Heinrich August Winkler

Westliche Illusionen unter der Lupe

Der Historiker Heinrich August Winkler
Der Historiker Heinrich August Winkler © picture alliance / ZB
Von Jörg Himmelreich · 26.01.2015
Im vierten und letzten Band seiner "Geschichte des Westens" setzt Heinrich August Winkler nach 4000 Seiten einen fulminanten Schlusspunkt: Die Ideen des Westens werden trotz aller Anfechtungen weltweit in den politischen Kulturen weiter Einfluss ausüben, ist der Historiker überzeugt.
In dem letzten Band seiner "Geschichte des Westens" setzt Winkler nach 4000 Seiten einen fulminanten, optimistischen Schlusspunkt: Die Ideen des Westens werden trotz all ihrer Anfechtungen weltweit in den politischen Kulturen weiter wühlen.
Damit endet die souveräne Erzählung einer transatlantischen Geschichte über die Entstehung der westlichen Wertegemeinschaft und dessen, was sie ausmacht. So etwas hat es bisher noch nicht gegeben. Sie beschreibt ein "normatives Projekt", so Winkler, das mit den Ideen von Menschenrechten und Demokratie einsetzt, wie sie in der amerikanischen Grundrechteerklärung von Virginia 1776 und der französischen von 1789 festgehalten werden. Seit diesen beiden atlantischen Revolutionen schälen sich die unveräußerlichen Menschenrechte, die staatliche Gewaltenteilung und das Rechtsstaatsprinzip als anzustrebende Kernelemente einer gemeinsamen Wertegemeinschaft des Westens heraus.
Gekonnt und ungeschminkt
Wie unterschiedlich sie sich in den einzelnen europäischen Staaten und den USA fort- und immer auch wieder zurückentwickeln, das stellt diese Geschichtserzählung schonungslos und detailliert dar. Dabei erzählt Winkler von den Rückschritten dieser Ideen im Europa des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg im zweiten Band und vom deutschen Nationalsozialismus als historischem Tiefpunkt in der Umsetzung der westlichen Ideen im zweiten. Während die im dritten Band beschriebene Zeit des Kalten Kriegs bis zum Mauerfall wieder zu einer besonderen transatlantischen Nähe führt.
Der jetzt erschienene letzte Band schildert die anfänglichen westlichen Illusionen über den endgültigen Sieg des Westens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion genauso wie seine Bedrohung durch islamistischen Terror und Putin heute. Gekonnt und ungeschminkt werden die transatlantischen Differenzen in Folge des Irak-Kriegs und über die Arbeit der US-Geheimdienste genauso skizziert, wie die Schwächen der Währungsunion. Diese Stoffmenge in einer zusammenhängenden Erzählung souverän zu gestalten ist einfach meisterlich.
Altgriechische Bedeutung der Demokratie gilt nicht mehr
Aber auch bei Kolossalgemälden von großen Künstlern kann nicht jeder Pinselstrich von gleicher Meisterschaft sein. In dem Resümee des jetzigen Bandes für die gesamte Geschichte des Westens aber auch schon in seinem ersten Band relativiert Winkler die Bedeutung der altgriechischen Demokratie für die heutige; die politische Organisation des Alten Roms vernachlässigt er völlig. Dabei schafft das altrömische Rechtsinstitut des Privateigentums einen Bereich, der dem Zugriff des Staates entzogen ist, und damit eine rechtlich garantierte Trennung von öffentlicher Gewalt und privater Bürgersphäre. Diese Dualität ist eine nicht wegzudenkende Grundlage für die später sich entwickelnde Idee der westlichen Demokratie.
Insgesamt vermittelt jedoch diese „Geschichte des Westens" gerade angesichts seiner aktuellen Bedrohung jedem Bürger eine umfassende, unverzichtbare politische Standortbestimmung in einer von Krisen überschwemmten Zeit.

Heinrich August Winkler: "Geschichte des Westens - Band 4: Die Zeit der Gegenwart"
CH Beck, München, 2015
576 Seiten, 29,95 Euro

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