Hilfe zur Selbsthilfe

Stärkung der Identität

Mit Gesängen feiern jüdische Geistliche den Einzug der neuen Tora-Rolle in der Synagoge in Halle/Saale. Ein Schriftexperte des Soferinstituts in Jerusalem hat ein Jahr lang eine Rolle Buchstabe für Buchstabe abgeschrieben. Mit dem Schriftstück sollen künftig die Gottesdienste für die rund 600 Gemeindemitglieder abgehalten werden. Die Rolle enthält die fünf Bücher Moses in hebräischer Sprache.
Mit Gesängen feiern jüdische Geistliche den Einzug der neuen Tora-Rolle in der Synagoge in Halle/Saale. © picture alliance / dpa / Foto: Jan Woitas
Von Carsten Dippel  · 13.06.2014
Auch die jüdischen Gemeinden haben mit der Überalterung zu kämpfen. Es wird immer schwieriger, Rabbiner und Mitglieder für die Gottesdienste zu finden. Das Netzwerk "Bund traditioneller Juden" will helfen und gibt Tipps zu Alltagsfragen.
"Ich bin jüdisch aufgewachsen. Und als ich nach Deutschland kam, gab’s eigentlich überhaupt keine Unterbrechung. Da bin ich gleich in die Gemeinde gekommen, bin in der Gemeinde fast groß geworden, dadurch dass wir immer verschiedenen Unterricht haben, verschiedene Gruppen wie Theater, Musik und da war ich auch sehr aktiv. Und deswegen spielt das für mich eigentlich eine sehr große Rolle. Also das ist im Prinzip mein Leben."
Regina Schopp stammt aus Donezk im Osten der Ukraine. Sie kam vor 13 Jahren im Alter von zehn nach Deutschland. Bis zur 3. Klasse besuchte sie eine jüdische Schule. Die Jurastudentin leitet heute den Jugendclub der jüdischen Gemeinde in Halle. Ganz gleich ob Halle, Magdeburg, Gelsenkirchen oder Bad Nauheim. Fast überall machen die Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion über 90 Prozent der Gemeinde-Mitglieder aus. Ohne sie wäre ein Neuaufbau jüdischen Lebens in den vergangenen 20 Jahren vielerorts kaum möglich gewesen. Doch gerade die kleinen und mittelgroßen Gemeinden, fernab der Metropolen stehen vor vielfältigen Herausforderungen. So wie die Gemeinde in Gelsenkirchen, die von Judith Neuwald-Tasbach geleitet wird.
"Siebringen andere Erfahrungen mit, eine andere Geschichte und ein anderes religiöses Leben. Und viele Dinge müssen eben die Menschen erst wieder neu erlernen, wie’s in der Praxis umzusetzen ist. Zum Beispiel: Wo bestelle ich koschres Essen?, das gibt es ja nun nicht an jeder Ecke hier. Wie bekomme ich einen Vorbeter, wie können wir einen Rabbiner bekommen?"
Der BTJ versteht sich als Serviceorganisation
Fragen, die sie und Vorstände aus anderen Gemeinden bewogen haben, ein Netzwerk zu gründen: den Bund traditioneller Juden – kurz BTJ. Vor zwei Jahren nahm er seine Arbeit auf. Mittlerweile gehören ihm 16 jüdische Gemeinden an. Der BTJ versteht sich als Serviceorganisation unter dem Dach des Zentralrats der Juden in Deutschland. Für Michael Grünberg, Gemeindevorstand in Osnabrück und gleichzeitig Vorsitzender des BTJ geht es dabei auch um die Wahrnehmung von außen. Zwar stehe man in religiösen Fragen der Orthodoxie nahe, doch wolle man sich nicht abschotten.
"Wir haben uns eigentlich gedacht, für die kleineren und mittleren Gemeinden doch tätig werden zu können, um jüdische Tradition, jüdisches Leben zu vermitteln. Und es ist natürlich auch so, dass es im Grunde genommen keine offizielle Stimme des traditionellen Judentums in Deutschland gab."
