"Hartz IV ist völlig gescheitert"

Ulrich Schneider im Gespräch mit Martin Steinhage · 14.05.2011
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, setzt sich seit mehr als zwei Jahrzehnten für das Millionenheer sozial Schwacher in unserer Gesellschaft ein. Schneiders Credo: Noch nie lebten in der Bundesrepublik so viele von so wenig Geld.
Martin Steinhage: Am Mikrophon begrüßt Sie Martin Steinhage. Mein Gast heute ist der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Dr. Ulrich Schneider. Guten Tag, Herr Schneider.

Ulrich Schneider: Schönen guten Tag.

Steinhage: Herr Schneider, Sie haben Erziehungswissenschaften studiert und in diesem Fach auch promoviert. Ihr großes Thema aber ist seit über zwei Jahrzehnten die Armut. Woher kommt dieses starke Engagement?

Schneider: Ich denke, durch meine berufliche Herkunft. Ich habe sehr früh am Sorgentelefon für Kinder und Jugendliche gearbeitet. Ich habe Spielplatzbetreuung gemacht in Vierteln, wo das Geld nicht so locker saß und wo auch gar nicht so viel war. Und schließlich habe ich dann "soziale Brennpunktarbeit", geleistet, wie man es früher nannte, sprich, ich habe mit Familien gearbeitet in einem Stadtteil, wo ausschließlich Zigeuner lebten. Ich war auch in dieser Zeit ehrenamtlich stellvertretender Vorsitzender des Vereins für Zigeuner und Landfahrer und hab dadurch meinen Bezug bekommen zur Armut. Und vor allen Dingen aber auch mein Herz dort entdeckt für die Kinder in diesen Familien und auch für die Eltern, die häufig auch sehr hilflos sind, die viel Vertretung brauchen, die viel Förderung brauchen, die einfach abgehängt waren. Und das hat sich irgendwie ein bisschen bei mir eingeprägt und hat dann mein weiteres berufliches Schaffen in der Tat ein bisschen mitbestimmt.

Steinhage: Apropos Kinder, Sie selbst sind ein Kind des Ruhrgebiets. Ich denke, man hört es auch, auch wenn Sie schon lange hier in Berlin arbeiten. Sie stammen, wie man so schön oder unschön sagt, aus "einfachen Verhältnissen". Kennen Sie Armut aus eigenem Erleben? Haben Sie selber persönlich unter Armut zu leiden gehabt?

Schneider: Eigentlich nicht, und zwar deshalb, weil wir zwar kein Geld hatten, und mit vier Leuten in zwei Zimmern und ner Küche zu wohnen, ist auch sicherlich sehr beengt, und mein Vater musste tagsüber als Bierfahrer arbeiten und am Anfang dann nachts noch mal als Mitarbeiter der Wach- und Schließgesellschaft, da floss nicht viel Geld. Aber – und deswegen, würde ich sagen, waren wir nicht arm – wir hatten zu jeder Zeit ungebrochenen Optimismus und waren uns sehr sicher, dass wir unseren Weg machen und dass wir eine Perspektive haben. Ich denke, solange Menschen wirklich ganz ernsthaft und ganz konkret Perspektiven haben, sind sie auch bei wenig Geld nicht arm.

Steinhage: Darüber wird noch zu reden sein. Zuerst etwas anderes: In Ihrem jüngsten Buch "Armes Deutschland" verwenden Sie an einer Stelle den Begriff "Armutslobby". Da war ich etwas drüber gestolpert. Sind Sie sozusagen der Oberlobbyist der Armen?

Schneider: Ja - eigentlich, wenn Sie mich so fragen. Ich denke, nicht nur ich, es ist der Verband, für den ich arbeite, der Paritätische Wohlfahrtsverband. Aber dieser Verband hat natürlich auch mit meiner Hilfe als Hauptgeschäftsführer und mit den vielen Kollegen, die da sind, Armut zu seinem Thema gemacht, weil wir der Ansicht sind: Egal, ob es um Pflege geht, ob es um Migranten geht, ob es um Kinder geht, um Bildungsfragen geht, es ist letztlich immer das Problem von Ausgrenzung, von Chancengleichheit, was behandelt werden muss, wenn man diese Gesellschaft insgesamt bewegen will.

