ruin seiner bürgerlichen Karriere sich in Chicago als freier Schriftsteller gleichsam neu erfunden hatte, revolutionierte und modernisierte die amerikanische Literatur mit seinem lakonischen Ton, seiner genauen Betrachtung menschlicher Schwächen und Träume. Er schaut hinter die Fassade der Kleinstadt-Existenzen ohne dabei psychologische oder moralische Urteile abzugeben.

Ein junger Zeitungsreporter steht im Mittelpunkt eines Reigens einsamer und ungewöhnlicher Charaktere, die in der fiktiven Stadt Winesburg leben. Da wartet eine Frau jahrzehntelang sehnsüchtig auf den Liebhaber einer Nacht, eine strenge Lehrerin versteckt ihre Leidenschaft, ein Junge flieht seinen von religiösen Wahnvorstellungen besessenen Großvater, ein Mann voller Einfälle bannt die düsteren Verwandten seiner Geliebten durch einen Redeschwall. Sherwood Anderson hat mit diesem Buch ein ganzes Universum menschlicher Charaktere und Leidenschaften geschaffen, das Porträt außerdem einer Kleinstadt, die seit 1919 auf keiner literarischen Landkarte fehlt.

Dass nun gleich zwei neue (gute und sorgfältige, den lakonischen Ton des Autors treffende) Übersetzungen vorliegen, ist der Tatsache geschuldet, dass der Autor mit diesem Jahr "gemeinfrei" wurde, dass sein Tod also 70 Jahre zurückliegt und keine Rechte mehr bezahlt werden müssen.

Diesem großen Werk der amerikanischen Moderne tut das keinen Abbruch, die Übersetzer wird es trotzdem und zurecht schmerzen, dass sie sich Konkurrenz machen. Es fällt jedenfalls schwer, sich zwischen den beiden neuen deutschen Ausgaben zu entscheiden: der des renommierten Übersetzers Eike Schönfeld und der des Schriftstellers Mirko Bonné.

Besprochen von Manuela Reichart

Sherwood Anderson: "Winesburg, Ohio, Erzählungen"

Aus dem Amerikanischen neu übersetzt und mit einem Essay von Mirko Bonné
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2012
328 Seiten, 22,95 Euro

Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld, mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann
Manesse Verlag, Zürich 2012
304 Seiten, 21,95 Euro
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