Hinduismus

Warum der Gott Shiva so wichtig ist

Ein Bildnis von Shiva bei einer Hochzeitsprozession in der indischen Stadt Bhopal
Ein Bildnis von Shiva bei einer Hochzeitsprozession in der indischen Stadt Bhopal © dpa / picture alliance / EPA / Sanjeev Gupta
Von Antje Stiebitz · 06.03.2016
Millionen Inder feiern in der Nacht vom 7. auf den 8. März das Fest Shivratri zu Ehren des Gottes Shiva. In dieser Nacht, sagt der Mythos, heiratete er die Göttin Parvati. Wieso ist Shiva solch eine große Nummer im hinduistischen Götterhimmel?
Virendra Hegde Acharya führt konzentriert die morgendliche Andacht durch. Unter seiner dicken Daunenjacke ist sein Priestergewand kaum sichtbar. Der 26-Jährige stammt aus Südindien und ist für einige Monate zu Besuch in Berlin. Für diese Zeit hat er die Pflege des kleinen Shiva-Tempels übernommen, der in einem Hinterhof im Berliner Stadtteil Charlottenburg steht.
Während der junge Mann Mantren murmelt, schwenkt er vor den Götterbildnissen eine Handvoll Räucherstäbchen. Ihr intensiver Geruch zieht durch den Hinterhof. Nach dem Gebet erklärt er, was der indische Gott Shiva für ihn bedeutet:
"Wenn ich traurig, eingeschüchtert oder verängstigt bin, setze ich mich einfach zehn, 15 oder 20 Minuten vor Shiva hin und schließe einfach meine Augen. Wenn ich an ihn denke, fühle ich viel Energie. Shiva ist alles für mich, er sorgt für mich."
Vivendra Hegde Acharya hat immer davon geträumt, Software-Ingenieur zu werden. Er ging in seiner Jugend zwar regelmäßig in den Tempel, betete dort aber nie, obwohl er aus einer alten Priesterfamilie stammt. Das änderte sich dann plötzlich:
"Als ich 15 war und Bücher über Shiva gelesen habe, fühlte ich mich energetisiert. Das hat mich völlig verändert."
Was ist das für ein Gott, der einen 15-Jährigen so für sich einnimmt, dass dieser seine Zukunftspläne aufgibt und sich für ein Leben als hinduistischer Priester entscheidet?

Dreadlocks, Mondsichel und Schlange

Avnish Lugani stammt aus dem heutigen Pakistan und lebt seit fast 50 Jahren in Berlin. Der über 80-Jährige mit den wachen Augen betreibt ayurvedische Kräuterkunde und beschäftigt sich mit dem Hinduismus. In seiner Wohnung im Berliner Stadtteil Charlottenburg beherbergt er neben zahlreichen Göttern auch Shiva. Ein Wandkalender zeigt eine typische zeitgenössische Darstellung des Gottes: Lange Dreadlocks, eine Mondsichel im Haar, um den Hals windet sich eine Schlange. Shiva verkörpert den Urtypus des Asketen, wird aber trotzdem oft mit seiner Frau Parvati und seinem elefantenköpfigen Sohn Ganesha dargestellt.
Avnish Lugani erzählt gerne Geschichten, um den Charakter Shivas zu beschreiben. Etwa den Mythos, demzufolge sich Shiva nach dem Tod seiner ersten Frau trauernd in den Himalaya zurückzog:
"Und er hat immer meditiert. Er wollte von der Welt gar nichts wissen und ist versunken in Meditation."
Das habe den Weisen Sorge gemacht, fährt Avnish Lugani fort, denn ein Dämon bedrohte ihr Land und die Prophezeiung besagte, dass nur Shivas Sohn ihn besiegen könne:
"Aber Shiva ist nicht verheiratet, der hat keine Frau. Sie sagten: 'Wir müssen sehen, dass Shiva noch mal heiratet.' Sie haben einen Plan ausgeheckt."
Also stifteten die Weisen Kama, den Gott der Versuchung an, Shiva mit seinem Pfeil zu treffen. Der Plan gelang, Shiva heiratete Parvati und die beiden bekamen zwei Söhne.

Er verkörpert die Fruchtbarkeit

Der Name Shiva bedeutet der "Glücksverheißende". Shiva ist Einzelgänger, Familienvater und "Mahadeva", der große Gott. Gemeinsam mit den Göttern Brahma und Vishnu bildet er im Hinduismus die heilige Trinität von Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung. In der abstrakten Form des "Lingam", meist symbolisiert durch phallusförmige Steine, verkörpert er Fruchtbarkeit. Zugleich wird Shiva auch formlos gedacht, als Energie oder absolutes Bewusstsein.
Wer das Hamsa Yoga Sangh Zentrum im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg besucht, begegnet dem Gott in dieser formlosen Eigenschaft. Marcel Thedran, Geschäftsführer des Zentrums, bezeichnet Shiva als ein "überdimensionales Transformationsfeld":
"Man kann sich das so vorstellen: Gott ist wie gesagt keine Person, sondern alles, was du siehst, schmeckst, fühlst, denkst, bewusst auch wahrnehmen kannst."
Das Hamsa Yoga Sangh Zentrum wurde von dem spirituellen Meister Yogiraj Siddanath gegründet, der nahe der indischen Stadt Pune in einem Ashram lebt. Der Guru beruft sich auf die Nath-Tradition, die auf einen Heiligen zurückgeht, der die Kunst des Yoga direkt von Gott Shiva empfangen haben soll. Die alten Yogis, so erzählen Legenden, verbanden sich mit dem kosmischen Bewusstsein, indem sie die Kunst des Atmens meisterten. Deshalb wird im Hamsa Yoga Sangh Zentrum Kriya-Yoga gelehrt, eine umfassende Methode der Atemkontrolle.
Marcel Thedran gießt Pfefferminztee in zwei große Tassen. Der 33-Jährige ist völlig in weiß gekleidet. Er lehnt sich in seinem Sessel zurück und sinniert über das menschliche Ich-Denken, das von der Gier nach weltlicher Befriedigung geprägt sei. Seine Lösung:
"Kriya-Yoga ist eine der effektivsten und schnellsten Möglichkeiten, von diesem Ich-Denken wieder wegzukommen."
Marcel Thedran ist davon überzeugt, dass die speziellen Atemübungen des Kriya-Yoga ein Werkzeug sind, um Shiva zu erfahren.
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