Harte Strafen und schnelle Begnadigungen

Von Dörte Hinrichs und Hans Rubinich · 14.02.2007
Im Jahr 1947 stellten die Amerikaner 16 hohe Juristen aus dem Dritten Reich vor Gericht. Doch die große Mehrheit der Juristen aus der Nazi-Zeit wurde nicht zur Rechenschaft gezogen. Ehemalige NS-Richter und Staatsanwälte kehrten bald in ihre Amtsstuben zurück und setzten in der jungen Bundesrepublik bruchlos ihre Karriere fort.
"Wir bekennen uns offen dazu, dass die nationalsozialistischen Juristen in jedem Recht nur das Mittel zu dem Zweck sehen, eine Nation die heldische Kraft zum Wettstreit auf dieser Erde sicherzustellen."

Hans Frank, Reichsjustizkommissar am 30.September 1933

"Wir grüßen unseren Führer Adolf Hitler: Sieg Heil …"

Joseph Goebbels in seiner Berliner Sportpalastrede 1943.
Zwei Jahre später gibt die britische Militärregierung bekannt:

"Die Naziregierung und die deutsche Wehrmacht haben bedingungslos den Alliierten Expeditionsstreitkräften kapituliert."

Nürnberg 17. Februar 1947. Im Schwurgerichtssaal des Justizpalastes eröffnet der amerikanische Brigadegeneral und Hauptankläger Telford Taylor den Juristenprozess.

"”Der Tempel der Gerechtigkeit muss wieder gewahrt werden. Das kann nicht im Nu geschehen oder durch ein bloßes Ritual. Es kann nicht in irgendeiner einzelnen Handlung geschehen oder an irgendeinem Platz. Es kann sicher nicht nur in Nürnberg geschehen. Aber wir haben hier – glaube ich - eine besondere Gelegenheit und eine große Verantwortung dabei zu helfen, dieses Ziel zu erreichen.""

"Zunächst waren die Amerikaner wirklich von dem ehrlichen Willen beseelt, einmal mit dem Unrecht abzurechnen. Aber auch Maßstäbe für eine neue Justiz zu setzen, und haben dann tatsächlich unter den 16 Angeklagten 12 verurteilt, 4 davon sogar lebenslänglich, 4 freigesprochen. Ein Zeichen dafür, dass es sich nicht um eine so genannte Siegerjustiz gehandelt hat."

Dr. Helmut Kramer, Mitbegründer des "Forums Justizgeschichte".

Taylor: "Wir haben hier die Männer, die eine führende Rolle spielten bei der Zerstörung des Rechts in Deutschland. Sie werden in Übereinstimmung mit dem Gesetz verurteilt werden. Es ist mehr angemessen als, dass diese Männer unter dem verurteilt werden, was sie als Juristen anderen verweigerten. Ein Urteil unter dem Gesetz ist das einzige gerechte Schicksal für die Angeklagten. Die Anklage fordert nichts anderes."

Der Nürnberger Juristenprozess vom 17. Februar bis 4. Dezember 1947

Der Justizpalast in Nürnberg ist einer der wenigen unzerstörten Gebäude in der zerbombten Stadt. Hier, wo die Führer der NSDAP sich einige Jahre vorher noch auf ihren Reichsparteitagen feiern ließen, sitzt nun ein Teil der ehemaligen juristischen Elite auf der Anklagebank. 16 führende Staatsanwälte, Richter sowie Juristen des Reichsjustizministeriums werden erstmals zur Rechenschaft gezogen. Wichtige Repräsentanten der NS-Justiz fehlen jedoch:

"Die höchsten Nazijuristen waren tot: Der Justizminister Thierack hatte sich das Leben genommen, der Volksgerichtshofpräsident Freisler war im März von einer alliierten Fliegerbombe getötet worden, Hans Frank ist in Polen verurteilt worden, Hans Frank der Polenschlächter, Generalgouverneur in Polen, war ja Reichsjuristenführer, eigentlich der oberste Jurist des Reichs. Und so war der höchstrangige, der im Nürnberger Juristenprozess angeklagt war, Franz Schlegelberger, Staatssekretär im Justizministerium bis 1942. Und dann neben ihm ein Sondergerichtsvorsitzender Rothaug, richtiger Blutrichter, was Schlegelberger ja nicht war. Der war mehr ein Schreibtischtäter."