Steinhage: Womit wir mitten im Thema sind. Im Folgenden bitte keine wissenschaftliche Definition, sondern einfach ausgedrückt: Was heißt Armut? Was bedeutet Armsein in Deutschland?

Schneider: Abgehängt zu sein, nicht mehr mitmachen zu können, zu sehen, wie die anderen sich in ihrem Lebensstil, in ihren Chancen, in dem, was sie tun, immer weiter von einem entfernen, und zwar ganz konkret. Man kann nicht mehr in den Sportverein, weil das Geld nicht mehr da ist. Man kann nicht mehr bei Hertha BSC oder im Ruhrgebiet bei Borussia Dortmund oder Schalke nicht mehr in die Fan-Kurve gehen, weil das Geld nicht mehr da ist. Aber alle anderen gehen weiter hin - also wirklich abgehängt zu sein und dann im Zweifelsfall auch zu bemerken: Mensch, das ist nicht nur ne Sache von zwei, drei Monaten, sondern ich fasse irgendwie nicht mehr Tritt. Wenn dies alles zusammenkommt und wirklich Existenzängste da sind, wenn die eine Rolle spielen, dann haben wir es auch in diesem reichen Land mit Armut zu tun.

Steinhage: Sie benutzen öfter auch den Begriff der "versteckten Armut". Was verbirgt sich dahinter?

Schneider: Na ja, Armut sieht man heute nicht mehr so. Es muss keiner verhungern, das ist auch gut so. Und die Grundbedürfnisse Wohnen und Kleidung sind eigentlich gestillt. Und viele Arme tun wirklich alles, um nicht aufzufallen in ihrer Armut. Wir wissen von Arbeitslosen, vor allen Dingen Männern, die trotz Arbeitslosigkeit jeden Morgen das Haus verlassen, die ihre Arbeitslosigkeit selbst vor ihrer eigenen Familie verstecken. Wir wissen von Familien, die wirklich keinen Euro mehr haben, aber mit Schulden und Ratengeschäften versuchen, eine Fassade aufrecht zu erhalten. Armut ist heute nicht mehr so leicht zu sehen, man muss schon sehr genau hinschauen, aber sie ist da und irgendwann bricht's dann heraus. Irgendwann brechen auch Bilder zusammen, die man mühsam aufrechterhalten hat. Dann steht man da und ist abgehängt und kann nicht mehr mithalten. Und dann bricht die Armut raus und dann kann man sie auch nicht mehr verstecken.

Steinhage: Welche Gruppen der Gesellschaft sind besonders stark von Armut betroffen?

Schneider: Wir leben in einer Arbeitsgesellschaft. Das heißt, wenn man nicht das Glück hat, schön zu erben, viel zu erben, wenn man nicht das Glück hat, im Lotto zu gewinnen oder sonst irgendwie ohne Anstrengung an sein Geld zu kommen, dann muss es in der Regel erarbeitet werden. Entsprechend sind natürlich die am stärksten von Armut betroffen, die über längere Zeit arbeitslos sind. Aber auch bei Familien stellen wir fest, drei und mehr Kinder, da wird’s eng. Da reicht es häufig nicht mehr, bei Alleinerziehenden ebenfalls. Das heißt, wenn man sich anschaut, wer ist vor allen Dingen von Armut betroffen: Das sind die, die auf dem Arbeitsmarkt schwer Fuß fassen können, die also meist auch schlechte Bildung mitbringen.

Steinhage: Migranten, Ausländer.

Schneider: Migranten, das sind ja meist die mit den schlechten Bildungsabschlüssen, oder die auch Sprachdefizite haben. Und natürlich auch die, die auch von dem unzureichenden Familienlastenausgleich letztlich abgehängt werden; sprich Alleinerziehende, Kinderreiche. Da reicht's dann nicht.

