Heimat als Utopie, Utopia als Heimat

Von Volkhard App · 03.06.2013
Zum vierten Mal verwandeln die Kunstfestspiele in Hannover die Herrenhäuser Gärten zum Schauplatz von Konzerten, Theaterstücken und Installationen. Intendantin Elisabeth Schweeger lässt die barocke Parkanlage unter dem Motto "Heimat Utopie" bespielen.
Das langgestreckte Galeriegebäude mit seinen barocken Wandgemälden ist erneut einer der Hauptschauplätze, doch zum Auftakt war es abgedunkelt: nach und nach tauchten wie auf kleinen Lichtinseln an verschiedenen Stellen Sänger und Instrumentalisten auf und produzierten in dem historischen Raum höchst moderne Töne:

Neonröhren sorgten vorübergehend für optischen Reiz, und gegen Ende schwebten kleine Lichter an Luftballons zur Decke. Die Töne kamen sogar verfremdet aus benachbarten Räumen, und mancher Solist wurde mit seinem Instrument durch den langen Saal gefahren:

"Atlas-Inseln der Utopie” hieß diese Uraufführung, in Szene gesetzt von Sabrina Hölzer, als Komponist stand José Maria Sanchez-Verdu im Mittelpunkt:

"Ich habe fast schon vor drei Jahren mit diesem Thema angefangen - "Utopie" aber nicht nur in der Gesellschaft, sondern als Nicht-Ort. Es geht um Raum und Architektur, um den Nicht-Ort und dazu kommen die utopischen Bücher früherer Jahrhunderte, die Suche nach innen und außen: wo bin ich?"

Wesentlich war den Abend über die meditative Grundstimmung, die fast schon etwas Sakrales hatte. Man mochte in dieser Atmosphäre an gesellschaftliche oder persönliche Utopien denken oder seine Ideen und Gefühle in eine ganz andere Richtung schweifen lassen.
Gedacht war die Inszenierung immerhin als programmatischer Auftakt, stehen die Festspiele in ihrer vierten Ausgabe doch unter dem Motto "Heimat Utopie”. Wie eigentlich ist das gemeint? Soll uns die Utopie zur Heimat werden? Intendantin Elisabeth Schweeger:

"Die Fragen, die dahinter stecken, sind natürlich: was verstehen wir heute noch unter Heimat - und was verstehen wir unter Utopie? Wo ist die Heimat heute angesiedelt, und ist die Art, in der wir leben, geeignet, noch utopisch denken zu können. Ich bin schon der Meinung, dass, wenn wir keine Utopien mehr haben, die Welt sich nicht mehr weiterbewegt und wir auch nicht - das wäre kulturell gefährlich. Dahinter steht natürlich auch, dass wir in einer nomadischen Gesellschaft leben, uns permanent bewegen und sich das umdefiniert, was wir ursprünglich mal als unsere Verwurzelung angesehen haben."

Auf dem Festival-Plakat erscheint ein Gartenzwerg mit Handy, diese Art von moderner Heimat ist wohl nicht gemeint. Die Besucher sollen jedenfalls gefordert werden. An einem weiteren Abend folgten sie dem "Ensemble Mosaik" durch Abschnitte des Großen Gartens. 10 junge Komponisten der hannoverschen Hochschule für Musik und Theater hatten eigens Stücke geschrieben, und das Publikum lauschte ihren Werken zwischen Bäumen und Wiesen, Beeten und Hecken:

Ganz im Nirgendwo will man das hochgreifende Thema bei diesem Festival nicht stehen lassen - es wird zuweilen historisch verortet. So begann ein Filmkonzert mit einer alten Wochenschau des Avantgardisten Vertov, der seine Arbeit in den Dienst der Oktoberrevolution stellte.

Im Anschluss an diese Wochenschau wurde Suzie Tempketons Oscar-prämierter Puppentrickfilm präsentiert, der Prokofievs "Peter und der Wolf” aufgreift - doch scheint diese Version mit dem unerfahrenen Jungen, dem grimmigen Großvater, dem Vogel mit gebrochenem Flügel und anderen geliebten und gefürchteten Tieren auf ernüchternde Weise im heutigen Rußland angesiedelt. Was das Ensemble live vor der Leinwand spielte, klang hingegen vertraut:

Schon in den ersten Tagen haben sich auch die vierten Kunstfestspiele mit einer inspirierenden Vielfalt gezeigt - und erneut unterstrichen, wie wichtig es ist, an diesem historischen Ort Akzente zu setzen, Altes und Neues miteinander zu verbinden und den Dialog zwischen verschiedenen Kunstgattungen zu ermöglichen.

Dabei ist diese Veranstaltung in den Augen mancher Lokalpolitiker und anderer Bürger nach wie vor umstritten. Zuwenig Publikum, zu hohe Zuschüsse pro Eintrittskarte, zuwenig Verankerung im städtischen Leben - so die Schlagzeilen, die auch jüngst wieder die öffentliche Debatte prägten. Wie hat Elisabeth Schweeger diese Diskussion erlebt?

"Ich denke, diese Diskussion hat sich an dem leider Gottes jetzt sehr verbreiteten Quotendenken aufgehängt, und damit kann man keiner künstlerischen Veranstaltung begegnen. Ich habe bedauert, dass nicht inhaltlich diskutiert worden ist, sondern nur, ob die Quote erfüllt wird oder nicht. Und wenn man immer nur darüber nachdenkt, dann verliert man irgendwann auch den Anspruch der Qualität."

Ein größeres Publikum wäre diesem Festival zu wünschen. Noch auf vier weitere Jahre hat sich die Intendantin festgelegt, die jüngste Vertragsverlängerung ist da schon mitgerechnet. Schön wäre es, wenn der Versuch, an diesem herausragenden Schauplatz mal etwas anderes zu probieren, in der Chronik Hannovers nicht bloß eine Episode bliebe.