So Dr. Ingo Müller, Professor für Strafrecht in Bremen und Autor des Buches "Furchtbare Juristen". Der Hauptangeklagte Franz Schlegelberger beteiligte sich an den gesetzlichen Grundlagen, um Polen und Juden auszurotten. So erläuterte er 1941 vor etwa 100 führenden Juristen in Berlin den Umgang mit der geheimen Euthanasieaktion T 4 zur "Vernichtung unwerten Lebens". Alle eingehenden Strafanzeigen gegen die Euthanasiemorde, so seine Anweisung, sollten von den Generalstaatsanwälten unbearbeitet an das NS-Justizministerium weitergeleitet werden.

Die Vielzahl der Juristen, die sich im "Dritten Reich" auf diese Weise schuldig machten, steht in keinem Verhältnis zur Zahl der später Verurteilten. Der Richter am Landgericht Itzehoe und Rechtshistoriker Dr. Klaus-Detlev Godau-Schüttke:

"Die Generalstaatsanwälte und OLG-Präsidenten des Dritten Reiches waren schwerstbelastet, denn die hatten die NS-Euthanasie mitgedeckt. Und keiner dieser hohen Richter, die alle Pensionen bezogen hatten, waren jemals angeklagt wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord."

Immerhin: Der langjährige Staatssekretär und zeitweilige kommissarische Justizminister Franz Schlegelberger stand schon 1946 vor Gericht. Damals noch als Zeuge im Hauptkriegsverbrecherprozess der Alliierten. Ein Rundfunkreporter über die Vernehmung Schlegelbergers:

"Schließlich legte der amerikanische Anklagevertreter dem Zeugen einen Brief vom März 1942 an Reichsminister Dr. Lammers vor. Darin macht der Zeuge, Dr. Schlegelberger selbst den Vorschlag, alle Halbjuden in Deutschland und in den deutsch besetzten europäischen Ländern zu sterilisieren."

Dafür machte sich der Hauptangeklagte im Nürnberger Juristenprozess Franz Schlegelberger stark und stellte sich in den Dienst der Rassenhygiene. 1946 als Zeuge beim Hauptkriegsverbrecherprozess sagte er allerdings aus, er habe den Halbjuden mit einer Sterilisation nur helfen wollen, um die Verschleppung in die Vernichtungslager zu verhindern.

Die Amerikaner verurteilen Schlegelberger im Juristenprozess von 1947 schließlich zu lebenslanger Haft.

Keiner der Angeklagten in Nürnberg wird wegen einfachen Mordes oder bestimmter Gräueltaten belangt. Denn, so argumentieren die amerikanischen Richter:

"Die Angeklagten sind solch unermesslicher Verbrechen beschuldigt, dass bloße Einzelfälle von Verbrechenstatbeständen im Vergleich dazu unbedeutend erscheinen. Die Beschuldigung, kurz gesagt, ist die der bewussten Teilnahme an einem über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit unter Verletzung der Kriegsgesetze und der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts unter der Autorität des Justizministeriums und mit Hilfe der Gerichte.
Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen."

Schon die bildhafte Sprache der amerikanischen Richter steht in krassem Gegensatz zur nüchternen Fachsprache der deutschen Juristen, die damit das Gericht glauben machen wollen, sie hätten sich stets um eine sorgfältige Rechtssprechung bemüht.

"Man hielt es gerade für eine besonders hohe Richtertugend, Gesetze nicht am eigenen Rechtsgefühl zu überprüfen, sondern eben diese Gesetze ungesehen anzuwenden."

So Dr. Helmut Kramer, ehemaliger Richter am Oberlandesgericht Braunschweig, der 1999 mit anderen Juristen das "Forum Justizgeschichte" in Wolfenbüttel gründete. Gemeinsam untersuchen sie die Rolle der NS-Juristen vor und nach 1945, die sich immer damit verteidigen, sie hätten nur geltendes Recht angewandt. Oder wie es der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg und NS-Marinerichter Hans Filbinger formulierte: "Es kann heute nicht Unrecht sein, was damals Rechtens war."

Eine Argumentation, die Helmut Kramer und seine Kollegen im "Forum Justizgeschichte" heftig kritisieren, (denn):

"Tatsächlich war es ein ganz grober Denkfehler, wie es gerade einem Juristen nicht unterlaufen sollte, denn: Was heißt zwingendes Recht? Die meisten NS-Gesetze, die enthielten einen ganz großen Ermessens-Spielraum. Die Machthaber haben sich nicht getraut einfach für kleine und kleinste Delikte und Bagatellsachen automatisch die Todesstrafe vorzusehen, sondern das hatten sie in das Ermessen der Richter gestellt."
Das nutzte auch Oswald Rothaug aus, ebenfalls Angeklagter im Juristenprozess in Nürnberg. Der Stadt, in der er von 1937 bis 1943 selbst einem Sondergericht vorstand, das als besonders brutales Instrument der NS-Herrschaft galt. Nun wird ihm in Nürnberg selbst der Prozess gemacht.