Steinhage: Da sind wir bei den Kindern. Ende vergangener Woche wurde bekannt, dass die Kinderarmut hierzulande nur – "nur" in Anführungszeichen gesprochen – halb so hoch ist, wie angenommen, 8,3 %, vorher war auch mal von 16,3 % die Rede. Haben wir da mit Blick auf die Kinder über Jahre eine Phantomdebatte geführt, Sie zum Beispiel?

Schneider: Nein. Was Sie ansprechen, sind die Zahlen des DIW. Die sind mit Vorsicht zu genießen. Mein Buch "Armes Deutschland" beschreit auch sehr genau die Fallstricke der Statistik, dass man sehr aufpassen muss. Im Grunde genommen können diese so genannten "relativen Armutsquoten", die Armut messen im Vergleich mit dem Durchschnittseinkommen, immer nur Trends angeben und ganz allgemeine Richtgrößen.

Steinhage: Arm ist, wer 60 % des Durchschnittseinkommens...

Schneider: Mal ist es unter 60, mal ist es unter 50, mal unter 40 Prozent, mal wird als Mittelwert der Durchschnitt genommen, wie wir ihn alle kennen. Mal werden Spezialmittelwerte genommen, wie der so genannte Modalwert oder Medianwert, damit brauchen wir uns jetzt nicht befassen. Aber wie ich rechne, es kommen immer völlig andere Ergebnisse raus. Es lässt sich wissenschaftlich – völlig seriös übrigens – jede Armutsquote zwischen 4 % und 25 % errechnen, wenn man denn will. Und das ist das Problem. Deswegen sind diese Zahlen in der Tat relativ. Man muss mit Vorsicht mit diesen Zahlen arbeiten. Deswegen haben wir als Verband und ich persönlich auch uns immer nur gestützt auf wirklich amtliche Statistiken. Das heißt, wir haben geschaut, wie viel Kinder sind in der Sozialhilfe, wie viel Kinder sind im Hartz-IV-Bezug, müssen also von einem Einkommen leben, von dem wir definitiv wissen, damit ist kein Auskommen. Damit hat man keine Chance. Und das sind nun mal heute rund zwei Millionen Minderjährige, die davon leben müssen. Und da kann man rechnen, wie man will. Diese Zahl bleibt eine fest, sichere. Das sind über 10 % der Jugendlichen in Deutschland. Das ist viel.

Steinhage: Armutsrisiko Hartz IV: Bedeutet eigentlich Hartz IV nach Ihren Begriffen in jedem Fall Armut?

Schneider: Ja. Ja, so, wie wir das wahrnehmen, auf jeden Fall. Wir müssen sehen, da fallen Leute plötzlich auf ein denkbar geringes Einkommen, sollen mit Sätzen zwischen rund 220 bis 280 Euro ihre Kinder über die Bühne bringen.

Steinhage: Und selbst haben sie 364 Euro, und die Kosten der Unterkunft.

