Harvard-Ökonom: US-Mittelschicht steht immer mehr unter Druck

Hans-Helmut Kotz im Gespräch mit Jörg Degenhardt · 05.11.2012
Das Einkommen der US-Mittelschicht habe real gerechnet seit Mitte der 70er-Jahre nicht mehr zugenommen, sagt der Harvard-Ökonom Hans-Helmut Kotz. Besonders die Gefahr des sozialen Abrutschens sei für viele Amerikaner wesentlich präsenter als für Nordeuropäer.
Jörg Degenhardt: Reiches Land, armes Land – morgen wird dort drüben ein neuer Präsident gewählt, es könnte auch der alte sein. Egal, wer es wird – anzupacken gibt es zu Genüge. Die Zahl der Menschen, die auf Hilfe vom Staat angewiesen sind, ist auch unter Obama nicht kleiner geworden. Im Gegenteil: Fast 47 Millionen Amerikanern geht das so. Dazu kommt die Sorge von Teilen der Mittelschicht – US-Wahl: Wie geht es dem Mittelstand (MP3-Audio) wir haben es gerade im Beitrag gehört –, womöglich selbst auf staatliche Almosen angewiesen zu sein. Woher kommt diese Bedürftigkeit, wie kann dieser Zustand geändert werden, und durch wen? Professor Hans-Helmut Kotz unterrichtet Volkswirtschaftslehre an der renommierten US-Universität Harvard und in Freiburg. Zudem arbeitet er in Frankfurt am Center for Financial Studies. Ich habe ihn gefragt, warum so viele Menschen Hilfe brauchen – das sind doch nicht alles Leistungsverweigerer?


Hans-Helmut Kotz: Der Hintergrund ist natürlich der enorme Einbruch der amerikanischen Wirtschaft im Nachgang zur Finanzkrise. Da sind in enormem Umfange Arbeitsplätze verloren gegangen, mehr als acht Millionen, und es hat sehr lange gedauert, ehe es zu einer Trendwende gekommen ist. Das Sozialsystem hier ist nicht darauf eingestellt, dass Menschen länger arbeitslos sind. Tatsächlich war früher die langfristige Arbeitslosigkeit, also alles das, was jenseits von sechs Monaten Arbeitslosigkeit war, in einem Bereich von 25 Prozent der Arbeitslosen. Im Tiefgang der Krise ist dies bis auf 45 Prozent hochgeschossen. Und heute haben wir noch immer über 45 Prozent der Arbeitslosen, die langzeitarbeitslos sind und relativ wenig Unterstützung im Sinne von Arbeitslosengeld bekommen.

Degenhardt: Auf der anderen Seite haben wir die 400 reichsten Amerikaner, die haben zusammen, habe ich gelesen, ein Vermögen von 1,7 Billionen Dollar. Das ist ein Plus von 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das heißt, die Einkommensschere in den USA ist heute größer als in Schwellenländern wie Ägypten. Lässt sich diese Entwicklung überhaupt noch zurückdrehen?

Kotz: Die Einkommensschere ist tatsächlich seit Mitte der 70er-Jahre deutlich angestiegen. Das haben auch vor allen Dingen Forschungen von Tony Atkinson und Emanuel Saez und anderen gezeigt. In den letzten Jahren gab es dann noch mal einen zusätzlichen Auftrieb. Der ist auch deutlich höher, als das in anderen OECD-Ländern der Fall ist. Das ist jetzt zunächst einmal nur die Situation der Fakten. Die Frage ist, woher kommt das? Es könnte daran liegen, dass die Intensität des Wettbewerbs insbesondere mit Schwellenländern zugenommen hat. Es könnte daran liegen, dass die Anforderungen an die Arbeitsplätze im Sinne von Ausbildung deutlich angestiegen sind. Es könnte aber auch daran liegen, dass man politische Vorgaben gemacht hat, die in eine Richtung gegangen sind, die eben die Bevorteilung der höheren Einkommensschichten deutlich verstärkt hat. Und tatsächlich zeigen die Zahlen, dass der Anteil derjenigen, die mit den höchsten Einkommen, deren Einkommenszuwachs weit höher ist als in allen anderen OECD-Ländern. Und das ist deswegen auch ein ganz zentrales Problem in den USA. Die Diskussion nicht so sehr über die sehr hohen Einkommen, sondern vor allen Dingen darüber, dass der amerikanische Traum, nämlich die Mittelschicht, sich am aushöhlen ist. Die sind unter immer mehr Druck, das mittlere Einkommen hat de facto seit Mitte der 70er-Jahre real gerechnet nicht mehr zugenommen.