Rothaug verurteilte zum Beispiel in dieser Zeit den über 60-jährigen jüdischen Kaufmann Leo Katzenberger wegen Rassenschande zum Tode.
Bereits zu Beginn der Verhandlung teilte Rothaug dem zuständigen Landgerichtsarzt mit, er wolle ein Todesurteil fällen, deshalb solle Katzenberger untersucht werden. Eine Formalie, da, so Rothaug, der Angeklagte "ohnehin geköpft" werde.

Der Landgerichtsarzt zweifelte daran, ob man Katzenberger aufgrund seines Alters Rassenschande nachweisen könne. Rothaug zerstreute seine Bedenken mit den Worten: "Für mich reicht es aus, dass dieses Schwein gesagt hat, ein deutsches Mädchen hätte ihm auf dem Schoß gesessen." Ein Gnadengesuch lehnte Rothaug ab.

Im Nürnberger Juristenprozess verurteilen die Amerikaner den ehemaligen NS-Richter Oswald Rothaug zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe.

Schuld ohne Sühne

Nicht nur mit dem Nürnberger Juristenprozess 1947, auch mit dem Aufbau eines neuen deutschen Rechtssystems wollen die Alliierten Maßstäbe setzen. Dr. Klaus-Detlev Godau-Schüttke, Richter und Rechtshistoriker:

"Die UdSSR in ihrer Besatzungszone hat alle NS-Richter und Staatsanwälte hinausgeworfen. Die haben ganz konsequent gehandelt und wieder Volksrichter eingesetzt."

In seinem 2006 erschienenen Buch "Hammer, Zirkel, Hakenkreuz – Wie antifaschistisch war die DDR?" untersucht Detlef Joseph, wie die Sowjets und später die DDR mit ehemaligen Nazis umgingen. Joseph, der von 1961 bis 1991 an der Humboldt-Universität Berlin Staats- und Rechtstheorie lehrte, beschreibt auch, wie hier nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Rechtssystem etabliert wurde:

"Der Aufbau der Justiz erfolgte auf folgende Weise: Man hat begonnen unbelastete Menschen, die sich als Antifaschisten ausgewiesen hatten einfach zu beauftragen, ihr sollt jetzt Richter werden, ihr sollt jetzt in der Justiz arbeiten. Es gab dann entsprechende Schulungskurse, wo sie dann von Juristen qualifiziert worden sind. Und langsam aber sicher ist dieses System aufgebaut worden. Alle mussten dann- wenn sie nur geringe Ausbildung hatten- zu Weiterbildungs-Kursen. Das hat eine ganze Weile gedauert. Mit vielen Problemen, aber es waren keine Nazis in der Justiz. Das kann man mit ruhigem Gewissen konstatieren."

Ingo Müller, Professor für öffentliches Recht und Strafrecht in Bremen über die Entnazifizierungspolitik der sowjetischen Besatzer:

"Im Prinzip waren sie am konsequentesten. Dazu kam, dass die belasteten Nazis natürlich vor den Sowjets mehr Angst hatten und daher von selbst in die Westzonen kamen. Sie haben dann ja sehr pauschal diese Waldheim-Prozesse durchgeführt, über 3000 große und kleine Nazis wurden am Fließband abgeurteilt, aber danach war dann auch in der DDR eigentlich Schluss mit der Verfolgung von Nazi-Verbrechern. Also in Ost und West wollte man seinen Frieden mit den alten Nazis machen."

Von April bis Juni 1950 führten 51 Richter im Zuchthaus Waldheim bei Chemnitz 3385 Schnellverfahren gegen Häftlinge früherer Internierungslager für Nazi-Verbrecher, darunter zehn öffentliche Prozesse. 32 Todesurteile wurden damals verhängt, 24 vollstreckt. Nur in vier Fällen ergingen Freisprüche.

