Helsinki

Als junger Mensch im Altenheim

Helsinki
Weil die Mieten in der finnischen Hauptstadt Helsinki so hoch sind, hat die Stadtverwaltung sich etwas ausgedacht. © imago/Westend61
Von Jenni Roth · 17.10.2016
Wohnen in Helsinki soll teurer sein als in Genf, Rom oder New York. Deshalb ist der 19-jährige Jonathan von Zuhause direkt ins Altenheim gezogen. Dahinter steckt ein Projekt der hiesigen Stadtverwaltung.
"Nein, keiner hat mich für verrückt erklärt!
…lacht Jonatan, 19 Jahre alt, und das, obwohl er vor wenigen Monaten beschlossen hat, in ein Altenheim zu ziehen. Nach Laajasalo. Fast ans Ende der Welt, eine Insel hinter einer Insel.
Wer Jonatan besuchen will, muss von Helsinkis Innenstadt zuerst mit der Metro fahren, dann mit dem Bus, über die eine Brücke und über eine zweite. Ankunft nach einer gefühlten Ewigkeit. Es ist still rund um den Rudolfstift. Neben der Bushaltestelle ragen marmorierte Granitfelsen meterhoch, auf denen silberne Flechten wachsen ein paar Preiselbeeren. Wunderschön. Aber keine Bar, kein Kino. Warum zieht ein 19-Jähriger hierher? In ein Heim mit mehr als 100 Mitbewohnern und einem Durchschnittsalter von weit über 70 Jahren?
Jonatan spült gerade seine Kaffeetassen und stellt sie in den Abtropfschrank. Der angehende Konditor hat dunkle, nach oben gegelte Haare, er ist klein und schmal. Sein Zimmer ist aufgeräumt, großzügig. Bett, Schrank, Tisch, ein paar Stühle. Dazu ein großer Balkon mit Blick ins Grüne.
"Hierherzuziehen war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe! Ich habe bei meiner Mutter gewohnt, und als die auszog, wusste ich nicht, wohin. Ich habe mir viele Zimmer angeschaut, und eigentlich gab es keinen Unterschied zwischen diesem und den anderen – außer dem Preis!"
Helsinki ist teurer als in Genf, Rom oder New York

Wohnen in Helsinki ist teurer als in Genf oder New York

Wohnen in Helsinki ist teuer. Laut Mietindex teurer als in Genf, Rom oder New York. Ein Zimmer in Zentrumsnähe hätte sich der Azubi ebenso wenig leisten können wie viele seine Freunde: mehr als 1000 Jugendliche unter 25 haben in Helsinki kein dauerhaftes Dach über dem Kopf.
Jonatan hat sich auf Facebook gemeldet, als die Stadt Helsinki einen Aufruf startete: Zimmer zu vermieten, 23 Quadratmeter, mit Bad, Küche, Balkon für 250 Euro – gegen Mithilfe im Altenheim. Drei Zimmer waren im Angebot, 300 Interessenten haben sich gemeldet. Jonatan hatte Glück.
Taimi auch. Jonatan und Taimi trennen 62 Lebensjahre, aber es gibt vieles, was sie verbindet. Die Begeisterung für Malerei zum Beispiel. In Taimis Zimmer hängt ein kleines Gemälde, das Jonatan ihr zum Valentinstag geschenkt hat. Und nach nur einem halben Jahr hat die mehrfache Großmutter das Gefühl, dass sie sich schon immer gekannt haben.
"Oma bin ich für meine Enkel schon genug. Aber Jonatan ist mein Freund. Der Altersunterschied ist mir da ganz egal!"
Taimi hat sich für einen kleinen Ausflug in den Garten zurecht gemacht. Auf dem Kopf ein geblümter Hut, auf dem Schoß ihre Malutensilien, sitzt sie im Rollstuhl. Jonatan legt seine mit dazu, schiebt sie zum Aufzug und von dort in den Garten.
Er parkt Taimi auf der Terrasse unter einem Sonnensegel, und packt Papier und Buntstifte auf den Tisch.
"Er hat mich inspiriert, wieder zu malen!"
Drei bis fünf Stunden in der Woche muss sich Jonatan einbringen

Drei bis fünf Stunden in der Woche muss sich Jonatan einbringen

Weil Jonatan gerade einen Job sucht, hat er ziemlich viel Zeit für Taimi. An manchen Tagen backen sie zusammen Pulla, finnisches Hefegebäck, an anderen machen sie Ausflüge, gehen ins Café oder auf den Markt. Drei bis fünf Stunden in der Woche muss sich Jonatan einbringen, damit er im Altenheim wohnen darf. Zurzeit sind es deutlich mehr.
Auch wenn sich die anderen beiden Jugendlichen genauso um die alten Mitbewohner kümmern wie Jonatan: es reicht nicht. Auf mehr als 100 alte Menschen im Heim kommen nur drei junge. Und das Pflegepersonal ist – genau wie in Deutschland – ständig überlastet.
Am Nachmittag schiebt Jonatan seine Freundin in den Speisesaal, im Hintergrund läuft der Fernseher. Er holt zwei Zuckerwürfel für ihren Filterkaffee – er weiß längst Bescheid, wie sie ihn am liebsten trinkt.
"Alle sind ganz neidisch auf mich."
Für mehr als drei Jugendliche ist zurzeit kein Platz im Rudolfstift – die Zimmer sind für dauerhafte Pflegeplätze reserviert. Aber die Verantwortlichen bei der Jugendabteilung der Stadt hoffen, dass andere Heime nachziehen.
"Das wäre sehr wichtig! Traditionell ziehen junge Menschen in Finnland früh von Zuhause weg. Aber wegen der steigenden Kosten werden sie immer später unabhängig. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie unsere Gesellschaft mit den Alten umgeht. Und so wie hier würde ich auch gern alt werden – mit Menschen in ganz unterschiedlichem Alter."
Auch wenn Jonatan nicht viel jugendliche Gesellschaft hat, sieht es doch ein wenig nach Party aus, als abends der Tisch im Garten bunt gedeckt ist. Etwa ein Dutzend Alte sitzen mit Jonatan und seinen beiden anderen jungen Mitbewohnern auf Bierbänken zusammen. Sie haben Pizza bestellt und Pappteller auf dem Tisch verteilt.
"Ich habe wieder einen Grund, morgens aufzustehen. Die Jugendlichen hier bringen frischen Wind rein, Leben. Man ist nicht nur Pflegefall, sondern Mensch. Manchmal vergesse ich hier, dass ich alt bin."
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