Schneider: Selbst haben Sie 364 Euro. Und die Wohnkosten kommen dazu, die Energiekosten, die man hat, kommen dazu – nicht immer alles, aber der größte Teil wird übernommen. Das heißt im Klartext, man muss wirklich auf äußerster Sparflamme zurechtkommen. Das heißt: Wer in Hartz IV fällt, der kann erstmal sein Kind etwa vom Sportverein abmelden. Da hilft auch der Gutschein von 10 Euro nicht weiter. Wir wissen, damit ist gerade mal der Beitrag finanziert, aber nicht der Ausflug, nicht das Trikot, nicht die Fußballschuhe und was man braucht. Musikunterricht ist gar nicht mehr drin. Da reichen auch nicht diese zehn Euro jetzt von der Frau von der Leyen. Wir wissen, Musikunterricht im Monat muss man schon mal ansetzen zwischen 50 und 100 Euro. Darunter spielt sich da wenig ab, also, heißt es auch hier abmelden. Wenn die Clique samstags anklingelt und sagt, wir wollen alle zum Bowling gehen, weil ein Geburtstag liegt an, dann sucht man Ausreden, warum es nicht geht. Allein, wenn man sich Schule anschaut, was hier an Zusatzkosten anfällt für Theater, Ausflüge, die dann passieren in irgendwelchem Unterricht, die alle nicht übernommen werden, auch nicht vom Bildungspaket, dann heißt das im Klartext, eine Einschränkung muss vorgenommen werden, die fast bis zur Isolation geht. Das ist sicherlich Armut.
Und wenn wir dann weiter sehen, dass Hartz IV ja kein Sprungbrett ist, als das es verkauft wurde. Das heißt, man fällt da rein und ist nach ein paar Monaten wieder draußen, dann würde ich auch sagen, dann ist das keine Armut, dann ist das eigentlich überhaupt kein Problem, dann ist das eine kurze Lebensepisode, wo man bisschen klamm war, aber Hartz IV heißt für die, die das beziehen, für die Hälfte, dass die länger als zwei Jahre bereits im Bezug sind. Es sind sogar mittlerweile, wenn man sich die Personen anschaut, die seit Anfang an drin sind: Jeder Vierte etwa ist im Hartz-IV-Bezug. Das heißt, für diese Personen bedeutet Hartz IV Perspektivlosigkeit. Und ein Kind im Alter von drei Jahren kriegt dann bis zur Einschulung, vielleicht auch noch länger nie mit, dass die Eltern mal Arbeit haben. Es bekommt unterdessen mit, wie immer mehr Frust greift, wie Depressionen einziehen, wie Menschen sich vielleicht auch aufgeben irgendwann. Und das prägt natürlich. Und deswegen heißt Hartz IV in der Lebenswirklichkeit, wenn wir all die Sonntagsreden vergessen, einfach Armut.

Steinhage: Ergo heißt das für Sie: Hartz IV ist gescheitert.

Schneider: Hartz IV ist völlig gescheitert. Hartz IV war ja ein Versprechen. Hartz IV hieß: Wir kürzen euch die Sozialleistungen, die Zuwendungen, die ihr bekommt. Wir fordern euch richtig.

Steinhage: Und wir fördern.

Schneider: Und wir fördern. Wir versprechen euch, dass wir euch vermitteln, dass wir euch wieder in den ersten Arbeitsmarkt rein integrieren, dass wir richtig was für euch tun. Das Fordern ist gekommen in allen Bereichen. Mit dem Fördern hat's gehapert. Es war nichts zu vermitteln.

Steinhage: Die Bundesagentur für Arbeit sagt, in 2010 wurden rund eine Million Menschen raus aus Hartz IV in Arbeit vermittelt. Stimmt das so nicht?

Schneider: Es ist richtig, aber die Bundesagentur sagt auch, dass der größte Teil von denen nach relativ kurzer Zeit wieder kommt. Das heißt, auch bei Hartz IV gibt es eine gewisse Fluktuation, das ist auch gut so, eine Rotation. Aber für den Großteil bedeutet Hartz IV nur eine kurzzeitige Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt, eine Beschäftigung, die häufig durch Aufstockung ergänzt werden muss, die befristet ist. Viele sind nach einem halben bis einem Jahr wieder zurück im Hartz-IV-Bezug. Wenn man sich die tatsächlichen Vermittlungsquoten über lange Jahre jetzt anschaut, muss man feststellen, dass es lediglich bei der Hälfte gelungen ist, sie aus Hartz IV raus zu vermitteln. Und von dieser Hälfte kam wiederum die Hälfte, also ein Viertel, wieder zurück.

Steinhage: Immerhin 1,6 Mrd. Euro will Frau von der Leyen für das so genannte Bildungspaket ausgeben. Wir haben das Thema ja schon kurz angeschnitten. Bildungspaket - für all die, die das vielleicht nicht so wissen - bedeutet Zuschüsse, unter anderem für ein warmes Mittagessen, Kita oder Schule, Extragelder für Nachhilfeunterricht oder Freizeitaktivitäten. Allerdings ist das Bildungspaket kein Renner. Das ist bekannt. Es ist eher ein Ladenhüter. Wie kann das eigentlich sein?

