Heil raus, aber trotzdem Opfer

Von Mandy Schielke · 08.05.2009
64 Jahre nach Kriegsende und Massenvernichtung treffen noch immer Suchanzeigen von überlebenden Juden in Berlin ein. Sie sind adressiert an die Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. Und sie suchen sehr persönliche Antworten. Zum Beispiel: Wann bin ich geboren worden?
Berlin. Oranienburger Straße. Hier kreuzen sich viele Wege. Die von Autofahrern und Fußgängern, von Touristen und Zugezogenen; von Werbung und Wirklichkeit, von Vergangenheit und Gegenwart.

Berlin ist eine Stadt der Geschichten. Manche werden vergessen, einige für immer. Andere Geschichten bringen sich wieder in Erinnerung.

Simon: "Das war so, dass uns jemand anrief, den wir nicht kannten, aus Tel Aviv und sagte, er kümmere sich hier um eine Frau, quasi um eine Mandantin."

Hermann Simon. Der Historiker blickt auf die Oranienburger. Und in die Vergangenheit. Der Anruf ist sechs Jahre her. Der Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum hat ein langes Gedächtnis.

Simon: "Er hat hier einen Fall, in Anführungsstrichen. Und er möchte gern wissen, ob wir aussagekräftig sind zu den Zöglingen eines Waisenhauses. Da hab ich erst einmal gesagt, er solle mal eine Vollmacht schicken. Da kann man ja nicht irgendwem, den man noch nie in seinem Leben gesehen hat, sofort mit Daten über Personen versorgen. Da sagte er mir: Ja, eine Vollmacht im klassischen Sinne habe er nicht, er könne sie natürlich beibringen. Aber die sitzt ja hier, die Frau, und er hat den Personalausweis von ihr und den könnte er mir als Fotokopie faxen. Na gut, sage ich, schicken Sie mal diesen Personalausweis. Ich wusste ja nicht, was uns da erwartete. Dann ratterte das Fax und es kam ein sehr merkwürdiges Dokument da raus."

Schütz: "Es war ein israelischer Personalsausweis."

Chana Schütz, Kunsthistorikerin, Simons rechte Hand der Vergangenheit.

Schütz: "Da stand dann in den Rubriken Geburtsort: Germania, also Deutschland, und Geburtsdatum: Null Null Punkt Null Null Punkt 1939. Keiner von uns hatte jemals so etwas gesehen, dass jemand überhaupt nicht zu wissen scheint, wann und wo er geboren wurde."

Fast jeden Tag nimmt das Postfach neue Suchanzeigen auf. Briefe von da und dort auf der Welt. Schreiben, in den Menschen nach ihrer Vergangenheit fragen. Nachforschungen über die Geschichte jüdischer Vorfahren in Berlin.

Wo haben meine Verwandten genau gelebt?

Welcher Rabbiner hat meine Großeltern getraut?

Welche Grundstücke, Immobilien waren im Besitz meiner Familie?

Wer kann mir Auskunft geben?

Historiker rufen an, Schulklassen kommen vorbei.
230 laufende Meter Akten. Geschichten und Geschichte. Oranienburger Straße.
Rabbinerverzeichnisse, Listen von Gemeindemitgliedern, Eheschließungen, Taufen, Austrittskarteien.
Nachlässe von Berliner Juden, in Kisten verpackt. Metallregale.
Auch die private Korrespondenz der ersten Rabbinerin, Regina Jonas, lagert hier.
Das Gesamtarchiv der deutschen Juden befindet sich seit 1905 in Berlin.

Schütz: "Seit Ende des 19. Jahrhunderts gab es immer mehr kleine, jüdische Gemeinden, die sich aufgelöst haben. Alles, was sie an Akten hatten, haben sie nach Berlin gegeben ins Gesamtarchiv der deutschen Juden. Das war hier bis die Nazis kamen und benutzt haben, um herauszufinden, wer Jude ist. Eine Außenstelle des Reichssippenamt war dann hier untergebracht."

Nach der Befreiung 1945 gelangen alle Akten aus der Oranienburger Straße in das Staatsarchiv der DDR. 1988 wird an historischer Stelle die, im Krieg zerstörte, Synagoge wieder aufgebaut. Die DDR-Regierung stimmt der Gründung einer unabhängigen jüdischen Stiftung zu. Das Centrum Judaicum zieht mit dem Archiv zurück an den historischen Ort.

