Heil'ge deutsche Kunst?

Von Jürgen Kesting · 24.07.2007
"Kinder, schafft Neues!", rief Richard Wagner. Neues gibt es auch in diesem Jahr nicht in Bayreuth, wohl aber eine Neue. Ein Kind von 30 Jahren debütiert als Regisseurin, Katharina Wagner, die Urenkelin. Nicht nur die großen Magazine, sonst des Interesses am Kulturleben nicht verdächtig, haben sie zum Interview gestellt, sondern auch die Fachmagazine. Die führenden Tageszeitungen wurden flächendeckend mit Einladungen versorgt und, ein Bruch der Tradition, zu den Proben zugelassen.
Unter dem Gesichtspunkt des Festspiel-Marketings ist dies ebenso unabdingbar wie Fotosessions, bei denen Katharina wie Deutschlands nächstes Top-Modell posiert. Ob die Berichte über das Großereignis einer Probe irgendwelchen Informationswert haben, gilt offenbar als nicht mehr relevant. Aber schön zu wissen, dass sie ihre Regieanweisungen mit tiefer Bardamenstimme erteilt.
Natürlich wurde ihr die eine, die einzige, die entscheidende Frage gestellt: was sie an den "Meistersingern" interessiere. Sie war, wie nicht anders zu erwarten, gut vorbereitet, wollte aber "im voraus nicht allzu viel erzählen". Dem Magazin "Operwelt" hat sie erklärt, dass sie das Werk "ideologiekritisch lese. ... Wie verhalten sich Innovation und Tradition? Und wie steht beides zur Gesellschaft? Was soll und kann ein Künstler dabei erreichen?" Der "Stern" hat von ihr erfahren: "Ich sehe das Stück vor allem als einen Diskurs über Kunst: Wie verhält sich Tradition zu Innovation, wie der Künstler zur Gesellschaft?" Auf die Frage, wie sie mit der heikelsten Stelle umgehe, dem deutschtümelnden Monolog des Hans Sachs, antwortete sie: "An einem historisch aufgeladenen Ort muss man das besonders sorgfältig thematisieren, aber wie ich es löse, das möchte ich jetzt noch nicht verraten."
Ob nach der Premiere ihre Lösung jener heiklen Stelle diskutiert wird? Es ist eine Passage aus der Ansprache des Sachs auf der Festwiese. Sie richtet sich an den Ritter Walther von Stolzing, den Sieger des Wettgesangs um Eva, der es "mit schmerzlicher Heftigkeit" abgelehnt hat, in die Gilde der Meister aufgenommen zu werden: "Nicht Meister, nein, will ohne Meister selig sein". "Verachtet mir die Meister nicht", erwidert Sachs, "und ehrt mir ihre Kunst." Und dann weitet er den Monolog in eine politische Predigt:

"Habt acht! Uns dräuen üble Streich'; zerfällt erst deutsches Volk und Reich,
in falscher welscher Majestät/kein Fürst bald mehr sein Volk versteht,
und welschen Dunst mit welschem Tand/sie pflanzen uns ins deutsche Land;
was deutsch und echt wüßt' keiner mehr,/ lebt's nicht in deutscher Meister Ehr'."

Diese gehört zu den Stammzellen der Geschichte deutscher Ideologie. Als die Festspiele sechs Jahre nach dem Ersten Weltkrieg wiedereröffnet wurden, erhob sich das Publikum während der Ansprache und stimmte anschließend das Deutschlandlied an - der Gesang auf die "heil'ge deutsche Kunst" war Chiffre für den gärenden Zorn über die Verträge von Versailles. Ein Jahr später bat Siegfried Wagner das Publikum mit einem Sachs-Zitat von patriotischen Bekundungen Abstand zu nehmen: "Hier gilt's der Kunst."
1935 stand Hans Sachs bei einer Berliner Inszenierung, die auch beim Reichsparteitag in Nürnberg gezeigt wurde, inmitten eines Fahnenspaliers. Bei einer Bayreuther Aufführung anno 1943 - nach der verheerenden Niederlage in Stalingrad - saßen insgesamt 30.000 Kriegsarbeiter und deutsche Soldaten, körperlich verwundet, seelisch erschöpft, im Auditorium, während Mitglieder der SS auf der Bühne aufmarschierten - und es gibt keine Aufnahme, in der das Streicher-Tremolo unter Sachsens Mahnung "Habt acht" so dräuend gedehnt wird wie unter Wilhelm Furtwängler.

Dass Wieland Wagner in seiner Inszenierung von 1956 ein Nürnberg ohne Butzenscheiben auf die Bühne stellte, löste brüllende Proteste der Wagner-Fundamentalisten aus. Auch seine zweite Inszenierung von 1963 - eine Parodie auf den Klüngel der Meistersingerzunft und auf die Festwiese als Spießer-Erbauung - entfachte hitzige Diskussionen.
Ein Blick in die Rezeptionsgeschichte zeigt, dass Schriftsteller, Musiker und Intellektuelle sich damals leidenschaftlich an der Diskussion über Wagner beteiligten. Die Reaktionen auf diese quälend ambivalente Meistersinger-Ideologie spiegelten den Zeitgeist, das politische Bewusstsein wieder.

Dem heutigen Publikum sind diese Diskussionen über das heilige Narrenhaus auf dem Grünen Hügel offenbar nur noch lästig. Als Peter Konwitschny vor wenigen Jahren in Hamburg die Ansprache des Sachs von den anderen Meistern unterbrechen und kritisieren ließ, wurde er vom Publikum als Oberlehrer angegriffen. Man will diesen ganzen Geschichtsballast am liebsten los werden.

Das Ereignis - das ist nicht länger das Werk, sondern die Personality-Show der neuen Prinzipalin, die jetzt schon weiß, dass sie nach der Premiere gnadenlos ausgebuht werden wird. Wen interessiert da noch, warum sie ausgebuht wird, oder wen interessiert die heil'ge deutsche Kunst?

Jürgen Kesting, einer der renommiertesten deutschen Musik-Kenner und -Autoren, wurde 1940 in Duisburg geboren. Nach dem Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie arbeitete er zunächst für Schallplattenfirmen, wechselte dann aber in den Journalismus. Er schreibt unter anderem für den STERN und die FAZ. Außerdem publiziert er regelmäßig in Fachblättern wie OPERNWELT und MUSIK UND THEATER. Zu seinen wichtigsten Büchern zählt das dreibändige Standard-Werk "Die großen Sänger". Viel Beachtung fanden auch seine Biographie/Monographie über Maria Callas und sein Essay über Luciano Pavarotti.