Hartz-Reform-Praxis hat "gravierende Mängel"

Klaus Dörre im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 22.02.2012
Nach Ansicht des Soziologen Klaus Dörre von der Universität Jena haben die Hartz-Reformen den Arbeitsmarkt gespalten. Deutschland habe den am stärksten expandierenden Niedriglohnsektor in Europa, sagte Dörre anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Hartz-Kommission.
Jan-Christoph Kitzler: Eins kann man der rot-grünen Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder sicher nicht vorwerfen: Dass sie keinen Mut gehabt hat für unbequeme Entscheidungen. Diese Regierung wird in den Geschichtsbüchern mit Reformen verbunden, die unser Land umgekrempelt haben, mit den sogenannten Hartz-Reformen wurde der Arbeitsmarkt grundlegend reformiert. Dafür hat vor allem die SPD einen hohen Preis bezahlt und eine Wahlniederlage nach der anderen kassiert. 2005 strich Rot-Grün vorzeitig die Segel, manche sagen, die SPD hat sich bis heute nicht davon erholt. Und vor allem die Grundsicherung Hartz IV ist für viele in unserer Gesellschaft seitdem immer noch ein rotes Tuch.

Heute vor genau zehn Jahren nahm alles seinen Anfang, heute vor zehn Jahren, am 22. Februar 2002 wurde die Kommission eingesetzt, die die Arbeitsmarktreformen ausgearbeitet hat unter dem Vorsitz des früheren VW-Managers Peter Hartz. Ich bin jetzt verbunden mit Klaus Dörre, Professor für Soziologie an der Universität Jena, schönen guten Morgen!

Klaus Dörre: Guten Morgen!

Kitzler: Ich habe das eben so locker gesagt, die Hartz-Reformen haben unser Land umgekrempelt. Wie sehr hat das Deutschland denn wirklich verändert?

Dörre: Also, ich kann Ihnen da vollständig zustimmen. Das waren sehr einschneidende Reformen. Ich würde mal sagen, sie sind in gewisser Weise erfolgreich gescheitert. Sie haben längst nicht alle Ziele erreicht, obwohl wir die Erfolgsbilanzen präsentiert bekommen jetzt diese Tage. Aber man muss wirklich sagen, dass das Modell des sozialen Kapitalismus, das Deutschland mal ausgezeichnet hat, mit relativ moderaten sozialen Ungleichheiten, mit einer enormen sozialen Kohäsion im Inneren, dass das doch sehr erfolgreich zerstört worden ist.

Kitzler: Ein Grundsatz dieser Reform, der damals für viele einleuchtend war, hieß ja: Fordern und Fördern. Ist das nicht eingehalten worden?

Dörre: Also, vom Grundsatz her ist das alles sehr schön. Aber man muss sehr klar sehen: Trotz der Erfolgsbilanz – wir haben sinkende Arbeitslosenzahlen, wir haben auch sinkende Zahlen von Langzeitarbeitslosen – gibt es doch bei der Praktizierung der Reformen gravierende Mängel. Das betrifft gerade dieses Prinzip Fordern und Fördern. Die Forderungen an die Arbeitslosen, die sind sehr hoch.

Aber beim Fördern, da stellen wir doch gerade mit Blick auf die sogenannten Problemgruppen, also diejenigen, die in der Sprache der Reform starke Einschränkungen ihrer Beschäftigungsfähigkeit haben, da stellen wir doch fest, dass es so was gibt, was man in der Fachsprache halt Creaming-Effekt nennt. Das heißt, man konzentriert sich auf die Arbeitslosen, die relativ leicht vermittelbar sind, und die anderen – gerade etwa Menschen mit Menschen mit Behinderung –, die fallen in diesem Regime doch sehr stark hinten runter.

Kitzler: Aber so schlecht kann es um die Förderung ja dann doch nicht bestellt sein: Die Bundesagentur für Arbeit hat gerade wieder Zahlen veröffentlicht, 4,5 Millionen Erwerbsfähige bekommen die Grundsicherung Hartz IV. Das sind so wenige wie seit Einführung der Reform noch nie. Das ist doch ein Erfolg?

