Hilferuf eines verzweifelten Israeli

Rezensiert von Tamar Amar-Dahl · 08.11.2009
Dieser Text lässt sich als eine Art Hilferuf oder Gebet eines verzweifelten Israeli lesen, der eine in Israel praktizierte, besonders ungesunde Verkoppelung von Shoah und Zionismus "entdeckt" und dies zu entkoppeln versucht.
Avraham Burg ist ein Mann des zionistischen Establishments. Er plädiert für nicht weniger als einen Prozess der Ent-Zionisierung des jüdischen Staates, um das Judentum zu retten. Doch er bleibt seiner Leitfrage, "Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss", eine überzeugende Antwort schuldig.

Avraham Burg behandelt das Merkmal Shoah im Kontext des zionistischen Israel. Er ruft zu einer Art Teufelsaustreibung der in Israel kaum aufgearbeiteten Katastrophe an den Juden Europas auf, um die politische Realität seines Landes ändern zu können. Er ahnt, dass die destruktive Politik Israels mit einer verzerrten Auffassung des Holocaust verbunden sein könne:

"In Israel wie auch in Amerika führte der Schuldkomplex [der Juden] über die Shoah zu einer nationalen Besessenheit von überzogener Sicherheitspolitik, zu einem Machtstreben, das oft in primitive Kriegslust übergeht." (S.53) "Amerikanische Juden sind ebenso wie Israelis in Auschwitz stecken geblieben, recken das Shoah-Banner hoch in den Himmel und beuten es politisch aus."

Burgs These: Die Annahme, "die Welt sei gegen uns Juden" und die damit verbundene eigentümliche Shoah-Deutung Israels seien die Grundlage für den "katastrophalen Zionismus" (S. 117), also für den israelischen Nationalismus. Eine Nation könne nicht auf Dauer im konfliktträchtigen Verhältnis mit der "Welt" überleben.

Burgs Ansatz ist dementsprechend die Universalisierung der Lehre aus der Shoah, weg von der Vereinnahmung des Holocaust für den israelischen Nationalismus, hin zu der Öffnung Israels und der Geschichte der Shoah gegenüber der "Welt": Mehr Vertrauen und Zuversicht sollen die Israelis von den Urängsten eines ständig bedrohten Volkes befreien. Darin liege eine Chance, den Israelis die Augen für das Leid anderer Völker zu öffnen, sprich die Juden von ihrer historischen Opferrolle zu befreien, und sie so als Israelis von ihrer Täterschaft im Palästina-Konflikt abzubringen.

"Unser obsessives Bedürfnis nach Heldentum erwächst aus großer Schwäche und mangelndem Selbstvertrauen. Wir verlassen uns nicht mehr auf eindeutige innere Stärke. Militärisches Heldentum und viele andere Demonstrationen physischer Stärke sind mittlerweile fester Bestandteil der Besessenheit unserer Nation von ihrem äußeren Erscheinungsbild. Der Held trainiert seine Muskeln und bewundert sein Spiegelbild im Wasser, in den Spiegeln im Hause und in anderen reflektierenden Oberflächen. Israels kriegerisches Heroentum und die unnötige Brutalität, die damit einhergeht, sind Wesenszüge einer narzisstischen Nation, die sich selbst bewundert. Erwächst Narzissmus nicht aus mangelndem Selbstvertrauen?"
Doch es bleibt unklar, ob Burg die Grundlage der hier kritisierten politischen Realität wirklich versteht. Die Lektüre zeugt von einer tief sitzenden Identitätskrise eines Linkszionisten, der hier in pamphlet-artiger Weise seinem Zorn, aber auch seiner Verzweiflung Luft macht. Dem Autor entgeht dabei die eigentliche Verknüpfung zwischen der in Israel institutionalisierten Shoah-Wahrnehmung und der israelischen Politik: Nicht die partikularistisch-xenophobe Holocaust-Deutung, sondern vielmehr ein bestimmtes Verständnis des zionistischen Projekts in Palästina ist die Ursache für die politische Sackgasse im Konflikt mit den Palästinensern.

Der Anspruch auf einen jüdischen Staat für das jüdische Volk in "Eretz Israel", der biblische Anspruch auf das ganze Land, das aber von einem anderen Kollektiv bereits besiedelt ist, musste letzten Endes zu einem nationalistischen und friedensunfähigen Israel führen. Die Perpetuierung des Krieges und der Besatzung mündete schließlich in die jetzige verfahrene politische Lage. Die Shoah und ihre Vereinnahmung durch den israelischen Nationalismus sind vielmehr spätere Auswüchse des Zionismus – als die verheerenden Auswirkungen seiner Erfolge sowohl innen- als auch außenpolitisch nicht mehr tragbar waren.

Diese Verwechslung von Ursache und Folge durchzieht den Text und stellt seine zentrale Schwäche dar: Burg will die politische Realität ändern, verfehlt aber, deren Grundlage zu verstehen. Der Leser wird nur schwer nachvollziehen können, in welcher sozialpolitischen Konstellation die Shoah rezipiert wird. Der Autor entpolitisiert und enthistorisiert den israelischen Nationalismus, und er weiß daher nicht zu erklären, weshalb die Nationalisierung der Juden im 20. Jahrhundert solche gewalttätigen Auswüchse angenommen hat. Die Argumente wirken daher losgelöst von der politischen Realität, die sie kritisieren. Sie lassen aber ahnen, dass das zionistische Israel an einem Punkt angelangt ist, an dem ein Umdenken beginnen muss.

Eben darin besteht die Relevanz dieses recht konfus geschriebenen Buches: eine politische Grundsatzdebatte in einer äußerst entpolitisierten Gesellschaft in Gang zu setzen, und diese zu motivieren, sich vor dem Untergang zu retten.

Avraham Burg: Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss
Campus Verlag, Frankfurt 2009
Cover: Avraham Burg: Hitler besiegen
Cover: Avraham Burg: "Hitler besiegen"© Campus Verlag