"Hier findet keine Problematisierung statt"

Moderation: Frank Meyer · 15.10.2013
Der MDR hat einen fingierten Livebericht von der Leipziger Völkerschlacht gesendet. Die Art und Weise der Darstellung sei ein Rückfall ins 19. Jahrhundert. Man wolle nur darstellen, wie es gewesen ist, und reflektiere dabei nicht die eigene Perspektive, kritisiert der Historiker Klaus Ries.
Frank Meyer: Vor fast 200 Jahren, am Morgen des 16. Oktober 1813, begann die Völkerschlacht bei Leipzig, die bis dahin blutigste Schlacht der Geschichte. Fast 600.000 Soldaten waren dabei, 100.000 Menschen etwa sind bei dieser Schlacht gestorben.

Der Mitteldeutsche Rundfunk sendet jetzt an vier Abenden eine News-Show zur Erinnerung an die Völkerschlacht, ein experimentelles Fernsehformat, das so tut, als würde die Schlacht gerade jetzt bei Leipzig stattfinden.

Über diese Form von Geschichtsdarstellung reden wir gleich.

Erinnerung an die Völkerschlacht im MDR – Bericht von Nadine Lindner (MP3-Audio) ein Bericht von Nadine Lindner

Und wir haben jetzt für das "Radiofeuilleton" am Telefon Professor Klaus Ries, Historiker an der Universität Jena. Ich grüße Sie, Herr Ries!

Klaus Ries: Hallo, guten Tag!

Meyer: Was sagen Sie zu der Kritik, die wir gerade gehört haben, die historischen Inhalte, die würden mit einer solchen Form nicht transportiert?

"Ein Problem der Wissensvermittlung"
Ries: Kann ich nicht ganz teilen. Ich finde, die Inhalte, gerade was die militärgeschichtlichen Inhalte angeht, so habe ich mir die Sendung ja angesehen, das wird sehr gut transportiert, da erfährt man sehr viel, selbst als Historiker noch, Dinge, die man nicht weiß, obwohl man sich dauernd damit beschäftigt.

Das Einzige, was man aus gewissermaßen wissenschaftlicher Perspektive bemängeln könnte, wäre ... Da habe ich jetzt zugehört bei der Aussage von dem Medienwissenschaftler, er hätte eigentlich sagen müssen, das Problem ist, dass das Ende der Geschichte nicht bekannt ist und offen ist. Und das kennen wir natürlich, das Ende, aber Zamperoni, die das jetzt ja inszenieren, die machen ja so, als ob es im Moment stattfindet und dass man das alles noch nicht weiß, wie es ausgeht.

Selbst der Kollege aus Köln, Norbert Finzsch, der das Interview gibt, gibt es ja so, als ob es an dem Tag der Schlacht sei. Da ist natürlich ein Problem der Wissensvermittlung dann da, man lässt die Leute heute sozusagen in dem Unglauben von damals.

Meyer: Aber wenn wir erst mal, Herr Ries, bei der Schlacht selbst bleiben, diese Art von Schlachtendarstellung, das finden Sie so in Ordnung?

"Was ist eigentlich deren Ziel?"
Ries: Das finde ich gar nicht schlecht. Wobei ich sagen würde, na ja, warum muss es unbedingt eine Schlacht sein, kann man nicht ab von Schlacht hinweisen, was die Schlacht alles gebracht hat in der Geschichte? Also, ganz viel Zäsuren zeigen, die die Schlacht hinsichtlich einer neuen Öffentlichkeit, hinsichtlich eines Nationalismus, der jetzt zur Emanzipationsideologie wird ... Ob da sozusagen die Schlacht selbst als Militärereignis en détail nachgezogen werden muss, da bin ich mir nicht sicher, inwieweit das sinnvoll ist. Das müssten dann tatsächlich die Macher einmal offenlegen, was ist eigentlich deren Ziel?

Wollen die Infotainment über die Ereignisse des Krieges? Dann ist das nachlesbar und auch nicht mehr so spannend! Eine Präsentation, also sozusagen ein Präsentismus, eine Vergegenwärtigung von Vergangenheit, die läuft eigentlich anders, da kennt man das Ende und will dann auch die Kontexte darstellen. Hier kann man den Kontext leider nicht darstellen, weil wir stellen uns ja so, dass wir noch nicht wissen, wie die Schlacht ausgeht.