"Man geht davon aus – und diese Zahl ist amtlich von der DDR veröffentlicht worden – dass insgesamt 149 NS-Juristen auf dem Gebiete der SBZ beziehungsweise DDR verurteilt worden sind. Darunter waren auch Leute, die in Waldheim verurteilt worden sind."
Diese Null-Lösung wurde schon früh von den West-Alliierten verworfen. Das Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 30.Oktober 1945 legte stattdessen fest, wer als Richter oder Staatsanwalt ausgedient hatte:

""Zwecks Durchführung der Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens müssen alle früheren Mitglieder der Nazi-Partei, die sich aktiv für deren Tätigkeit eingesetzt haben, und alle anderen Personen, die an den Strafmethoden des Hitler-Regimes direkten Anteil hatten, ihres Amtes als Richter oder Staatsanwalt enthoben werden und dürfen nicht zu solchen Ämtern zugelassen werden."

Schon 1947, im Jahr des Nürnberger Juristenprozesses, betrauen die Westalliierten die westdeutschen Behörden mit der Entnazifizierung. Beim Umgang mit NS-Belasteten zeigten sich die neuen Gesetzgeber kreativ, wie Klaus-Detlev Godau-Schüttke und Ingo Müller erläutern:

"Im Oktober 1945 wurde die so genannte Huckepackregel in den Westzonen auf Drängen der OLG-Präsidenten eingeführt. Für jeden Belasteten konnten ohne nähere Untersuchung, ich betone, ein formell Unbelasteter wieder eingestellt werden. Meiner Meinung nach ist schon im Oktober 1945 die Entnazifizierung tot gewesen oder beendet bevor sie anfing."

"Dann später ist das noch mal modifiziert worden: jeder Nichtbelastete konnte zwei Belastete mit in die Justiz tragen. Und Anfang der 50er Jahre kamen dann noch die schwerer Belasteten, die in den Entnazifizierungsverfahren hängen geblieben waren, dann durch das 131er Gesetz noch dazu."

Dieses Ausführungs-Gesetz zu Artikel 131 des Grundgesetzes regelt..

"Dass allen Beamten, die aus anderen als dienstrechtlichen Gründen, auf deutsch: allen Nazi-Beamten, die nach dem Krieg von der Besatzungsmacht entlassen worden waren, wurde eine Wiedereinstellung zugesichert. Nur zwei Ausnahmen gab: Hauptbelastete aus den Entnazifizierungsverfahren waren ausgenommen und Gestapo-Agenten. Aber alle anderen hatten einen Rechtsanspruch auf Wiedereinstellung oder wenn sie zu alt waren, auf Versorgungsbezüge."

Man könnte annehmen, diese "großzügige" Regelung sei zustande gekommen, weil es in der Nachkriegszeit an Juristen fehlte – und auch nicht genügend qualifizierte Juristen aus der Emigration nach Deutschland zurückkehrten. Dem muss Prof. Ingo Müller jedoch widersprechen:

"Ein Juristenmangel bestand überhaupt nicht. Man konnte mühelos die Stellen alle besetzten. Man muss sich vorstellen, dass die kleine Bundesrepublik, die drei Westzonen ja nur einen Bruchteil ausmachte, nicht einmal die Hälfe des ehemals großdeutschen Reiches und alle strömten in die kleine Bundesrepublik, die Plätze waren teilweise. doppelt und dreifach besetzt. Mangel herrschte nicht."

An eine gezielte Rückholaktion von Emigranten für den Wiederaufbau einer demokratischen deutschen Justiz denkt man nicht. Dafür verlor kein NS-Staatsanwalt und NS-Richter nach 1945 seinen Posten, mit Ausnahme der Angeklagten im Nürnberger Juristenprozess.

"Alle wurden wieder eingestellt, weil sie im Rahmen der Entnazifizierung als entlastet oder als Mitläufer eingestuft wurden. Und als Mitläufer brauchten sie nur ein halbes Jahr auf zehn Prozent ihrer Bezüge zu verzichten. Jeder hat wieder schnell sein Amt gefunden."

Ende der Entnazifizierung - Schlussstrich-Mentalität

1951 führte eine Welle von Begnadigungen auch dazu, dass alle Verurteilten des Nürnberger Juristenprozesses wieder auf freien Fuß kamen - bis auf den "Blutrichter" Oswald Rothaug, der erst 1956 aus der Haft entlassen wurde.
Die Adenauer-Regierung der noch jungen Bundesrepublik plädierte – ganz im Sinne weiter Bevölkerungskreise - für einen Schlussstrich unter die Vergangenheit. Helmut Kramer vom "Forum Justizgeschichte" und Ingo Müller.