Schneider: Ja, nur weil Frau von der Leyen jetzt Zehn-Euro-Gutscheine ausgeben will, werden nicht alle wie verrückt Blockflöte spielen lernen wollen. Also, da ist ein bisschen zum Teil an der Lebenswirklichkeit vorbei geplant worden. Wir wissen von ähnlichen Programmen, etwa für Sportvereine, dass – selbst wenn man es kostenlos stellt für Hartz-IV-Bezieher, wenn man's beitragsfrei stellt – man dann vielleicht 20 Prozent der Kinder erreicht, die erreichbar wären. Eben deshalb, weil der Hartz-IV-Bezug nicht automatisch dazu führt, dass jemand ein Sportler werden will. Das Gleiche betrifft musische Erziehung. Nur, weil man in Hartz IV rein fällt, heißt das nicht, dass man plötzlich ein ungeheures Verlangen nach Klavier, Schlagzeug oder Gitarre bekommt. Das ist nicht der Fall. Das heißt, das Angebotsspektrum hätte man viel breiter fassen müssen. Man hätte wenigstens sich Gedanken machen müssen: Was heißt es denn, Kinder zu fördern? Und da muss man individuell schauen, was ein Kind braucht. Hier ist wieder sehr holzschnittartig verfahren worden. Das andere Problem ist, dass die Kosten nicht gedeckt sind. Also, zehn Euro für den Besuch eines Sportvereins, wir wissen alle, in den allermeisten Fällen reicht das nicht, weil der Sportverein hat nicht nur Beitrags-, sondern auch sonstige Kosten, die bewältigt werden müssen. Und wir wissen, zehn Euro für Musikunterricht reichen erst recht nicht. Und im Übrigen ist das Ganze wirklich ein bisschen zusammengeschnürt worden auf musische Erziehung und Sport. Und das reicht allemal nicht. Mit anderen Worten: Dieses Paket ist von vornherein falsch aufgesetzt worden. Davon sind wir überzeugt.

Steinhage: Wie hätte man es denn machen sollen? Wie hätten Sie ein Volumen von, greifen wir jetzt mal die 1,6 Mrd. Euro, sozusagen an die Kinder gebracht?

Schneider: Ganz anders. Wir hätten im Kinder- und Jugendhilfegesetz, das für alle Jugendlichen und Kinder da ist - nicht nur für Hartz-IV-Bezieher -, dort hätten wir einen Rechtsanspruch reingeschrieben auf Maßnahmen zur musischen Bildung, zum Sport usw., usw., Alles das, was jetzt schon im Gesetz steht, in diesem Kinder- und Jugendhilfegesetz, wo aber kein wirklicher Rechtsanspruch da ist. Den hätten wir reingeschrieben. Damit wäre auch das Bundesverfassungsgericht zufrieden gewesen, das ja Frau von der Leyen erst veranlasst hat, dieses zu tun. Und wir hätten gleichzeitig gesagt, dieses muss nicht für alle kostenlos sein, sondern – ähnlich wie beim Kindergarten – wer hat, der kann auch einen Beitrag dazu leisten, aber die Hartz-IV-Bezieher-Kinder, die sind kostenfrei zu stellen. Wir hätten also eine ähnliche Regelung gemacht wie bei Kindergärten. Und ich denke, dass wir damit erstens sehr viel einfacher das Ganze hätten regeln können. Und vor Ort hätten die Kommunen mehr Spielräume gehabt, um sich zu überlegen, wie erreichen wir denn jetzt überhaupt die Kinder. In der einen Kommune ist vielleicht Streetworking eine vernünftige Angelegenheit. In der anderen Kommune brauchen sie Gemeinwesen-Arbeit – mit allem, was dazu gehört. In der anderen Kommune ist familienpädagogische Hilfe angezeigt. Also, man hätte das ganze Instrumentarium fahren können, was nötig ist, um Kinder zu erreichen, aber nicht lediglich mit Blockflöte und Fußballverein hausieren gehen. Das kann nicht klappen.

