"Heute ist das Gefälle noch größer geworden"

Shi Ming im Gespräch mit Susanne Burg · 08.11.2012
Das 2005 von Chinas politischen Führern ausgerufene Ziel der "harmonischen Gesellschaft" hatte nichts mit dem gemein, was der Philosoph Konfuzius mit diesem Konzept ursprünglich meinte. Eigentlich sollte damit ein sozialer Ausgleich erreicht werden, sagt der chinesische Schriftsteller Shi Ming. Das sei aber nicht gelungen.
Susanne Burg: 2005 riefen die chinesischen Führer Hu Jintao und Wen Jiabao das Ziel einer harmonischen Gesellschaft aus. Sie beriefen sich damit auf den chinesischen Philosophen Konfuzius. Harmonie und Mitte, Gleichmut und Gleichgewicht waren bei ihm erstrebenswerte Ziele, denn seiner Meinung nach konnte ein moralisch einwandfreier, ein edler Mensch nur sein, wenn er sich in Harmonie mit der Welt befindet. Heute nun hat in China der 18. Parteitag der Kommunisten begonnen, und was aus diesem Ideal der harmonischen Gesellschaft geworden ist, das will ich mit Shi Ming besprechen. Der chinesische Schriftsteller und Journalist lebt sein 1987 in Deutschland, in Köln, und dort begrüße ich ihn jetzt am Telefon, guten Morgen!

Shi Ming: Guten Morgen!

Burg: Ja, seit seinem Amtsantritt 2002 hat Staats- und Parteichef Hu Jintao auf die konfuzianischen Kategorien Harmonie und Loyalität zurückgegriffen. 2005 gab er beim nationalen Volkskongress das politische Ziel einer harmonischen Gesellschaft aus, was für ein Harmoniebegriff war das denn?

Shi: Das war zuerst ein sehr politischer Begriff. Harmonie bedeutete, als dieser Slogan geprägt wurde, sozialen Ausgleich. Also, die politische Führung wies damals schon darauf hin, dass das Gefälle zwischen Arm und Reich sehr groß geworden ist, dass die Unterschiede zwischen landesinneren Regionen und Küstenregionen immer mehr wachsen. Unter diesen Umständen will man politisch ausgleichend fungieren, das heißt also, den Armen unter die Arme greifen, aber nicht die Reichen schröpfen. Geworden ist daraus natürlich nichts, heute ist das Gefälle noch größer geworden.

Burg: Nun ist es ja noch gar nicht so lange her, da hat Mao Tse-tung Konfuzius und die Philosophen seiner Zeit als feudale Denker und Symbol für Rückständigkeit verdammt. Warum hat die Partei 2005 diesen Salto vollzogen und Konfuzius rehabilitiert?

Shi: Das ist hoch interessant. Denn Mao Tse-tung selbst hatte auch schon mal von Harmonie gesprochen, und zwar mitten in dem Chaos, in der Kulturrevolution sprach er davon, dass zuerst unter dem Himmel ein Chaos ausbrechen sollte, bevor aus dem Chaos eine Harmonie entstünde. Damals wünschte sich die politische Führung unter Mao tatsächlich eine Wiederkehr zu einer harmonischen Ordnung oder zu einer Ordnung. Und so ähnlich war das auch mit Hu Jintao und Wen Jiabao, als sie gemerkt hatten, dass die Vorgängerregierungen zu sehr dieser neoliberalen Wirtschaftspolitik nachgehangen haben, dass die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten explosiv geworden sind.

Burg: Ich muss noch mal kurz nachfragen: Also, es war auch unter Mao Tse-tung eine harmonische Gesellschaft, obwohl man eigentlich mit Konfuzius nicht so viel anfangen konnte?

Shi: Genau, das ist das. Das ist diese moderne Paradoxie in der modernen Geschichte Chinas. Man kritisiert genau denjenigen, dessen Ideal man notgedrungenermaßen auch wieder übernehmen muss, weil Konfuzius natürlich damals, als Konfuzius mit dieser Harmonie quasi rausrückte, meinte der Philosoph gar nicht eine politische Harmonie, der meinte eher ... Damals gab es noch nicht den Begriff Gesellschaft, aber eine Harmonie generell unter Menschen. Dieser Harmoniebegriff war auch bei Konfuzius ein sehr fernes Ideal, als Konfuzius lebte, sprach er nicht von der Gegenwart als Harmonie, sondern alle Edelmenschen müssen sich um die Harmonie kämpfen. So meinte auch Konfuzius. Als Mao Tse-tung Konfuzius kritisieren ließ, meinte er zuerst, dass Konfuzius keine Revolution haben wollte. In der Tat wollte auch Konfuzius keine Revolution. Mao zuerst war als Revolutionär eingetreten. Als aber der Revolutionär selber in der Macht saß, der will ja natürlich jede andere Revolution sofort ersticken. Deswegen spricht dann auch der Revolutionär, der ehemalige, von der Harmonie. Und so ist es heute auch noch so. Die kommunistische Partei ist in der Macht und will die Harmonie haben, keine Revolution, löst aber die sozialen Widersprüche nicht.

