Heilende Stiche

Von Stephanie Kowalewski · 20.09.2009
Wie bleibe ich gesund und werde über 100 Jahre alt? Eine Frage, die der chienesische Kaiser Huang Di seinem Leibarzt Chi Bo stellte. Aus dem Zwiegespräch der beiden entwickelte sich vor mehr als 2000 Jahren "Das Lehrbuch des Gelben Kaisers zur Inneren Medizin". Es ist das Grundlagenwerk der Traditionellen Chinesischen Medizin, kurz TCM. Die Akupunktur, also das Behandeln der Kranken mit Nadeln, spielt darin eine wichtige Rolle.
Das Wort Akupunktur setzt sich aus den lateinischen Begriffen acus für Nadel und punctio für das Stechen zusammen. In der Traditionellen Chinesischen Medizin werden mit Hilfe der scharfen Nadeln Blockaden im Energiefluss aufgelöst und Selbstheilungskräfte angeregt. Besonders bei der Behandlung von Schmerzen hat sich die Nadeltherapie hierzulande bewährt. Doch wie genau die Akupunktur wirkt, weiß noch keiner so genau.

"Mir ist zu Ohren gekommen, dass in alten Zeiten die Menschen um die hundert Jahre alt geworden sind. Aber heute werden die Menschen nur halb so alt und werden dabei immer hinfälliger. Chi Bo antwortete: In alten Zeiten orientierten sich die Leute an Yin und Yang, den beiden Prinzipien, die Natur ausmachen und lebten in Übereinstimmung mit den Gesetzten des Kosmos und der Gestirne."

So werden der als mythischer Ahnenherrscher verehrte Huang Di und sein Leibarzt Chi Bo im "Lehrbuch des Gelben Kaisers zur Inneren Medizin" zitiert. Im zweiten Teil des umfassenden Werkes, dem so genannten Lingshu, geht es um die magische Wirkkraft der Nadeltherapie. Obwohl tausende Jahre alt, ist es nach wie vor das Standardwerk zur Traditionellen Chinesischen Medizin, sagt Professor Gustav Dobos.

"Und seit dieser Zeit hat sich im Prinzip bis ins 19. Jahrhundert, bis ins 20. Jahrhundert sehr wenig verändert in der Form der Akupunktur, außer dass natürlich die Materialien sich verändert haben."

Gustav Dobos ist klassisch ausgebildeter Internist und Intensivmediziner. Heute ist er Inhaber des einzigen deutschen Lehrstuhls für Naturheilkunde und integrative Medizin an der Universität Duisburg-Essen. Außerdem leitet er die Klinik für Naturheilkunde in Essen-Mitte, wo Elvira Reimann wegen ihrer extremen Verspannungen im Schulter- und Nackenbereich behandelt wird.

Sehr konzentriert tastet der Arzt den oberen Rücken der Patientin ab, sucht nach winzigen Dellen, Verhärtungen, farblichen Veränderungen der Haut. Neben dem Wissen um die Lage der heute bekannten rund 1000 Akupunkturpunkte sind das wichtige Hinweise auf die individuelle Position der Punkte bei der Patientin.

"Dieser Punkt heißt auch 'Punkt der tausend Strapazen'. Der hat eine besondere Nadelungstechnik. Das heißt ich nadel den in alle vier Richtungen: einmal nach unten, entferne dann die Nadel wieder nicht ganz aus dem Gewebe, aber fast, gehe dann noch nach oben, gehe nach links rüber und nach rechts rüber."

Die Verspannungen sind so stark, dass Elvira Reimann bereits Probleme beim Atmen hat. Jetzt hofft sie, dass Thomas Rampp ihr mit den hauchdünnen Edelstahl-Nadeln Linderung verschaffen kann.

"Also die Patientin hat ein sehr gutes Nadelgefühl oder wie die Chinesen sagen, ein De Qi-Gefühl empfunden. Wie würden sie dieses De Qi-Gefühl beschreiben, wie hat sich das angefühlt?"
"Nur zu Beginn ein bisschen Schmerz, so ein bisschen wie Strom. Kann man locker aushalten."

Denn die rund 0,3 Millimeter dicken sterilen Einwegnadeln verursachen beim Stechen meist nur geringe Schmerzen. Den für die Wirkung der Akupunktur erforderlichen Reiz, liefern die dünnen Nadeln dennoch.