Steinhage: Wenn man Ihnen folgt, Herr Schneider, dann sind Hartz-IV-Empfänger im Regelfall Opfer der Umstände. Gibt es für Sie keine selbst verschuldete Armut?

Schneider: Doch.

Steinhage: Faule Transferempfänger, die einfach "keinen Bock" haben zu arbeiten….

Schneider: Doch, das gibt es. Es gibt Leute, es gibt Menschen, die sich schlicht aus diesem System abgemeldet haben. Sie haben weder mit dem Prinzip der Erwerbsarbeit, der Arbeitsgesellschaft, irgendeinen Vertrag, noch mögen sie sonderlich staatliche Institutionen. Es gibt auch Leute, die nicht mal Hartz IV abholen. Es gibt Leute, die sich wirklich abgemeldet haben, die versuchen in eigenen Strukturen ihren Weg zu finden. Es gibt in Deutschland kleine, aber es gibt in der Tat Parallelwelten. Und das ist sicherlich, wenn man es so nennen will, eine selbst verschuldete Einkommensarmut, die eine Rolle spielt. Aber das hat mit der Regel, mit der wir es zu tun haben, mit dem Hartz-IV-Bezug, überhaupt nichts zu tun, wenn man sich anschaut, dass die Quote der Strafen, die ausgesprochen wurden, also, Leistungsentzug wegen Arbeitsverweigerung, bei gerade mal 0,5 Prozent liegt. Das heißt, nur 0,5 Prozent aller erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher verweigern Arbeit. Dann zeigt das, dass diese Menschen in aller Regel motiviert sind, arbeiten wollen. Vor allen Dingen wollen sie eines. Sie wollen raus aus Hartz IV.

Steinhage: Ein anderes Problem, das immer wieder in den Medien auch ventiliert wird, ist der Grundsatz: Wer arbeitet, der muss mehr Geld zur Verfügung haben als derjenige, der nicht arbeitet. Nun gibt es viele Politiker und auch Wirtschaftsexperten, die immer wieder darauf hinweisen, dass sich viele Menschen mit Hartz IV besser stellen als mit einem Vollzeitjob. Ist das so falsch?

Schneider: Was da passiert, sieht im Moment faktisch so aus, dass der, der arbeitet, der erwerbstätig ist, in der Regel immer mehr hat als der, der Hartz IV bezieht. Das hat mit den Freibeträgen zu tun. Er kann von seinem Erwerbstätigeneinkommen etwas einbehalten. Es wird nicht angerechnet bei Hartz IV, so dass er immer, wenn er voll erwerbstätig ist, einige hundert Euro mehr hat. Das Gleiche gilt für Menschen im Niedriglohnsektor mit Kindern. Sie können den so genannten Kinderzuschlag beantragen, können das Kindergeld behalten, haben immer einige hundert Euro mehr. Praktisch stellt sich die Frage: Reicht dieser Anreiz? Also, sind einige hundert Euro im Einzelfall genug? Der Frage kann man nachgehen. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste Schichtarbeit machen in der Wach- und Schließgesellschaft, bekomme einen Micker-Stundenlohn, komme kaum über die Runden, hab am Ende in der Tat dann als Alleinlebender vielleicht gerade mal hundert Euro mehr als der, der nicht diesen harten Job hat, dann stellt sich die Frage: Ist das noch gerecht? Die kann ich auch nachvollziehen. Deswegen bin ich immer dafür, die Freibeträge auch zu erhöhen, den Anreiz noch weiter auszubauen, aber – und das ist viel wichtiger – den Kinderlastenausgleich so zu gestalten, dass sich Arbeiten lohnt.

Steinhage: Andere ziehen allerdings aus dem, was Sie eben gedanklich entwickelt haben, den Schluss, Hartz IV ist zu hoch.

