Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Donaueschinger Musiktage 2016
Ästhetische Debatten ohne Scheuklappen

Die traditionsreichen Donaueschinger Musiktage haben seit zwei Jahren einen neuen Leiter: Björn Gottstein plädiert für einen breiten stilistischen Horizont und scheut dabei auch keine Kontroversen. Im Fokus des wie immer gut besuchten Festivals standen diesmal die Berührungspunkte zum Elektropop und Schritte im Feld einer neuen Harmonik.

Von Max Nyffeler | 18.10.2016
    Blick in den Konzertsaal bei den Donaueschinger Musiktagen 2016
    Traditionell neuen Musikströmungen verbunden: die Donaueschinger Musiktage (SWR / Stefan Stahnke)
    Musik: "Desert Bloom"
    So klingt Las Vegas. Was man hier hört, sind die elektromagnetischen Felder in der Stadt der Lichtreklamen und des dröhnenden Zeitvertreibs. Die Komponistin und Installationskünstlerin Christine Kubisch hat diesen Elektrosmog mit Spezialgeräten aufgenommen und in hörbare Frequenzen umgewandelt. Daraus entstand das Hörspiel "Desert Bloom", für das sie und ihre beiden Mitautoren Peter Kutin und Florian Kindlinger nun mit dem diesjährigen Karl Sczuka-Preis ausgezeichnet wurden.
    Für neue Hörerfahrungen dieser Art lohnt sich die Reise in den Schwarzwald allemal. Die allgegenwärtige Computertechnologie schlägt sich heute im Programm der Musiktage vollumfänglich nieder. Es gibt kaum noch Konzerte ohne Live-Elektronik oder zumindest Klangverstärkung durch Mikrofonierung. Darin, aber auch im Interesse der Komponisten an vitalen Rhythmen und saftigen Klängen, zeigt sich eine Annäherung an die Praxis und die Hörgewohnheiten der Popmusik. Eine selbstverständliche Zugabe ist dabei der markant erhöhte Lautstärkepegel.
    Die neuen Kraftmeier
    Das sichtlich verjüngte Donaueschinger Publikum hat seinen Spaß an Kraftmeiereien wie in der Komposition "discorde" für Hammondorgel, E-Bass, Drum Set und Ensemble von Michael Wertmüller. Das Wiener Klangforum, verstärkt durch die im Grenzgebiet zu Jazz und Hardrock operierende Combo "Steamboat Switzerland", laviert erfolgreich zwischen Fortissimo-Exzess und klarer Darstellung der lebhaften Detailverläufe.
    Musik: "discorde"
    Man wird wohl in Zukunft noch öfters solche Grenzüberschreitungen in Richtung Pop und Rock zu hören bekommen. Der neue Leiter Björn Gottstein, der vor zwei Jahren die Nachfolge des unerwartet verstorbenen Armin Köhler angetreten hat, besitzt ein Sensorium für Entwicklungen außerhalb des traditionellen Konzertsaals. Er will das heutige Musikschaffen in möglichst großer Breite abbilden, und dazu gehört eben auch der Blick in die freie Musikszene, wie er in einem vorab veröffentlichten Gespräch verdeutlichte:
    "Diesen anderen Positionen Raum zu geben, das finde ich extrem wichtig, und dass man das, was Musik ist, oder was Musik sein soll, sein kann, einfach nochmals öffnet. Es gibt immer noch diese Haltung – es ist nicht nur die ältere Generation -, dass man klar wissen kann, was Musik eigentlich ist, und das ist einfach Quatsch. Man kann das nicht wissen, vor allem nicht für die Zukunft. Und die in der neuen Musik können es auch nicht wissen."
    Das Ende der dogmatischen Avantgarde?
    So wenig Gottstein Berührungsängste zu Elektropop und verwandten Genres hat, so wenig fürchtet er sich vor kritischen Argumenten aus der entgegengesetzten Richtung. In der von ihm ins Leben gerufenen Vortragsreihe der "Donaueschingen Lectures" trat nun als erster der renommierte Schriftsteller und Musikphilosoph Roger Scruton auf.