"Akupunktur ist eine Reiztherapie, die durch Stimulation bestimmter Muskelregionen in der Lage ist, Schmerzlinderung, Entzündungshemmung und Beruhigung zu provozieren."

So wurde die Nadeltherapie im Deutschen Ärzteblatt, der offiziellen Zeitschrift der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung im Jahre 2004 definiert.

"Es gibt einen Mechanismus im Nervensystem, den man häufig auch unter dem Begriff Gegenschmerz erfasst."

Erklärt Frauke Musial, Leiterin der Forschungsabteilung an der TCM Klinik Essen-Mitte.

"Was ziemlich simpel besagt, dass wenn ich an einer Stelle Schmerzen habe, ich an einer weiteren Stelle einen weiteren Schmerzreiz setzen muss. Und das reduziert den ersten Schmerzreiz."

Inzwischen belegen zahlreiche Untersuchungen stichhaltig, dass die asiatischen Nadeln bei bestimmten Erkrankungen sogar besser wirken als die Schulmedizin. Die weltweit größte wissenschaftliche Studie nennt sich Gerac, ein Kürzel für "german acupuncture trials". Die Zahlen sind beeindruckend:

"Mehr als 40.000 Patienten nehmen an der Studie teil. Gut die Hälfte wird wegen Rückenschmerzen behandelt, ca. 26 Prozent leiden an Kopfschmerz und mehr als zehn Prozent an einer Knie- oder Hüftarthrose. Über 12.000 Ärzte dokumentieren mehr als zehn Millionen Behandlungen."

Das Los entschied hier, ob der Patient eine chinesische Akupunktur erhielt oder eine so genannte Schein-Akupunktur. Dabei werden die Nadeln nicht so tief und auch nicht in die klassischen Akupunkturpunkte gestochen. Ergebnis: die Akupunktur gehört zu den sichersten Therapieverfahren überhaupt, betont Professor Gustav Dobos.

"Und es hat sich rausgestellt, dass die Akupunktur deutlich besser, und zwar um 70 Prozent besser war, zum Beispiel bei der Behandlung von Rückenschmerzen und ebenfalls deutlich besser war bei der Behandlung von Kniegelenksschmerzen, im Vergleich zur schulmedizinischen Behandlung."

Bei Kopfschmerzen hingegen war die Wirkung nicht so eindeutig. Deshalb übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen auch bislang nur die Kosten für die Nadeltherapie bei Rücken- und Knieschmerzen aber nicht bei Kopfschmerz und nur einige Kassen bei Migräne.

Für wirkliche Verwirrung sorgte aber ein anderes Ergebnis der Gerac-Studie: In vielen Fällen spielt es offenbar keine Rolle, wie tief und genau akupunktiert wird, ob die Nadeln also exakt in die Akupunkturpunkte gestochen werden oder anderswo.

"Das hat natürlich ein großes Fragezeichen letztendlich verursacht. Die einen haben gesagt, seht her, die Akupunktur ist besser als die Schulmedizin und die anderen haben gesagt, Akupunktur ist nur ein Placeboverfahren, weil es keine Rolle spielt, wo wir rein stechen."

Manche Vertreter der TCM sprechen inzwischen eher von Akupunkturarealen, als von exakt definierten Punkten, die entsprechend den Beschwerden angestochen werden müssen. Und tatsächlich werden im Lingshu des Gelben Kaisers oft gar keine spezifischen Akupunkturpunkte zur Krankenbehandlung genannt oder sie sind eher vage beschrieben.

"Die Nadel muss über längere Zeit im Körper bei tief geführter Nadeleinführung verbleiben, und sie muss schnell wieder herausgezogen werden, wenn sie flach eingeführt wurde. In der Regel kann gelten: Die Nadel muss tief bei Patienten aus dem einfachen Volk eingeführt werden bei längerem Verbleib im Körper, eine winzige Nadel mit langsamer Einführung ist bei Angehörigen der Oberschicht vorzunehmen, deren Qi-Fluß ja schnell, intensiv, gleitend und ungehindert ist."

Wie wichtig die exakte Nadelung der Punkte nun tatsächlich ist, ist nur eine von vielen noch offen Fragen, die die Akupunktur den Forschern aufgibt. Eine andere ist, was überhaupt im Körper geschieht, wenn sich die hauchdünnen Nadeln durch die Haut bohren. Schulterzucken bei Frauke Musial, Forschungsleiterin in der Klinik Essen-Mitte.