Schneider: Ja gut, aber da muss man fragen: Wo ist der Maßstab? Ich erlebe diesen Schluss häufig bei Menschen, die überhaupt keine Ahnung davon haben, wie es Hartz-IV-Beziehern geht, denen es auch selber in der Regel sehr gut geht - und, wenn man in Diskussionen darauf zu sprechen kommt, dann immer erklären, dass sie irgendwann mal vor 30, 40 Jahren in einer kurzen Phase mal kein Geld hatten und deshalb wüssten, wie das Leben funktioniert. Mit anderen Worten: Der Maßstab des Erlebens fehlt häufig bei dieser Forderung, Hartz IV abzusenken. Und – wir sind ein Sozialstaat – Hartz IV, und davon sind wir überzeugt, lässt sich gar nicht mehr absenken, das ginge gar nicht, das würde sofort vom Bundesverfassungsgericht wieder kassiert. Denn wer heute von Hartz IV leben muss, der lebt wirklich ganz hart an der Kante. Der hat kaum eine Chance über den Monat zu kommen. Deswegen ist da keine Luft mehr drin. Wenn man also was tun will am Lohnabstand zwischen Hartz IV und Erwerbseinkommen, dann muss man das entweder über Mindestlöhne regeln, das betrifft dann die Alleinlebenden, oder über den Familienlastenausgleich. Das betrifft die Kinder.

Steinhage: Der Paritätische Wohlfahrtsverband, und ja auch nicht nur dieser Verband, fordert 420 Euro als Hartz-IV-Regelsatz für Erwachsene. Der Paritätische verlangt auch, wir haben es gehört, mehr finanzielle Mittel für Not leidende Kinder. Wo, Herr Schneider, sollen diese zig Milliarden herkommen? In Ihrem Buch heißt es, Geld ist genug da. Wo ist es denn?

Schneider: Deutschland ist das fünftreichste Land dieser Erde. Also, wenn wir's nicht schaffen, Armut zu bekämpfen, dann kann es überhaupt keiner schaffen auf diesem Erdball. Deswegen bin ich da relativ optimistisch. Wir haben alleine im letzten Jahr 4,8 Billionen Euro Privatvermögen auf den Sparkonten gehabt. Also, Geld ist da. Das ist erst mal ein Faktum. Da braucht man gar nicht drüber reden. Die Frage ist, wie kommt man an das Geld ran, das ist der Punkt. Wenn ich mir anschaue, dass wir in Deutschland so gut wie alles mit Umsatzsteuer belegt haben, außer Börsenprodukte, sprich, Aktienhandel - Zockerei an den Börsen -, und allein uns hier schätzungsweise 35 Milliarden Euro pro Jahr verloren gehen, wenn wir uns anschauen, dass wir in Deutschland große Vermögen gerade mal mit 2,5 % effektiv besteuern und uns hier wiederum zig Milliarden verloren gehen, oder wenn wir uns anschauen, dass wir einfach mal so als einziges Land in Europa auch auf eine Vermögenssteuer verzichten und uns dadurch wiederum 5 Milliarden etwa verloren gehen, dann weiß ich, es ist das Geld da. Es fehlt nur der politische Wille.

Steinhage: Wenn man durch die Städte und Gemeinden geht: Überall erleben wir eine verrottete Infrastruktur. Wir erleben, dass die Energiewende sehr, sehr viel Geld kosten wird – vom Klimaschutz einmal ganz zu schweigen. Ist vielleicht doch nicht genug Geld da?

Schneider: Es ist nicht genug Geld da bei den Kommunen, bei denen, die es verausgaben müssen. Wir haben in Deutschland einen ungeheuren privaten Reichtum, der mit einer ungeheuren öffentlichen Armut der Kommunen einhergeht. Das ist Fakt. Wir müssen also schauen, wie kriegen wir diesen privaten Reichtum wenigstens zu einem Promilleanteil in die öffentlichen Kassen, da, wo es gebraucht wird, nämlich bei den Kommunen hin. Wenn ich mir so anschaue, dass wir unter Helmut Kohl noch eine Einkommenssteuer hatten von 53 % und die Hälfte davon geht in die Kommunen, dass wir dieses runter gefahren haben unter Rot-Grün, schlagartig auf 42 %, dann sind das Steuergeschenke, die ohne Not getätigt wurden. Und heute fehlt das Geld in der Tat in den Kommunen. Das Gleiche ist bei Erbschaftssteuer, die geht in die Länder, und andere Steuerarten, von denen letztlich Kommunen und Länder profitieren könnten. Aber es wird aus politischen Gründen darauf verzichtet.

