Heller: Zwanghaft ausgebremst

Erwin Heller im Gespräch mit Britta Bürger · 21.12.2010
Mit den wetterbedingten Ausfällen kommen wir an die "Systemgrenzen" unserer engen Terminkalender, sagt Erwin Heller vom Verein zur Verzögerung der Zeit. Er rät, sich im Loslassen vorgefasster Pläne zu üben.
Britta Bürger: Früher nannte man es Winter, heute spricht man von Chaos. Ein Grund für diese neue Bewertung ist sicher, dass unsere Zeitplanung völlig aus den Fugen gerät. Wenn wir nicht mehr wie gewohnt innerhalb von kürzester Zeit von A nach B kommen und stattdessen stunden- oder tagelang auf Bahnhöfen und Flughäfen ausharren, dann haben wir plötzlich sehr viel Zeit. So mancher gerät dadurch regelrecht in Panik – doch liegt darin möglicherweise auch eine Chance? Darüber möchte ich jetzt mit Erwin Heller sprechen. Im Hauptberuf ist er Fachanwalt für Baurecht, doch nebenbei ist er Obmann im Verein zur Verzögerung der Zeit. Schönen guten Tag, Herr Heller!

Erwin Heller: Grüß' Sie!

Bürger: Erleben wir gerade das, was Sie sich häufiger wünschen, die Verzögerung der Zeit?

Heller: Nein, diese Art von zwangsweiser Verzögerung der Zeit ist natürlich nicht das, was wir anstreben, aber auf der anderen Seite finden wir halt jetzt ein Scheitern, was eigentlich schon vorauszusehen ist und war und was in Zukunft nach meiner Einschätzung noch viel häufiger stattfinden wird.

Bürger: Was meinen Sie mit Scheitern?

Heller: Wir haben seit der Zeit der Aufklärung eine Einstellung entwickelt und die Technologien dazu, um die Welt zu beherrschen. Das heißt, das, was abläuft, ist das, was wir geplant haben und was wir uns vorstellen, so im Großen und Ganzen. Und jetzt stellen wir halt fest, dass das nicht mehr stimmt, sondern dass wir also in vielen Bereichen einfach an die Systemgrenzen kommen. Die Systemgrenzen, die zum einen der Winter setzt, aber auch die Systemgrenzen, die die Enge unserer Taktungen mit sich bringt. Wir haben keine Bandbreiten mehr, wir haben keine Pufferzeiten mehr, und wir sind es gewöhnt, wenn wir uns was planen und vorstellen, dass das dann auch so umgesetzt wird. Und dieses Scheitern, was da jetzt stattfindet, dieses Stranden am Flughafen, das haben wir in unserem Leben und in unserer Lebensvorstellung nicht mehr drin.

Bürger: Das Wetter zwingt uns also zu dieser Entschleunigung – oder man könnte ja auch andersrum sagen, es produziert noch mehr Stress, weil wir nach alternativen Reiserouten suchen, ständig den Wetterbericht verfolgen und uns jetzt mit den Verwandten auseinandersetzen müssen.

Heller: Ja, das ist richtig. Also ich hab jetzt im Zusammenhang mit dieser Sendung mal kurz drüber nachgedacht; ich kann mich erinnern, vor etwa 15 Jahren hat der Südwestfunk, glaube ich, mal bei mir angerufen, da war so eine ähnliche Situation in Baden-Württemberg, wo also große Schneefälle mehr oder weniger den Verkehr einschließlich des Handynetzes auf sämtlichen Ebenen zum Erliegen gebracht haben. Ich schätze aber, mit den Entwicklungen im Wetterbereich werden wir das öfters haben.

Bürger: Nun reagiert ja nicht jeder so gelassen wie Sie, am Frankfurter Flughafen kam es zu Prügeleien unter völlig abgenervten Reisenden – was passiert also mit uns Menschen, wenn wir jetzt unser gewohntes Tempo, unsere Mobilität, unsere Zeitplanung plötzlich ... wenn das gebremst wird? Reagieren wir panisch, wie ein Tier?

