Kommentar

Die Wiederkehr des Liberalismus

Christian Lindner steht nach seiner Rede beim FDP-Bundesparteitag in Berlin winkend auf der Bühne.
Politischer Auftrieb: Christian Lindner beim FDP-Bundesparteitag in Berlin. Doch kann der Liberalismus aus seinen Fehlern lernen? © dpa
Von Dieter Thomä · 14.05.2017
Lange war der Liberalismus in Deutschland politisch abgemeldet gewesen. Jetzt hat er wieder Auftrieb. Das ist gut - sofern der Liberalismus bereit ist, aus seinen Fehlern zu lernen, sagt der Philosoph Dieter Thomä: Eine Politik, die nur aufs Ich abzielt, weist Lücken auf.
Christian Lindner sagt: "Jeder Mensch kann etwas bewegen. Viele tragen die Sehnsucht in sich, ihrem Leben eine eigene Richtung zu geben. Wir sagen den Menschen in der Mitte der Gesellschaft: Jetzt geht es mal um Dich. Bei uns bist Du der Mittelpunkt."
Das ist das klassische Credo des Liberalismus. Er wendet sich an dich und mich als Individuen, verspricht jedem von uns Freiheitsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten. Mit dieser Botschaft kommt er derzeit gut an.
Der Liberalismus ist also zurück – und es stellen sich drei Fragen: Warum war er weg? Warum ist er wieder da? Und ist das gut so?

Der Liberalismus war langweilig und hässlich geworden

Aus zwei Gründen war er weg. Erstens: Seit den 1990er Jahren machte sich das Gefühl breit, dass politische Freiheit gar kein umkämpftes Gut mehr sei. Man konnte – jedenfalls hierzulande – so ziemlich tun, was man wollte. Was aber selbstverständlich ist, lockt niemanden hinter dem Ofen hervor. Der Liberalismus wurde langweilig.
Zweitens: Es begann der Durchmarsch der wirtschaftlichen Freiheit, und dann hatten wir den Salat: die Finanzkrise, in der Staaten an den Rand des Abgrunds und Menschen um ihre Existenz gebracht wurden. Der Liberalismus wurde hässlich.

Die Nation als Beute der Populisten

Warum ist er wieder da? Auch aus zwei Gründen. Erstens: Der islamistische Fundamentalismus hat den Tod in unsere Städte gebracht. Die wehrhafte Demokratie, die bürgerliche Freiheiten verteidigt, entpuppt sich als brandaktuelle politische Aufgabe.
Der Schweizer Philosoph Dieter Thomä
Der Schweizer Philosoph Dieter Thomä fordert: Der Liberalismus muss aus seinen Fehlern lernen© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
Zweitens: Da die Demokratie transnationale Ambitionen entwickelt, um auf Augenhöhe mit der globalen Wirtschaft agieren zu können, rückt sie von der Nation ab, an die sie traditionell gebunden war. Das heißt umgekehrt: Die Nation steht gewissermaßen allein da und kann zur Beute, zum Kampfbegriff derer werden, deren Welt mit dichten Grenzen, Mauern und Scheuklappen versehen ist. Der Populismus feiert – ganz ähnlich wie der Fundamentalismus – eine geschlossene Gesellschaft. Wer abgestoßen ist von dieser Vorstellung, muss für eine offene Gesellschaft kämpfen.

Der Liberalismus muss aus seinen Fehlern lernen

Ist es also gut, dass der Liberalismus wieder da ist? Die Antwort darauf lautet: Ja, aber…
Ja. Der Liberalismus ist das – parteiübergreifende – Programm all derer, die von Jean-Jacques Rousseau gelernt haben, dass derjenige, der "auf seine Freiheit verzichte[t]", auch "auf seine Eigenschaft als Mensch" verzichten muss. Wer das nicht will, ist – liberal.
Aber: Die Wiederkehr des Liberalismus ist nur dann gut, wenn er aus seinen Fehlern lernt. Viele Liberale glaubten, dass wirtschaftlicher und politischer Liberalismus Hand in Hand gehen, sich blind verstehen und der Freiheit flächendeckend zum Sieg verhelfen.
Das stimmt einfach nicht. Das Recht auf wirtschaftliche Vertragsfreiheit führt die Menschen nicht automatisch zur Emanzipation, sondern allzu oft in die Entrechtung. Die Deregulierung setzt die Menschen nicht frei, sondern liefert sie dem Machtspiel aus.

Freiheit des Individuums in einer sozialen Welt

Zu den Fehlern des Liberalismus gehört auch, dass er – siehe Christian Lindner – auf das "Du" und "Ich", also auf das Individuum fixiert ist und dabei übersieht, dass die individuelle Entwicklung auf eine soziale Welt angewiesen ist – also auf ein "Wir". Das "Wir" hat in der jüngeren Politik – von Barack Obamas "Yes we can" bis zu Angela Merkels "Wir schaffen das" – eine stattliche Karriere gemacht.
Zugegeben: Manchmal nervt das "Wir". Die SPD-Parolen "Wir in NRW" und "NRWir" klingen arg nach "Enerviert". Wer aber das "Ich" gegen das "Wir" ausspielt, landet beim Egotrip.
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