Steinhage: Herr Schneider, unstrittig ist: Jeder Sechste zwischen 20 und 29 Jahren hier in Deutschland hat keinen Berufsabschluss. In dieser Gruppe hat jeder Zweite einen Migrationshintergrund. Unstrittig ist auch, beim Wohlstandsgefälle driftet die Gesellschaft immer weiter auseinander. Und schließlich droht ja auch – zu diesem Thema konnten wir in der Kürze der Zeit gar nicht kommen – eine weit verbreitete Altersarmut. Das ist heute noch kein Thema, wird aber ein Thema werden. Was bedeutet das auf längere Sicht für unsere Gesellschaft? Wo führt das hin, wenn man jetzt nicht gegensteuert?

Schneider: Diese Gesellschaft bricht auseinander. Denn es geht ja nicht nur darum, dass wir Einkommen so verteilen, dass Menschen sich mitgenommen fühlen. Es geht nicht nur darum, dass Menschen Chancen erhalten, tatsächlich Fuß fassen zu können, sondern es geht auch darum - das ist wahrscheinlich noch wesentlicher -, dass eine jede Gesellschaft, auch unsere, einen normativen Zusammenhalt braucht. Wir brauchen irgendwas, was uns im Gesellschaftsbild eint. Und in Deutschland war das über Jahrzehnte das so genannte Leistungsideal. Jeder, der will, kann auch. Jeder, der sich anstrengt, bekommt seine Möglichkeiten. Und wenn ein immer größerer Teil unserer Bevölkerung feststellt, das stimmt gar nicht, ich will ja, aber ich kann irgendwie nicht, ich bekomme keine Chance, mir werden alle Fördermaßnahmen letztlich weg gestrichen, wenn ich wirklich mal plötzlich ein, zwei Jahre in der Schule völlig versagt habe, aber fange mich wieder, finde ich kaum noch Fuß, und wenn diese Gesellschaft das zu einem immer größeren Anteil mitbekommt, dann laufen wir Gefahr, dass sich hier letztlich das normative Fundament dieser Gesellschaft auflöst. Das Gleiche betrifft die Altersarmut. Wenn wir immer mehr Menschen haben werden, und das ist im Moment zwangsläufig, wenn nicht gegengesteuert wird, die feststellen werden, dass sie trotz jahrzehntelanger Beitragszahlung in die Rente keine Rente mehr haben, die sie vor Altersgrundsicherung schützt, das heißt, sie müssen trotzdem zum Sozialamt, weil die Renten so klein sind.
..
Steinhage: …sie sind dann de facto auf Hartz-IV-Niveau…

Schneider: .. de facto Hartz-IV-Niveau, dann wird diese Rentenversicherung keine Akzeptanz mehr finden. Dann werden die Menschen versuchen, aus diesem System der Sozialversicherung raus zu fliehen. Anderes Beispiel ist der Niedriglohnsektor. Wir haben 22 Prozent der abhängig Beschäftigten bereits im Niedriglohnsektor. Die zahlen voll ihre Beiträge in die Arbeitslosenversicherung. Sollten sie aber arbeitslos werden, müssen sie trotzdem Hartz IV beziehen, weil diese paar Euro, die sie dann bekommen als Arbeitslosengeld I, nicht reichen, um sie alleine oder geschweige ihre Familie über die Runden zu bringen. Spätestens dann merken sie: Moment mal, ich bin ja richtig abkassiert worden von diesem Sozialstaat. Ich zahle Beiträge, aber sie schützen mich nicht vor Armut. Ich denke, das ist das, was dann normativ unsere Gesellschaft kaputtmachen wird, unseren Sozialstaat kaputtmachen wird. Und wir haben im Moment überhaupt keine Vision, wie eine Alternative zu diesem Fundament aussehen könnte. Und das ist sehr gefährlich.

Steinhage: Herr Schneider, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.