Meyer: Da Sie die Frage ansprechen, was soll das eigentlich: "Spiegel Online" schreibt dazu, wenn man das anschaut, man hat einen dermaßen konsequenten Spaß an diesem Schlachtgemetzel wie bei "Krieg der Welten". Das klingt dann eigentlich, als wäre es egal, was für ein historisches Ereignis dahintersteht.

Ries: Ja. Wenn das den Machern so egal war, okay, dann haben sie ihr Ziel erreicht. Aber als Historiker muss man natürlich sagen, nein, wir wollen doch sehen, wie ordnen wir die Dinge in der europäischen oder der deutschen oder französischen Geschichte zu, wofür steht das Datum 1813.

Also, dann haben Sie recht, dann können Sie das mit allem machen. Aber dann können Sie auch irgendein gegenwartsbezogenes Thema machen und eine gute Serie darüber machen. "Breaking Bad" ist eine gute Serie, aber dafür bietet sich 1813 nicht an!

Meyer: Und was - weil Sie immer wieder davon sprechen, von den Konsequenzen zu reden dieser Schlacht -, was wäre das in erster Linie, was müsste dann transportiert werden?

"Die Nation sozusagen als Kriegsgeburt"
Ries: Zum Beispiel hat die Schlacht, also 1813, für die Kommunikations- und Mediengeschichte ist das eine ganz wichtige Zäsur. Es entstehen jetzt zum ersten Mal politische Tageszeitungen, überhaupt politische Zeitungen, die jetzt permanent informieren über Tagesgeschehen. Also, es ist ein regelrechter Umbruch in dem Bewusstsein einer neuen Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit ist keine ständig eingehegte Öffentlichkeit, das ist eine überständig ... das ist der Weg zur bürgerlichen Öffentlichkeit, wie sie Habermas mal vor 30, 40 Jahren in seinem berühmten Buch beschrieben hat.

Dafür steht 1813. Was in dem Buch übrigens nicht vorkommen kann, weil das ihn ja nicht interessiert hat, sondern eine andere Frage war, aber dafür steht 1813, einmal. Zweimal, für die Entstehung eines ganz modernen Nationalismus, also einer ganz neuen Integrationsideologie. Da sind jetzt alle dran, auch nicht mehr geteilt nach ständischen Gruppen, sondern an dieser Nation arbeiten jetzt alle mit. Inklusive der Frauen, die die Fahnen sticken und so weiter. Also, die Nation sozusagen als Kriegsgeburt, auch das können Sie aus der Schlacht rausholen.

Die gesamte Politisierung der Gelehrtenschaft, ein ganz wichtiges Phänomen, über das ich ja selbst gearbeitet habe, das sogenannte politische Gelehrtentum. Da war für mich, in meinen Studien, 1813 die Zäsur schlechthin, stärker als 1806, stärker als 1789 und stärker auch als später der Wiener Kongress. Das wird jetzt ... Gucken Sie sich die Leute an, wie Arndt und wie sie alle heißen, die beginnen jetzt sozusagen, zu Hochformen aufzulaufen, ein Phänomen, das nicht mehr wegzudenken ist.

Meyer: Dass diese Schlacht diese von Ihnen beschriebenen positiven Folgen hatte und dass die Deutschen in dieser Schlacht einmal nicht die Aggressoren waren, meinen Sie, das könnte ein Grund dafür sein, dass es jetzt diesen lockeren Umgang gibt, bei dieser ja doch wahnsinnig blutigen Schlacht mit 100.000 Toten, diese positive Besetzung dieses Ereignisses?

Ries: Den lockeren Umgang vor allen Dingen, meinen Sie ja jetzt auf österreichdeutscher Seite?

Meyer: Zum Beispiel in dieser Fernsehshow, über die wir gerade reden.

Ries: In dieser Fernsehshow, ja ... Jetzt kann man das natürlich so holzschnittartig gar nicht sagen, weil die Sachsen ja auf der anderen Seite mitgekämpft haben. Also, Deutschland ist noch nicht Deutschland, wie es nachher wird, die Truppen stehen noch zum Teil gegeneinander.