In ihren Gemeinden sind Judith Neuwald-Tasbach und Michael Grünberg die beinahe einzigen alteingesessenen Juden. Max Privorozki, der die Hallenser Gemeinde leitet, stammt aus Kiew. Er kam 1990 im Alter von 26 Jahren nach Deutschland.
"Ich war stolz, dass ich jüdisch bin. Ich wusste nicht, was das bedeutet. Und nur nachdem ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich erfahren, was bedeutet wirklich Judentum. Das Hauptsache das ist unsere Religion. Und dann habe ich diese Religion kennengelernt, ich bin nicht religiöser Mensch geworden, ich habe aber sehr großen Respekt vor religiösen Menschen. Und meine Arbeit verstehe ich so, dass ich als Gemeindevorsitzender muss alles tun, um für andere Möglichkeit schaffen, religiös zu leben."
Es geht den Verantwortlichen des BTJ vor allem um Hilfestellungen im Alltag, um ganz praktische Fragen, die vor Ort in den Gemeinden geklärt werden müssen.
"Sie sollen nicht jetzt irgendwo hinfahren, und dort einen Kochkurs z.B. besuchen oder eine andere Schulung bekommen, sondern sie sollen sagen, wir haben ein Problem in unserer Gemeinde, wir haben zu wenig Gebetbücher in dieser und dieser Art, wir brauchen ein spezielles, wo kann man das bekommen? Solche Dinge möchten wir gerne den Menschen beibringen."
Stärkung der religiösen Basis
Ein Kernanliegen ist dabei die Stärkung der religiösen Basis. Vor allem kleinere Gemeinden ohne festen Rabbiner stehen immer wieder vor dem Problem, Gottesdienste nicht durchführen zu können. Hierfür bietet das kürzlich in Leipzig gegründete Institut für traditionelle jüdische Liturgie die Ausbildung von Kantoren und Vorbetern an. Damit können auch einfache Mitglieder aus den Gemeinden liturgische Aufgaben übernehmen. Für Manfred de Vries aus dem hessischen Bad Nauheim bilden sie den elementaren Baustein einer funktionierenden jüdischen Gemeinde.
"Ohne einen Gottesdienst gibt’s gar nichts. Ohne kontinuierlich einen Gottesdienst abzuhalten, hat man nichts. Wenn man nur alle vier Wochen einen Gottesdienst abhält, kann man’s auch gleich vergessen. Dann hat man nachher ne neue Gemeinde mit einem Gemeindehaus, mit einer Synagoge und das wird dann irgendwann zum Museum umfunktioniert. Und das möchten wir vermeiden."
Das wohl größte Problem, vor dem Gemeinden wie Bad Nauheim, Halle oder Gelsenkirchen mit ihren wenigen Hundert Mitgliedern stehen, ist die Überalterung. Die Neuregelung des Zuwanderungsgesetzes im Mai 2007 hat den Zuzug fast gänzlich zum Erliegen gebracht. In vielen Gemeinden liegt die Sterberate inzwischen über der Geburtenrate.
Privorozki: "Die Gemeinden haben nur dann Zukunft, wenn Kinder und Jugend hier in die Gemeinde gelockt werden. Das ist nicht einfach, insbesondere in solchen Städten wie Halle. Deswegen wir versuchen, alle Kinder fast gleich nach Geburt, also sagen wir, wenn sie ein oder zwei Jahre alt sind, schon in die Gemeinde zu bringen. Und deswegen bei uns sehr wichtig, diese Kinderarbeit so interessant wie möglich zu organisieren."
Für die traditionellen Gemeinden ist die Stärkung der jüdischen Identität eine existenzielle Frage. Der Bund traditioneller Juden versucht dabei, einen Mittelweg zwischen Liberalität und strenger Orthodoxie einzuschlagen.
Schopp: "Ich möchte auf jeden Fall, dass meine Kinder, egal ob ich in Halle bleibe oder in einer anderen Stadt, möchte ich auf jeden Fall, dass meine Kinder mit anderen jüdischen Kindern groß werden, jüdische Freunde haben und auch in die Gemeinde gehen und Mitglieder der Gemeinde werden und an allen Festen teilnehmen."
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