Degenhardt: Das haben wir ja auch vorhin in dem Beitrag gehört. Das heißt, die Sorge im Mittelstand ist durchaus berechtigt, dass man früher oder später auch in die Gruppe rutscht, die auf staatliche Hilfe angewiesen ist?

Kotz: Die Gefahr des Abrutschens ist eine ganz andere als die, wie wir sie in Nordeuropa kennen. Ein Riesenthema ist hier zum Beispiel in diesem Zusammenhang die Gesundheitsversicherung. Da hat die jetzige Administration etwas umgesetzt, was wie in Europa als quasi normal ansehen, nämlich eine Versicherung von möglichst vielen. Hier sind im Moment 47 Millionen von 300 Millionen Amerikanern nicht krankenversichert. Und fast das Doppelte, mehr als 90 Millionen, sind nicht nachhaltig krankenversichert. Mit anderen Worten: Sofern jemand ernsthaft krank wird, nachhaltig krank wird, fällt er sehr schnell in eine Situation hinein, die nicht mehr tragbar ist, die nicht mehr durchhaltbar ist.

Degenhardt: Aber was folgt denn nun aus diesen Zustandsbeschreibungen, die wir bisher geliefert haben. Braucht zum Beispiel, um es konkret zu machen, Amerika nun mehr Staat oder eher weniger, wie es einer der beiden Kandidaten propagiert?

Kotz: Das ist genau richtig, wie Sie es sagen. Man muss zunächst die Zahlen, die Fakten wahrnehmen, und darauf bezogen dann, auf die Diagnose bezogen, dann Lösungsvorschläge entwickeln. Und die sind tatsächlich geteilt. Sehr geteilt. Der aktuelle Präsident hat vor, ein größeres soziales Sicherungssystem einzuziehen, er hat vor, die Steuern auf die sehr Wohlhabenden zu erhöhen und will insbesondere die Wirtschaft in Gang bringen. Und das andere Programm läuft darauf hinaus, dass man mehr Anreize für Unternehmen setzt, dass man auf höhere Eigenverantwortung setzt, dass man die Steuern reduziert. Dass man also über Anreize die Wirtschaft wieder in Gang bekommt. Also das sind sehr, sehr unterschiedliche Programme.

Degenhardt: Das werden wir sicherlich noch die nächsten Tage ausführlicher besprechen können. Ich bitte um Verständnis, dass wir nicht ganz so viel Zeit haben, denn ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Ich glaube, den Börsen dieser Welt dürfte es ziemlich egal sein, wer das Rennen macht am Dienstag, Romney oder Obama, entscheidend sind wohl die Mehrheitsverhältnisse in Repräsentantenhaus und Senat. Wenn die Blockadepolitik der beiden Lager da weitergeht, etwas beim Schuldenabbau zum Beispiel, was würde das aus Ihrer Sicht, Herr Kotz, für die Wirtschaft in den USA und auch den Rest der Welt bedeuten?

Kotz: Die Finanzmärkte sind nicht zynisch. Denen ist nicht egal, ob die Wirtschaft funktioniert oder nicht funktioniert.

Degenhardt: Aber ihnen ist egal, wer regiert, ob Romney oder Obama.

Kotz: Ihnen ist im Zweifel natürlich egal, wer regiert. Für sie ist aber wichtig, dass da etwas an höherer Sicherheit hineinkommt. Wir hatten zweimal jetzt diese "Game of chicken" gehabt, der letzte ist jetzt diese Situation der fiskalischen Klippe. Wenn die genommen wird, dann droht hier, weil die Wirtschaft schwach ist, tatsächlich wieder ein Abtauchen in die Rezession hinein. Es ist die Frage, unter welcher Konstellation dieses Spiel besser gelöst wird – ich vermag da keine Antwort zu geben.

Degenhardt: Es bleibt spannend. Wir schauen auf den Tag morgen und auf die Abstimmung. Vielen Dank für das Gespräch! Das war der Harvard-Ökonom Professor Hans-Helmut Kotz. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag!

Kotz: Danke Ihnen!

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