Burg: Genau, Sie hatten ja erwähnt: Die sozialen Spannungen, die Kluft ist größer geworden. Wie sah denn dieses Ziel der Harmonisierung in der politischen und wirtschaftlichen Praxis aus?

Shi: Sagen wir mal, wie die Bemühungen ausgesehen hatten. Also, die Sozialversicherungen sollten immer mehr Menschen erfassen, das wurde damals beschlossen, das wurde damals betont, 2007, auch die Bauern sollten eine Sozialversicherung bekommen, eine Rentenversicherung sowieso, aber dann auch eine rudimentäre Gesundheitsversicherung. Das sollte so angedacht und angeschoben werden. Und was heute geworden ist, ist eine große Lücke in allen Versicherungskassen, was auch niemanden verwundert. Diese Lücken könnten jederzeit das Finanzsystem durcheinanderbringen und dann natürlich auch dieser sogenannte Kampf gegen die Korruption, dass die Reichen zumindest auf rechtschaffenem Wege zu ihrem Reichtum finden sollten. Was natürlich ad absurdum geführt worden ist auch durch die Politbüromitglieder wie Bo Xilai, der verhaftet wurde wegen Korruption.

Burg: Im Grunde genommen also eine Umdeutung des Harmoniebegriffs?

Shi: Ja, eine Einengung des Harmoniebegriffes. Denn als Konfuzius diesen Begriff geprägt hatte, meinte er vor allen Dingen die persönliche Harmonie, also, einzelne, vor allen Dingen Edelmänner mit der Welt. Also, auch ein innerer Ausgleich, dass man eben nicht ein Streber sein darf und dass man eben nicht nach immer mehr, immer höher, immer schneller hinterherjagen sollte. Das ist alles weg. Konfuzius meinte eine ästhetische Harmonie, auch das ist weg. Denn die moderne Welt ist nun sehr schreierisch, wenn man also die heutige Urbangesellschaft in China beobachtet, da werden überall deftige Witze erzählt, überall wird auch trotz aller Bekämpfungsmaßnahmen Pornografie und Prostitution betrieben. Also, von einer ausgewogenen harmonischen Gesellschaftsatmosphäre kann überhaupt nicht die Rede sein.

Burg: Über das gesellschaftliche Ideal der Harmonie spreche ich hier im Deutschlandradio Kultur mit dem chinesischen Exilschriftsteller und Journalisten Shi Ming. Auch chinesische Internetbenutzer sprechen viel von harmonisiert werden. Was meinen die denn damit?

Shi: Das ist eine sehr interessante Wortschöpfung, harmonisiert werden. Diese Kombination hat es früher zu Kaisers Zeiten gar nicht gegeben. Als die Harmonie als politischer Slogan 2005 herausgegeben wurde, da wurden natürlich nicht nur die sozialen Ausgleichmaßnahmen ergriffen, sondern auch jeder verhaftet oder zumindest drangsaliert, der die Harmonie stört, also verfolgt, verwarnt. Und all diese Maßnahmen münzen die chinesischen Internetnutzer um in einer neuen Wortschöpfung, harmonisiert werden. Damit meinen sie genau die Repressalien. Und das so eine beißende Ironie, wenn man immer mehr Leute harmonisiert in dem Sinne, dass man sie verhaftet, verhört, verwarnt, manche sogar gleich auch in den Knast geschickt, dann kann die Harmonie so weit gar nicht funktionieren. Genau mit dieser Wortschöpfung greift eine ironische, eine satirische Atmosphäre auch, ergreift auch immer mehr die Menschen im Internet. Deswegen ist auch diese Wortschöpfung überall anzutreffen.

Burg: Nun beginnt eine neue Zeit, beim Parteitag wird fast die gesamte politische Führung ausgetauscht. Wie wird sich denn die neue Führung zur harmonischen Gesellschaft stellen?

Shi: Das Wort taucht gar nicht mehr auf. Also, das Wort taucht schon in dem politischen Bericht, der heute vor den Parteidelegierten verlesen wurde, von dem Parteivorsitzenden, auch in diesem Bericht ist keine Spur mehr von der harmonischen Gesellschaft zu spüren. Noch eine andere Dimension ist: Die harmonische Gesellschaft wurde später für die Außenpolitik umgemünzt in eine harmonische Weltordnung. Aber auch davon ist keine Spur mehr zu spüren, man droht schon offen den Nachbarländern, Chinas Großmacht bitte nicht gering zu schätzen, man sollte Chinas Vormacht zumindest im Fernen Osten anerkennen, die Botschaft geht an Japan, die Botschaft geht an die Philippinen, an die USA. Also, auch der politischen Führung, auch der kommenden, ist bewusst geworden, dass man mit diesem Begriff nicht mehr sehr weit kommen kann.

Burg: Sagt Shi Ming, der Journalist und chinesische Exilschriftsteller. Vielen Dank fürs Gespräch!

Shi: Danke auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
China soll Einparteienstaat bleiben: Der scheidende Staatschef Hu Jintao auf dem 18. Parteitag der KP
Der scheidende Staatschef Hu Jintao auf dem 18. Parteitag der KP© picture alliance / dpa / Adrian Bradshaw
Mehr zum Thema