Schütz: "Die Aufgabe dieses Archivs ist es Enden zusammen zu bringen, Enden zusammen zu fügen."

Die Enden zusammenbringen. Da, wo Geschichten unterbrochen wurden, Leben abrupt endeten, Fragen nach Antworten suchen. Und seien es unbequeme Zeichen aus der deutsch-jüdischen Geschichte in Berlin.

Wie im Fall der Frau ohne Geburtstag, ohne Geburtsort. Er begann mit einem Anruf aus Israel. Dann schickt der Anwalt aus Tel Aviv noch ein Fax nach Berlin.

Dondorf-Schreiben: "Ich heiße Hildegard Dondorf und bin in Deutschland 1938 oder 1939 geboren. Bitte haben sie Verständnis, dass ich nach all den Jahren des Suchens ungeduldig bin, jegliche Information, die mich betrifft, in Erfahrung bringen zu können. Denn obwohl ich ein kleines Mädchen in diesen schrecklichen Zeiten war, bin ich jetzt über sechzig Jahre alt und kann alles ertragen, auch wenn es noch so schmerzlich sein sollte."

Simon: "Diese Ausweiskopie plus dieser Brief an uns. Ich glaube, dann braucht man keine Vollmacht mehr und wir machten uns auf die Suche."

Erste Spur: die Abschrift einer Passagierliste.

Wenige Wochen nach Kriegsende reist Hildegard Dondorf als kleines Mädchen in der Obhut zionistischer Gesandter und mit Einwilligung der britischen Mandatsmacht mit dem Schiff von Marseille aus über Alexandria nach Haifa/Palästina.

Der Anwalt aus Tel Aviv schickt die Passagierliste nach Berlin. Sie ist auf Hebräisch verfasst. Ein Hindernis zunächst.

Schütz: "Nach der hebräischen Schreibweise kann es natürlich Danndorf oder Dunndorf oder Dunnderf oder so irgendetwas sein, denn das Hebräische hat ja keine Vokale."

Die Akten in Berlin müssen nach mehreren Namen durchsucht werden. Die erste Spur in die Vergangenheit darf nicht verloren gehen.

Berlin, Anfang der 40er-Jahre. Die jüdischen Waisenhäuser in Hitlerdeutschland werden geschlossen. Kinder, bei denen die rassische Herkunft unklar ist, müssen nach Berlin, in die Kinderunterkunft in der Oranienburger Straße 31.

60 Jahre später. Touristentrauben schieben sich die Oranienburger Straße entlang. Rechts und links – Restaurants, Cafés. Dazwischen das Archiv des Centrum Judaicum. Dort liegen die Listen aus der Kinderunterkunft.

Schütz: "Dieses Haus hier, die Gebäude rund um die Synagoge waren immer eigentlich jüdische Gemeinde, haben die Nazis überstanden, die Besatzung und da sind einfach Dinge liegen geblieben. Und manche Dinge sind einfach oben in den Dachböden gefunden worden. Zu diesen Funden gehören auch Überlieferungen aus dieser Kinderunterkunft in der Oranienburger Straße 31. Durchschlagpapier, überkommene Blätter. Die sind manchmal in einem schrecklichen Zustand gewesen, mussten also sehr aufwendig restauriert werden. Und da war die Information drin, dass dieses Kind Hildegard Dondorf in dieser Kinderunterkunft untergebracht war."

Wöchentlich müssen die jüdischen Betreuerinnen der Gestapo Bericht erstatten. 80 Kinder mit ungeklärter Herkunft leben in der Oranienburger Straße. Berlin, 10. Juni 1943, Zwölftens:

Dondorf Komma Hildegard S Punkt

Simon: "Was so viel heißt wie Sara. Und das ist der Zwangsname."

Geboren am 3. Juni 1939 in Frankfurt am Main.

Hildegard Dondorf, ein Waisenkind aus Frankfurt am Main. Eltern geschieden. Immer wieder taucht ihr Name auf den Listen an die Gestapo auf.

Schütz: "Irgendwann verschwand dieses S Punkt. Das heißt also, diese Mitarbeiterinnen haben dieses Kind irgendwann auf die arische Seite rübergezogen. Sie haben ihr durch die Streichung dieses Buchstabens das Leben gerettet."

Und irgendwann lassen die Erzieherinnen auf dem Papier die Jüdin Hildegard Dondorf zu einer Katholikin werden. Das Mädchen überlebt den Krieg im Jüdischen Krankenhaus in Berlin. Wie? Dies weiß niemand, es ist nirgendwo vermerkt.

