Hashtag Kriegsende

Geschichtsstunde per Twitter

Smartphone-Display mit den App-Logos verschiedener Social Media Plattformen
Geschichtsvermittlung durch Social Media - das versuchen die Historiker von "Digitalpast". © picture alliance / dpa / Jens Büttner
Von Christoph Ohrem · 06.05.2015
Historische Meldungen als Tweets - ein Weg, um Geschichte lebendig zu halten und Digital Natives zu begeistern? Ja, meint das Historikerkollektiv "Digitalpast" und twittert zum Kriegsende vor 70 Jahren "digitale Stolpersteine".
"@digitalpast 30. April: Eva Hitler nimmt Gift, Adolf Hitler erschießt sich."
Dieser Tweet wurde am 30. April 238 Mal retweetet. Damit ist er der erfolgreichste der Twitter-Aktion des Historikerkollektivs digitalpast, das sich unter dem Titel "Heute vor 70 Jahren" mit den letzten Kriegsmonaten auseinandersetzt.
12.000 folgen den Meldungen über die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs
Unter dem Namen digitalpast versammeln sich eine Handvoll junger Historiker mit großer Netzaffinität. Sie arbeiten zusammen an Ideen, wie Geschichtsvermittlung in dem sozialen Netzwerk Twitter funktionieren kann. Moritz Hoffmann ist Mitinitiator von digitalpast.
"Das Entscheidende ist, dass wir ein Echtzeitmedium haben. Das heißt, wir erzählen nicht einen Film, in dem mehrere Wochen oder Monate in 90 Minuten erzählt werden müssen, sondern wir sind einfach die ganze Zeit da. Tag und Nacht. Wir können damit sehr gut eine gewisse zeitliche Intensität von Ereignissen abbilden, weil dann halt manchmal mehrere Tweets in einer Minute erscheinen, während es an einigen Tagen nur vier, fünf Tweets am ganzen Tag waren."
In ihrem aktuellen Projekt twittern digitalpast seit Anfang Januar auf ihrem Account mit etwa 12.000 Followern über die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs. Kurze Meldungen, Bilder, längere aufeinander aufbauende Abfolgen von Tweets. Solche intensiveren Twitter-Phasen nennen sie Ereignisinseln. Etwa die Hinrichtung von Kriegsgefangenen.
"@digitalpast 13. April:
- Die Häftlinge in den Stallungen der Reitschule in Gardelegen werden zur Scheune geführt.
- Die Wachmänner schießen auf die Toröffnung der Scheune, um eine Flucht zu verhindern.
- Die Leichen der Flüchtenden versperren den Weg für die Häftlinge in der Scheune. Die meisten sterben."
Jeder Tweet ist durch Quellen belegt. Diese werden separat publiziert.
Geschichtsstunde für "Digital Natives"
Natürlich schielt man damit für die Geschichtsvermittlung auf eine neue Zielgruppe – die der vornehmlich jüngeren Twitter-Nutzer.
Durch die lange Dauer des Projekts, etwa ein halbes Jahr, werden neben bekannten Ereignissen auch der Öffentlichkeit weniger bekannte getwittert.
"Das Medium an sich führt gerade dazu, dass zwischen 11.000 und 12.000 Menschen sich mit dieser Geschichte beschäftigen. Oft auch an neue Erkenntnisse gelangen. Sehr viele Endphase-Verbrechen. Das sind Sachen, die vielen Menschen nicht bewusst sind."
Natürlich werden auch bekannte Ereignisse getwittert.
"@digitalpast 13. Februar: Bomber Group der Royal Air Force werfen die ersten Bomben über Dresden ab."
Doch das Medium hat auch Tücken: Als die jungen Historiker zum Bombenangriff auf Dresden twitterten, retweeten eindeutig rechtsradikal orientierte Twitternutzer selektiv. Sie versuchten mit den Geschichtstweets von digitalpast ihren revisonistischen Opfermythos zu bestätigen. Oder polemisierten mit ihren Antworten unter den Tweets von digitalpast.
"Diese Leute haben wir erst einmal blockiert, sodass sie unter unseren Antworten nicht mehr erscheinen, dass wir überhaupt nicht mit ihnen verbunden sind. Aber wir waren an diesem Abend dann auch zu dritt online und konnten den Leuten dann erklären, was der Kontext ist."
Digitale Stolpersteine via Twitter
Die Gefahr der Geschichtsklitterung sieht bei solchen Projekten Prof. Jan Hodel vom Netzwerk hist.net. Er beschäftigt sich in seiner Arbeit mit neuen Formaten der Geschichtsvermittlung:
"Ganz konkret wird wahrscheinlich der Erfolg einer solchen Geschichtsvermittlung über Twitter daran zu messen sein, wie es gelingt, diese doch eher kurzformatigen Tweets mit einem Anspruch von narrativer Konsistenz, also mit einem Zusammenhang, einem erzählerischen roten Faden in Verbindung zu bringen. Also der Gefahr entgegenzuwirken, da so einzelne Fetzen durch die Kanäle zu schicken, die dann so ein bisschen vor sich hin wirken, oder vor sich hin erzählen als narrative Fragmente."
Die Kontextualisierung, die auf Twitter nicht möglich ist, leistet digitalpast mit einer Darstellung in Buchform. Als crossmediale Ergänzung. Ganz ohne diese Einordnung, sei es in Buchform oder als Blog, scheitert das Projekt. Dazu sind die Möglichkeiten von Twitter, Kontexte herzustellen, zu beschränkt.
Die Tweets in der Timeline funktionieren mehr wie digitale Stolpersteine, die immer wieder auf das Thema aufmerksam machen. "Heute vor 70 Jahren" ist trotz dieser Einschränkungen ein gelungenes Experiment.
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