Herta Müller am Schauspielhaus Hamburg

Diese Kälte, diese völlige Entfremdung

Die deutsche Schriftstellerin und Nobelpreisgewinnerin Herta Müller.
Die deutsche Schriftstellerin und Nobelpreisgewinnerin Herta Müller. © picture-alliance / dpa / Laszlo Beliczay
Von Michael Laages · 18.09.2015
Nach ihrer Flucht aus Rumänien nach West-Berlin schrieb Nobelpreisträgerin Herta Müller vor 28 Jahren den Prosaband "Reisende auf einem Bein". Den Text über das Fremdsein im Exil hat jetzt die britische Regisseurin Katie Mitchell fürs Schauspielhaus Hamburg auf die Bühne gebracht.
Vor allem als Lyrikerin war Herta Müller weiteren Kreisen bekannt gewesen, als die rumänische Autorin aus dem Gebiet der deutschsprachigen "Banater Schwaben" 1987 das Land verließ, wo sie geboren war; zermürbt von den lebensbedrohlichen Schikanen, denen die Staatssicherheit des Präsidenten Ceaucescu, die "Securitate", die 1953 geborene Schriftstellerin berufslebenslang ausgesetzt hatte. Zwei Jahre nach der "Ausreise" (wie "Flucht" damals beschönigend genannt wurde) erschien "Reisende auf einem Bein" – Herta Müller war zur Erzählerin geworden.
Und naturgemäß erzählte sie zunächst vor allem die eigene Geschichte; die "Reisende" war natürlich auch sie selber. Und warum "auf einem Bein"? Weil das zweite, das Standbein im früheren Leben, verloren gehen kann auf solch einer Flucht und die Reisenden sich selber oft abhanden kommen. Zumindest teilweise – selbst in der Unsicherheit zuvor war manchmal mehr Sicherheit, mehr elendes Gleichgewicht. Die Flüchtenden von heute könnten uns da mindestens so viel erzählen wie Herta Müller vor einem guten Vierteljahrhundert.
Mitchell zeigt eine Art "Video-work in Progress"
Aus den abenteuerlich montierten Szenen des Buches ist nun aber kein "Stück" im engeren theatralischen Sinne geworden; natürlich nicht. Denn Katie Mitchell, die mit "Reisende auf einem Bein" die neue Saison am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg eröffnet hat, sucht ja eher selten nach Stücken, eher erforscht sie Materialien und Motive. Und die unterwirft sie dann der sehr eigenen, extrem eigenwilligen Methode – lässt das Ensemble nämlich nicht für uns, das Publikum, sondern zunächst mal für die Kamera spielen; und wir bekommen eine Art "Video-work in Progress" zu sehen.
Die Bühne steht voller kleiner Einzel-Szenarien; im Auf und Ab der Kulissen-Wände verändern die Spielräume sich ständig. Insgesamt bald drei Dutzend Helferlein aus allen Abteilungen der Technik flitzen ständig hin und her, um der Kamera, dem Ton und dem Licht des fliegenden Video-Teams immer neue Arrangements zu bauen, in denen Darstellerinnen und Darsteller agieren – auf der Video-Leinwand oberhalb dieses Gewimmels bekommen wir dann das live gefertigte Bild zu sehen. Dabei bleibt der technische Aufwand immer erkenn- und durchschaubar; wir sind durchaus eingeladen, die Herstellung von Bildern, Räumen und Perspektiven mit zu entschlüsseln. Die Faszination vor derlei filigraner Planung technischer Abläufe mag enorm sein – wer diese grandiose Handwerkstechnik von Katie Mitchell allerdings zum wiederholten Male sieht, ist vielleicht nicht mehr gar so leicht überrascht.
Der Zauber nutzt sich ab, auch in 90 kurzen Minuten. Und die Fremdheit wächst: zwischen der Bühne selbst und denen, für die der ganze Aufwand betrieben wird. Mitchells Künste bleiben sehr oft sehr kalt.
Agentin der Securitate und Westspion
Aber hier immerhin "passt" diese Kälte, diese völlige Entfremdung. Wir begegnen "Irene" (also Herta) zunächst im Vernehmungszimmer der rumänischen Stasi, im Gegenüber mit dem eisig-ekligen Ausforscher, der sie bis in die Alpträume verfolgen wird noch nach der Ausreise. Weitere Stationen dieser Passion: Irene und die beste Freundin Dana (die sich später, beim Besuch im Berliner Exil, als Agentin der Securitate erweisen wird); Irene und der One-Night-Stand-Lover im rumänischen Hotel (er meldet sich in Berlin wieder und ist vielleicht ein West-Spion); Irene und der Mann vom BND, der sie für eine rumänische Spionin zu halten scheint; Irene und der Mann bei der Behörde, der die Wohnung besorgt und die finanzielle Unterstützung auszahlt. Niemand versteht die "Reisende auf einem Bein" – nur gegenüber der gammeligen Unterkunft im alten geteilten Berlin sieht Irenes ins Fenster einer Prostituierten: ein anderes Selbst, in Zwängen gefangen wie sie selbst.
Mitchells Video-Filmset ist ein Meisterstück der Requisite am Schauspielhaus – detailverliebt ist das alte Berlin nachgebaut für die Kamera, vom Werbeplakat bis zur Telefonzelle. Und Julia Wieninger, bewährt als Mitchells Protagonistin, entwirft das eigene Neue-Welt-Puzzle aus Klick-und-hopp-Fotos über dem Stadtplan an der Wand. Die Angst bleibt immer präsent; auf der Flucht ist Sich-Umschauen Pflicht – wer weiß, wer einen gerade verfolgt? Die Nahaufnahme der Kamera mit den großen, angstvollen Augen darin stärkt auch dieses unentrinnbare Grauen.
Aber selbst darin bleibt die Geschichte merkwürdig kalt – eben weil nur für die Kamera gespielt wird. So fremd wie Irene, die Geflüchtete, die Gerettete. Im neuen Leben bleibt, so fremd wird das Theater sich selber, wenn Katie Mitchell die Fäden zieht. Film ab, Herz aus!

Weitere Informationen zum Stück "Reisende auf einem Bein" finden Sie auf der Homepage des Schauspielhaus Hamburg.
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