Und Hildegand Dondorf, die ihren deutschen Namen in Israel niemals tragen wird, kann sich auch nicht erinnern. Ein dunkler Raum in der Vergangenheit. Jahrzehnte später soll wieder Licht in die Geschichte gebracht werden.

Simon: "Wir haben jetzt sehr häufig mit Personen zu tun, die nicht mehr deutsch können, weil sie, als sie verfolgt wurden, sehr, sehr jung waren, teilweise Babys, Kleinkinder, die sich an gar nichts mehr erinnern, die trotzdem aber ein Verfolgungsschicksal haben, das sie ein Leben lang geprägt hat."

Eine Generation sucht ihre Geschichte, ihre deutsche Geschichte. 1933 hatte die Jüdische Gemeinde in Berlin 170.000 Mitglieder. 76 Jahre später sind es 12.000. 64 Jahre nach Kriegsende.

Waren es Kastanien oder Eichen, die die krumme Straße hinunter zur S-Bahn säumten?

Da sind Gerüche in meinem Kopf. Zu welchem Ort gehören sie?

Welcher Ort entwirrt die Erinnerung?

Schütz: "Deutschland war ein Tabu und ist ein Tabu."

Chana Schütz, Kunsthistorikerin und stellvertretende Direktorin des Centrum Judaicums.

Schütz: "Jemand der überlebt hat und der mit dem Leben davon gekommen ist, dem ist ein neues Leben geschenkt worden. Dass das aber nicht funktioniert, sondern dass man auch immer wissen muss woher man kommt, um mit sich klar zu kommen, das ist erst in den letzten Jahren gekommen."

Im Sommer 2004 reist Hildegard Dondorf gemeinsam mit ihrem Anwalt von Tel Aviv nach Berlin.

Wie oft sind sie die Oranienburger Straße entlang gelaufen?

Waren sie in dem Krankenhaus im Wedding? Dort, wo Hildegard Dondorf als Kind den Krieg und die Bomben überlebt hat?

Hat sie bei schönem Wetter eine Schiffsfahrt auf der Spree gemacht?

Waren es für sie Tage der Qual oder der Befreiung?

Chana Schütz weiß es nicht. Aber jetzt hat ein Fall ein Gesicht, eine Stimme. Hermann Simon nickt. Beide beschreiben die heute knapp 70-Jährige als zarte, leichtfüßige Frau mit wachen Augen. Und dann erzählt Chana Schütz noch, dass Hildegard Dondorf im Jahr nach der Recherche das erste Mal ihren Geburtstag in Israel gefeiert hat, in einem vornehmen Hotel in Tel Aviv. Endlich hatte sie ein Datum dafür.

Simon: "Ich habe da jetzt einen ganz bestimmten Fall im Auge. D da habe ich mal gefragt: Wollen Sie das wirklich alles wissen? Ich habe hier eine ganze Menge gefunden, das kann ich Ihnen sagen, aber nur, wenn sie das wollen. Und da war die Antwort: Ja ich möchte alles wissen. Okay."

Touristen rollen ihre Koffer über den herausgeputzten Gendarmenmarkt. Manche treibt es in das große Hotel am Platz hinein.

Michael Mamlock sitzt im Foyer, trinkt Kaffee, schaut den Rollkoffern nach. Im Hintergrund plätschert ein künstlicher Wasserfall.

Mamlock trägt einen feinen Anzug, am Handgelenk eine goldene Jugendstiluhr. Der 58-Jährige arbeitet seit Jahren als Unternehmensberater. Im Westen der Stadt, in Zehlendorf, ist er geboren und als Einzelkind aufgewachsen.

Michael Mamlock ist der einzige aus der Familie, der noch in Berlin lebt. Die Eltern sind tot. Das erzählt er und: Über ihre Vergangenheit haben sie mit ihrem Sohn nie gesprochen. Der Mantel der Verschwiegenheit auch darüber, dass sie sich während des Krieges in einer Laubenkolonie im Eichkamp verstecken mussten.