Dörre: Das könnte man auf der einen Seite sagen. Aber wenn Sie mal sehen, also, wenn man von den Arbeitslosenzahlen mal absieht, schaut sich die Unterbeschäftigung an, dann wird man erstens feststellen, dass die Unterbeschäftigung sehr viel höher ist als die offiziell registrierten Arbeitslosen. Das hängt schlicht damit zusammen, dass diejenigen, die in Maßnahmen sind, die einen Ein-Euro-Job haben oder Ähnliches, in der Arbeitslosenstatistik nicht mehr auftauchen. Auch solche Menschen, die gewissermaßen ein Lebensalter erreicht haben, dass sie kurz vor der Rente stehen, die tauchen alle in der Statistik nicht mehr auf. Ebenso die stille Reserve der nicht Anspruchsberechtigten.

Wenn man das einrechnen würde, wären wir immer noch deutlich über vier Millionen Menschen, die unterbeschäftigt sind, sehr deutlich drüber. Es kommt was anderes dazu und das ist der gravierendere Punkt: Die Hartz-Reformen haben dazu geführt, dass ein Sektor mit prekärer Beschäftigung im Niedriglohnbeschäftigung expandiert ist. Also das, was neu an Beschäftigung dazukommt, ist in erster Linie unsichere, prekäre, mindestens atypische Beschäftigung. Wir haben die größten Zuwächse bei befristeten Beschäftigungsverhältnissen und bei der Leiharbeit, wir haben inzwischen 20,7 Prozent der abhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor und dort sind die Nettostundenlöhne im untersten Zehntel der Lohnbezieher auf 3,86 Euro im Durchschnitt gesunken.

Also, es war ein sehr erfolgreiches Programm zur Minimierung der Kosten für die Arbeitgeber und zur Senkung der Löhne.

Kitzler: Also stimmt der Vorwurf, den man immer wieder liest, da wird ein neues Prekariat herangezüchtet?

Dörre: Also, ohne Hartz IV und ohne die Hartz-Gesetzgebung hätten wir diese Dynamik in Deutschland nicht. Wir haben den am stärksten expandierenden Niedriglohnsektor in Europa, wir haben innerhalb dieses Niedriglohnsektors enorme Spreizungen der Einkommen. Zum Teil fallen die Löhne bei den sogenannten Stuhlmietern im Frisiergewerbe, die erst mal dafür zahlen müssen, dass sie überhaupt einen Arbeitsplatz bekommen, auf zwei Euro die Stunde, die müssen dann sozusagen erst mal für ihren Arbeitsplatz bezahlen. Also, die haben Niedrigstlöhne in manchen Bereichen.

Und wir haben vor allen Dingen neue strategische Nutzungsformen von prekärer Beschäftigung. Die Tatsache, dass wir Leiharbeiter haben in Betrieben mit Anteilen von 30, 40 Prozent, die die gleiche Arbeit machen wie die Stammbeschäftigten, nur eben für deutlich weniger Lohn und de facto ohne Kündigungsschutz, das wäre ohne die Hartz-Gesetzgebung nicht möglich gewesen.

Kitzler: Wenn wir auf die Zukunft schauen, können wir uns dann nicht so langsam zurücklehnen, weil die Demografie das alles erledigen wird, weil die demografische Entwicklung schon bald dafür sorgen wird, dass jeder, der wirklich arbeiten will und der bereit ist, sich zu qualifizieren, auch Arbeit bekommt?

Dörre: Das wäre schön! Aber ich glaube, diese Rechnung, die ist ohne den Wirt gemacht. Aus zwei Gründen: Erstens können wir gegenwärtig überhaupt noch nicht absehen, dass es von aus ... , also von Teilarbeitsmärkten abgesehen, wirklich einen Fachkräftemangel gibt. Zweitens aber, und das ist der entscheidende Punkt, wird sich die Spaltung des Arbeitsmarktes wahrscheinlich in die Zukunft verlängern.

Das heißt, diejenigen, die relativ ungünstige Qualifikationen haben, die keine Schulabschlüsse haben, keine entsprechenden Bildungsabschlüsse, werden es in Zukunft noch schwerer haben, in Jobs zu kommen. Das heißt, wir könnten auf einen gespaltenen Arbeitsmarkt hinauslaufen, an dem die demografische Entwicklung erst mal gar nichts ändert.

Kitzler: Wir halten fest, die Hartz-Reformen haben unser Land verändert. Heute vor zehn Jahren wurde die Kommission eingesetzt, die die Reformen erarbeitet hat. Das war der Soziologe Klaus Dörre, Professor für Soziologie an der Universität Jena. Vielen Dank und einen schönen Tag!

Dörre: Ich danke auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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