"Wenn wir das wüssten, was da so genau passiert (lacht). Im Grunde wissen wir im Moment noch gar nicht sehr viel, was der Nadelreiz auslöst. Klar ist aber, dass wenn Sie in die Haut eine Nadel stechen, dass Sie Impulse auslösen, die über das Rückenmark weiter zum Gehirn geleitet werden."

Klar ist auch, dass Botenstoffe wie Endorphine, Dopamin und Serotonin eine Rolle spielen. Aber das war's. Viel mehr ist über die Wirkmechanismen der tausende Jahre alten Akupunktur noch nicht bekannt. Entsprechend skeptisch bis ablehnend ist deshalb die Haltung der meisten klassischen Schulmediziner, die auf wissenschaftlich belegte Verfahren bei der Krankenbehandlung setzen. Im Deutschen Ärzteblatt war noch vor fünf Jahren zu lesen:

"Die Gesamtwirkung der Akupunktur kann auf Physiologie, Placebo-Effekt und Suggestion zurückgeführt werden."

Nicht die Nadeln heilen demnach, sondern das Prozedere an sich: Der Arzt nimmt sich Zeit, berührt den Patienten, das Prinzip der ganzheitlichen Medizin ist den meisten Menschen angenehm.

Ganz gleich ob Placebo oder nicht - die Ergebnisse aus klinischen Studien bringen mehr und mehr klassisch ausgebildete Ärzte ins Grübeln. Andrea Schmitz zum Beispiel. Die Leiterin der Schmerzambulanz an der Uniklinik Düsseldorf sieht die positiven Effekte der Akupunktur sehr wohl. Doch ihr sind die bisherigen Studien nicht objektiv genug. Das Schmerzempfinden zu testen, reicht nicht, sagt sie, denn es ist subjektiv und dient deshalb nur bedingt für wissenschaftliche Aussagen. Deshalb fordert sie Studien, bei der die Wirkung der Nadeln an wirklich messbaren Faktoren getestet wird.

"Wie zum Beispiel die Gehstrecke bei einem Patienten mit einer arteriellen Verschlusskrankheit an den Beinen oder die Beweglichkeit im Kniegelenk bei einem arthritischen Kniegelenk. Die sollte man halt fordern. Aber ich glaube, das dies über kurz oder lang auch erfolgt."

Denn die Akupunktur erfreut sich seit den 1980er Jahren in der westlichen Welt einer immer größeren Beliebtheit. Zunächst waren es vor allem die Patienten, die eine Nadeltherapie zur Behandlung ihrer Schmerzen wünschten. Seit einigen Jahren setzten mehr und mehr Mediziner in den USA und Europa, und hier besonders die niedergelassenen Ärzte, auf die Therapie der kleinen Stiche. Damit hat sich die Akupunktur zu einem Exportschlager aus dem Reich der Mitte entwickelt. Allein in Deutschland praktizieren rund 40.000 Ärzte und Therapeuten Akupunktur. Tendenz steigend, sagt Gustav Dobos.

"Natürlich glaubt nicht jeder dran, manche wenden es auch an, um sich ihren Urlaub finanzieren zu können. Schwarze Schafe gibt es überall."

Doch genau diese schwarzen Schafe unter den Ärzten sind mit ein Grund dafür, dass die Akupunktur in der klassischen Schulmedizin mitunter einen schlechten Ruf hat. Andrea Schmitz, etwa, die selbst schon Fortbildungen im Bereich der TCM besucht hat, fordert eine bessere Ausbildung der Therapeuten.

"Ich denke, dass es noch keinen einheitlichen Standard gibt, wie die Ausbildung erfolgen soll, dass es doch da sehr wohl große Unterschiede gibt. Und dass für vielleicht manche der Lehrenden die Traditionell Chinesische Medizin im Sinne von Yin und Yang quasi mehr eine Philosophie ist und für manche doch einen medizinischen Hintergrund bietet."

Noch stecken 17 Nadeln im Rücken von Elvira Reimann. Gut 20 Minuten hat sie Dr. Thomas Rampp an ausgewählten Reizpunkten wirken lassen, bevor er sie nun entfernt.

"Ganz leicht kann man jetzt die Nadeln entfernen, das Gewebe gibt die gut her, Wunderbar. Wie haben Sie sich gefühlt?"
"Gut."
"Man hat jetzt das Gefühl, dass man sich vielleicht gestoßen hat, an diesen Stellen."
"Ich hoffe, dass es auch mir hilft."