Mamlock: "Mein Vater hat es völlig verleugnet, hat das völlig verschwiegen, hat erst auf seinem Totenbett mit mir gesprochen, aber auch nicht im Detail, auch nicht alles, was ich wissen wollte. Meine Mutter hat ein paar Details herausgegeben, aber auch nicht alles, was ich wissen wollte, weil sie fürchterliche Angst hatte, dass ich davon Gebrauch machen würde. Dass das rauskommt, dass wir eine jüdische Familie waren. Mein Vater wollte das auf keinen Fall."

Als Schüler stellte er erste, eigene Nachforschungen an. Heimlich ging er in die Synagoge, knüpfte er Kontakte zu Verwandten in Israel, machte sich auf die Suche nach seiner Identität. Der Vater habe sie ihm genommen, sagt Michael Mamlock. Akzeptieren konnte er das nicht, nie. Irgendwann, nachdem die Stadt nicht mehr geteilt war, rief er im Centrum Judaicum an.

Schütz: "Über Jahrzehnte hat man darüber nicht gesprochen, hat man in den Familien nicht darüber gesprochen, weil es auch immer das Gefühl war, warum habe ich überlebt und nicht die anderen. Diese ganzen Fragen ..."

Die Gartenstraße in Berlin Mitte, ein paar Galerien, ein muffiger Antiquitätenladen, auf halbem Wege zwischen Invalidenstraße und Torstraße ein altes Schwimmbad, die erste Volksbadeanstalt der Stadt. Junge Mütter in flatternden Blusen schieben Einkäufe, die in bunten Tüten am Fahrradlenker baumeln, daran vorbei.

Ein Nachmittag im Oktober 1941. Es wird langsam kalt Berlin. Mamlocks Vater ist mit seinen Eltern bei Verwandten in der Gartenstraße zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Sie kommen mit der S-Bahn in den Osten, dann noch eine Station mit der Straßenbahn. Die Straßenbahn verpassen sie, warten also auf die nächste. Nur noch ein paar Schritte die Gartenstraße hinunter, dann steigen sie die Treppe im Mietshaus hinauf.

Mamlock: "Dann holten sie die Nachbarn rein und sagten: Um Gottes Willen, kommen sie bloß rein. Es stellte sich heraus, dass die Geschwister eine Viertelstunde früher abgeholt wurden und nach Lietzmann-Stadt deportiert wurden. Das habe ich alles recherchiert und weiß heute ganze genau Bescheid über die Schicksalswege. Und sie mussten dann eine Woche in der Wohnung der Nachbarn bleiben, weil die Gestapo das so machte, dass die vor die Tür der Leute, die sie abgeholt haben, noch Gestapo-Leute gestellt haben, um zu sehen, ob da jüdische Verwandte kommen. Die haben sie dann auch gleich mitgenommen."

Michael Mamlock wälzt Gedenkbücher, Adressbücher und alte Handelsregister. Sie berichten ihm, dass seine Familie bis Ende der 30er-Jahre einen Heringsgroßhandel in der Elsässerstraße 91 betrieb. Heute heißt die Elsässerstraße, die zum Rosenthaler Platz führte, Torstraße.

Am frühen Abend drängen sich dort Autokolonnen raupenartig die vierspurige Großstadtstraße entlang. Die Bürgersteige rechts und links sind an vielen Stellen aufgerissen. Sanierungsmaßnahmen. Heringe sind hier nur noch in Gläsern im Supermarkt zu bekommen.

Mamlock recherchiert, wann das Geschäft seiner Vorfahren arisiert wird. Chana Schütz und Hermann Simon sagen ihm, wo er die Informationen finden kann, sie stellen den Kontakt zu den einschlägigen Archiven auch in Osteuropa her.

Die Suche nach der Vergangenheit treibt ihn an, wird ihn weiter treiben. Michael Mamlock hat nie eine eigene Familie gegründet. Ein großer Teil von ihm lebt in der Vergangenheit. Immer noch gibt es Puzzelteile, die fehlen.

Mamlock: "Ich werde im Jetzt sicherlich nur leben, wenn ich diesen Prozess abgeschlossen habe. Da liegt eine Tragik. Der Satz, wenn ich nicht weiß, wo ich herkomme und mit wem, dann weiß ich auch nicht wo ich hingehöre, da ist schon was Wahres dran."

Lebensdaten, Wohnorte, Schicksalswege. Enden zusammenbringen.

Schütz: "Ich denke mir, jeder dieser kleinen Bausteine kann helfen zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Diese einzelnen Schritte machen ja erst in ihrer Masse das Unheil."

Berlin, Mai 2009. Es ist noch nicht so lange her.