Heller: Ja, ja, ganz sicher. Also wenn das Abgebremstwerden so zwanghaft und so vollständig ist, dann findet wirklich Panik statt, und man sucht einfach krampfhaft nach irgendwelchen Lösungen und grast alles ab und stellt fest, es gibt keine Lösungen.

Bürger: Sie haben das so als eine Art Systemfehler bezeichnet, steht das Phänomen der sich ständig steigernden Beschleunigung unseres Lebens also im Grunde in so einer Art Wechselbeziehung mit dem Gegenteil, mit der Verzögerung, dem Stau, dem Stillstand?

Heller: Schon länger. Es gibt schon seit einer Reihe von Jahren verschiedentlich Veröffentlichungen, die auch auf diesen Aspekt hinweisen, das ist also eine Einschätzung, dass alles immer schneller wird, schon lange nicht mehr stimmt. Im Bereich der Mobilität zum Beispiel stimmt es nicht, es stimmt nicht mal etwa im Bereich der E-Mails. Sie können zwar nach wie vor in sehr, sehr kurzer Zeit Mails an andere Menschen und andere Stellen schreiben, aber die Antwortzeiten werden immer länger, weil die Massen der E-Mails, die auf die anderen Menschen einströmen, einfach dazu führen, dass man das nicht alles beantworten kann. Sie sind zwar ganz, ganz schnell da, aber die Antworten, erlebe ich immer mehr, kommen sehr, sehr viel später als früher oder es kommen überhaupt keine mehr. Einfach Überlastungserscheinungen, auch in diesem Bereich.

Bürger: Nun könnte man sich ja, um auf Weihnachten zurückzukommen, für die Feiertage einen Plan B überlegen, wie man die Zeit sinnvoll schön verbringen könnte, auch wenn man es nicht schafft, zu den Eltern oder zu den Kindern zu reisen, doch man muss natürlich auch mit der eigenen Enttäuschung – Sie nennen das Scheitern –, man muss ja mit der irgendwie fertig werden und auch damit, andere enttäuscht zurückzulassen.

Heller: Ja, aber das ist schon richtig, aber es gibt dafür keine Lösung. Man muss diese Enttäuschung und dieses Scheitern annehmen.

Bürger: Das Scheitern als Chance, sehen Sie die?

Heller: Eine andere Variante dazu gibt es nicht. Wir haben einfach unsere Vorstellung, dass Möglichkeiten da sind, wo wir nur hinzugrabschen brauchen, und dann haben wir das und dann passiert es so, und das ist aber halt nicht mehr so. Das ist sicher eine Enttäuschung und das ist auch sicher ganz heftig. Also wenn ich am Frankfurter Flughafen da mit sitzen würde und irgendwohin will, und mir ist das in den letzten Jahren auch immer mal wieder passiert, dass ein Flugzeug völlig ausgefallen ist und dann wurde angeboten, man möge doch da übernachten, das schmeißt ja alles Mögliche übern Haufen. Und dann ganz, ganz lange da so zu sitzen, das ist ja also wirklich so ein Stranden, was da stattfindet.

Bürger: Wie gehen Sie mit so einer Situation um?

Heller: Also das Wesentliche ist wirklich so ein Stück Arbeit, das anzunehmen. Ich komm nicht drumrum, ich suche natürlich wie alle anderen erst mal nach Möglichkeiten, kann ich irgendwas dran ändern, gibt es irgendwelche Alternativen dazu, kann man vielleicht rumsuchen, rumtelefonieren, mit anderen sprechen. Und wenn das nicht so ist, dann muss ich einfach ein neues Szenario machen. Das heißt so was: Ich sitze hier und ich komme hier nicht weg, was mach ich jetzt? Ich meine, ich kann vom Frankfurter Flughafen ... ich kann das aufgeben, diesen Flug zu nehmen und Kommando zurück. Ich fahr dorthin, wo ich hergekommen bin, oder ich mache irgendwas Alternatives. Der zentrale Punkt, glaube ich, ist das Loslassen.