    Scruton, ein höflicher Brite wie er im Buche steht und bekennender Konservativer, kritisiert Schönbergs Reihentechnik und den Nachkriegsserialismus als rein intellektuelle Erfindung, die den Gesetzen des Ohrs widerspreche und die neue Musik in die Sackgasse geführt habe. Damit ließ er natürlich den Donaueschinger Stallgeruch vermissen, was unter den Puristen der neuen Musik für Unruhe sorgte und bei der abschließenden Pressekonferenz dann auch offiziell aufs Tapet gebracht wurde. Donaueschingen, so hieß es, würde unzulässigen Geschichtskonstruktionen ein Forum bieten, ohne dass sich die Leitung davon distanziere. Die Vorhaltungen konterte Gottstein kühl:
    "Ich gebe Ihnen recht, dass diese Geschichtskonstruktion problematisch ist. Andererseits sind alle Geschichtskonstruktionen problematisch, und ich glaube nicht, dass irgendjemand hier eine unfehlbare Geschichtskonstruktion zur Hand hat. Wenn da jemand kommt, der eine hat, die wir überwunden zu haben glauben, dann ist es nicht meine Rolle, dem Herrn zu sagen, dass ich glaube, dass das überholt ist. Ich schreibe die Stücke nicht, ich halte die Vorträge nicht, ich bin nur dafür verantwortlich, welche Künstler und Redner hier eingeladen werden."
    Eine solcherart praktizierte Liberalität mag den eingefleischten Avantgardisten sauer aufstoßen, und der Fall zeigt, dass die alte Scheuklappenmentalität noch nicht ausgestorben ist. Doch das Plädoyer des neuen Festivalleiters für Toleranz lässt hoffen für die Zukunft.
    Neues SWR Sinfonieorchester mit holprigem Start
    Ein viel diskutiertes Thema war in diesem Jahr selbstverständlich das erstmalige Auftreten des SWR Sinfonieorchesters, das aus der Fusion der rundfunkeigenen Klangkörper in Baden-Baden und Stuttgart hervorgegangen ist. Das neue Orchester wächst nicht so reibungslos zusammen, wie man sich das aus der Verwaltungsperspektive wohl gedacht hat. Ein Ausdruck des zögernden Sichfindens ist die Tatsache, dass der bisher vom Orchester verliehene Preis für das aus seiner Sicht beste Werk nicht vergeben wurde.
    Traditionsgemäß bestritt das Orchester das Eröffnungs- und das Schlusskonzert, und wie immer waren die Programme stilistisch extrem gemischt. Wie Tag und Nacht wirkten zum Beispiel die orchestrale Lärmorgie "Blutrausch" von Klaus Schedl und die halbstündige Komposition "The Gates" von James Dillon, geschrieben für das Arditti Quartett und Orchester. Der schottische Komponist sucht darin, angeregt durch die Tore bei asiatischen Tempeln, symbolisch nach Übergängen in jenseitige Dimensionen und zeigt dabei viel Mut zu ruhig ausmusizierten Spannungsverläufen.
    Musik: "The Gates"
    Die neue Schönheit der Harmonik
    Auffällig war diesmal, mit welcher Selbstverständlichkeit heute wieder mit allen Arten von Harmonik gearbeitet wird. Beim Posaunenkonzert von Georg Friedrich Haas geriet das zu einem routinemäßig aufgeblähten Orchestersound in Breitleinwandformat, während die Engländerin Joanna Bailie auf sensible Weise Straßengeräusche per Computer in reinen Chorklang transformierte. Es war ein einfaches, aber in seiner Geradlinigkeit überzeugendes Beispiel, wie durch intelligente Arbeit mit der Technik dem lebendigen Vokalklang neue Schönheiten abgewonnen werden können. Eine der vielen Einsichten, die man auch dieses Jahr wieder aus Donaueschingen mit nach Hause nehmen konnte.
    Musik: Music from Public Places