Ich muss sagen, wenn man sich so anguckt, was ich eben getan habe, dann wird das auch gar nicht so klar, wer auf welcher Seite steht. Also, es mag sein, dass das vielleicht als deutsche Serie oder als deutscher Versuch sozusagen im Hintergrund stand, um ein bisschen salopper damit umzugehen, aber raus kommt es nicht.

Meyer: Wenn man das jetzt mal weiterdenkt, Herr Ries, die zuständige Redaktionsleiterin beim MDR Katja Wildermuth, die hat auch weiter überlegt und sagt, ja, was machen wir dann eigentlich mit der Oktoberrevolution, was machen wir mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, ich würde erst mal gar nichts tabuisieren, sagt Katja Wildermuth. Im Blick darauf, auch solche Ereignisse dann in solcher Form als Newsshow, als Gegenwartsfernsehen darzubieten, was halten Sie davon, zum Beispiel Ende des Zweiten Weltkriegs als solcherart Newsshow zu präsentieren?

"Ein Unsinn"
Ries: Ja, ich meine, das brauchen wir gar nicht zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu gehen, wir können sozusagen bei unserer Geschichte, bei dem Schlimmsten bleiben, kann man die Judenvernichtung als News schildern. Und das steht ja wahrscheinlich dahinter, wenn die Redakteurin fragt, ich würde nichts tabuisieren. Man wagt es dann nicht auszusprechen, aber man soll Ross und Reiter nennen, können Sie den Holocaust so vermitteln?

Das ist ein großes Problem. Wir haben in der Geschichtswissenschaft seit 30, 40 Jahren die Diskussion, Historisierung des Nationalsozialismus. Und Historisierung heißt nur einfühlen in das Geschehen mit den Zeitgenossen. Das ist ganz problematisch. Als Historiker und Wissenschaftler benötigen Sie eine subjektive Perspektive, mit der Sie herangehen und den Leuten klarmachen, warum sie es tun. Diese subjektive Perspektive - das ist mein Verdacht - wird komplett ausgeschaltet.

Wir sind wieder im Rückfall ins 19. Jahrhundert und wollen nur darstellen, wie es eigentlich gewesen ist, wie Leopold von Ranke schon gesagt hat. - Ein Unsinn. Man kann nicht darstellen, wie es gewesen ist, weil Sie immer was darstellen. Und dann ist es nie so, wie es gewesen ist, sondern dann ist es Ihre Sicht. Dass Sie Ihre Perspektive reflektieren, das ist sozusagen das A und O einer modernen Geschichtsbetrachtung.

Ich würde es nennen, das ist das A und O einer Problematisierung. Hier findet keine Problematisierung statt, wir leben in Zeiten, wo man sich in alles einfühlen möchte. Und am Ende wird aus diesem Einfühlen ein Verständnis. Wer will den Holocaust verstehen im Sinne eines Verständnisses? Kein Mensch! Wir wollen darüber aufklären! Also, ich - Sie merken, das kommt noch aus so einer linken 70er-Jahre-Ecke - bin eher entsetzt über solche Dinge, lasst uns alles mal so ein bisschen nacherzählen!

Aber wo Sie es jetzt sagen, fällt es mir auf, es ist in allen Bereichen. Ob das in der Philosophie ist, da gibt es ja dieses neue Buch von Gabriel, "Warum es die Welt nicht gibt", weil es unsere Perspektive, die ist nicht mehr so entscheidend. Man kann sehen, was da war, Sie können das überall beobachten, in unserem Fach ganz stark. Schauen Sie den Star unseres Faches ja ein bisschen, Christopher Clark an, der acht Geschichten zum Weltkrieg erzählt, das Einfühlen in die acht Geschichten, das ist wichtiger als das Aufklären über die Kontexte!

Meyer: Und im Moment, Herr Ries, kann man sich in die Völkerschlacht bei Leipzig einfühlen, noch bis zum Donnerstag immer um 19:50 Uhr im MDR-Fernsehen. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Ries: Ja, bitte sehr, kein ...


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