Bürger: Und bleibe am Ofen, so wie die Menschen das früher ja auch gemacht haben. Leben wir im Grunde völlig gegen unsere Natur? In früheren Zeiten, um diese Jahreszeit, stellte sich die Frage nicht.

Heller: Ein Stück weit ja, aber wir wissen ja also auch aus der Genforschung, dass die Lebensumstände sich selbst auf die Genetik ständig auswirken, also wir sind nicht mehr die Menschen, dieselben Typen Menschen wie vor ein paar Hundert Jahren.

Bürger: Über Lust und Frust vorweihnachtlicher Entschleunigung sprechen wir hier im Deutschlandradio Kultur mit Erwin Heller, dem Obmann des Vereins zur Verzögerung der Zeit. Im Hauptberuf sind Sie, Herr Heller, Fachanwalt für Baurecht.

Heller: Ja.

Bürger: An welchem Punkt Ihres Lebens haben Sie denn angefangen, über Entschleunigung nachzudenken?

Heller: Also mit Zeit – habe ich beim Nachlesen von uralten Papieren festgestellt – über Zeit denke ich schon seit Ewigkeiten nach. Das ist für mich irgendwie ganz von Anfang an ein ganz, ganz wesentliches starkes Element gewesen. Und in diesen Verein bin ich gekommen, weil ich damals als Anwalt ja aus dem Stress überhaupt nicht mehr rausgekommen bin. Ich hab wirklich nach einem Strohhalm gesucht. Dachte ich, Herrschaftszeiten, irgendwie muss das gehen, das kann nicht ewig so weiterlaufen, dass du da nur noch rotierst. Und da hat mir der, in Anführungszeichen, "Zufall" dann diesen Verein ins Leben gespült.

Bürger: Was machen Sie in diesem Verein – vermutlich treffen Sie sich nicht nur zum gemeinsamen Müßiggang?

Heller: Nein, wir tauschen uns aus und wir denken nach, wir diskutieren mit Fachleuten aus unterschiedlichen Bereichen, und wir haben über eine Reihe von Jahren hinweg auch Aktionen in der Öffentlichkeit gemacht. Und ja klar, wir machen Pressearbeit, wir geben eine fantastische Zeitschrift raus, die "Zeitpresse" heißt. Und ansonsten besteht natürlich die Tätigkeit des Vereins zu einem großen Teil auch darin, viele Dinge zu lassen.

Bürger: Den Eindruck, dass die Zeit langsam vergeht, den hat man ja vor allem dann, habe ich gelesen, wenn man ständig Neues erlebt. Das mag einem jetzt paradox vorkommen, weil man im Grunde in hohem Tempo lebt, doch anscheinend hat man ja das Gefühl, dass die Zeit wie im Flug vergeht gerade dann, wenn man nicht mehr viel Neues erlebt und in Routine gefangen ist. Das ist ein merkwürdiger Widerspruch.

Heller: Ja, aber das sind Bewertungen, die aus meinem Erleben heraus erst nachträglich auftauchen. In dem Moment, wo Sie intensiv etwas erleben, existiert die Zeit ja überhaupt nicht. Sie wird weder als langsam noch als schnell wahrgenommen, sie wird überhaupt nicht wahrgenommen. Sie erleben doch einfach, und niemand denkt drüber nach, ob das jetzt langsam geht oder schnell geht. Die Zeitwahrnehmung taucht vor allem dann auf, merkwürdigerweise, wenn irgendwas unangenehm ist, ebenso Warten – das dauert, das dauert und dauert, und es gibt diesen sehr bekannten Effekt: Je häufiger man auf die Uhr schaut, desto länger dauert es.

Bürger: Haben Sie Ihr Weihnachtsfest so geplant, dass Warten keine Rolle spielt, bleiben Sie zu Hause?

Heller: Ganz sicher, ich hab nämlich überhaupt nichts geplant.

Bürger: Erwin Heller, Obmann des Vereins zur Verzögerung der Zeit. Er sieht in der aktuellen Entschleunigung durch Schnee und Eis, ja, eine Chance. Ich danke Ihnen, Herr Heller, fürs Gespräch!

Heller: Ja, bitte, Wiederschauen!