"Die deutschen Regierungsstellen haben aber immer wieder gedrängt auf Begnadigung und dann hat man einen interministeriellen Ausschuss geschaffen unter Beteiligung von Amerikanern, aber auch von deutschen Regierungsbeamten, Juristen. Und da haben sich die Deutschen, weitgehend Juristen, durchgesetzt."

"Spätestens Anfang der 50er Jahre, nach Geltung des Artikel 131 GG und des entsprechenden 131er Gesetzes, strömten zuvor entlassene alte Nazis, Nazi-Beamte, Nazi-Richter wieder in den öffentlichen Dienst. Und man kann von da an ein deutliches Umkippen in der Tendenz der Rechtssprechung beobachten. Bis 1950 gab es pro Jahr etwa 6000 Verfahren gegen Nazi-Verbrecher, ab 1950 gab es pro Jahr noch mal 30, 20, manchmal nur 15, aber es hört eigentlich schlagartig auf, Anfang der 50er Jahre."

Während immer mehr ehemalige NS-Richter und Staatsanwälte wieder in Amt und Würden kommen, müssen sich immer weniger Nazi-Verbrecher vor Gericht verantworten. Stattdessen beginnt in den 50er Jahren eine Anklageflut gegen Kommunisten: Rund 125.000 Ermittlungsverfahren werden eingeleitet und es kommt zu mehr als 7000 Verurteilungen.

Ein typischer Fall ist Walter Timpe, Journalist und KPD-Mitglied. Er und seine Kollegen schreiben für die Tageszeitung "Die Wahrheit/ Neue Niedersächsische Volksstimme". Im Mai 1955 stehen sie vor der Großen Strafkammer des Lüneburger Landgerichts – wegen kritischer Zeitungsartikel über Konrad Adenauer. Anklagevertreter ist der ehemalige NS-Staatsanwalt Karl-Heinz Ottersbach, Richter ist Konrad Lenski.

"Karl Heinz Ottersbach war 1940/41 Staatsanwalt im oberschlesischen Kattowitz. Und er war zuständig für die Sondergerichtsverfahren. Dazu ein Beispiel: Da war eine Frau, dessen Mann war schon – es waren beide Juden - in Konz im Lager. Die Frau musste ihre fünf Kinder versorgen und hat auf dem Schwarzmarkt ein Kaninchen eingetauscht. Dafür wurde sie jetzt zu acht Jahren Zwangslager verurteilt. Ottersbach hatte noch viel mehr beantragt. Und das älteste der Kinder, acht Jahre alt, schreibt ein Gnadengesuch: Wir sind schon fast am Verhungern, das Jüngste ist erst aechs Monate alt. Ich habe nichts mehr für meine Geschwister zu essen. Und er hat das Schriftstück einfach zu den Akten genommen."

Angesichts dieser Härte, so Helmut Kramer vom "Forum Justizgeschichte", könne einem fast das Blut in den Adern erstarren. Nicht nur Karl-Heinz Ottersbach, auch der Richter Konrad Lenski ist kein unbeschriebenes Blatt:

"Lenski hat sowohl am Reichskriegsgericht sehr viele Todesurteile gefällt und noch mehr Todesurteile als Militärrichter in Elsaß-Lothringen. Er war in Straßburg und hat dort viele französische Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt."

Zehn Jahre nach Kriegsende sitzen nun Ottersbach und Lenski über den kommunistischen Journalisten Walter Timpe von der "Neuen Niedersächsischen Volksstimme" zu Gericht:

"Ich war Redakteur von 1953 bis 56, da ist die Zeitung kein einziges Mal verboten worden. Da griff man sich die Redakteure: Nach der Reihe, wurden die Urteile gesprochen. ..."

Die personelle Kontinuität, die dazu führte, dass viele belastete Juristen aus der Nazi-Diktatur bruchlos ihre Karriere in der jungen Bundesrepublik fortsetzen konnten, verurteilt Walter Timpe.

"Die Richter sind ja alle unabhängig, aber die Staatsanwälte hätten alle aus dem Verkehr gezogen werden können von den jeweiligen Regierungen."

Neue Stellen – Alte Gesichter
Justiz und Nazi-Verfolgung in Deutschland


Am 6, November 1958 gründen die Justizminister der Länder die "Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg bei Stuttgart. Allerdings ist die Zentralstelle nicht befugt, Anklage gegen NS-Verbrecher zu erheben. Ihre Beweise gehen an die zuständigen Staatsanwaltschaften, die dann darüber befinden, ob es dann tatsächlich zur Anklage kommt.
Rund 100.000 Nazi-Verbrecher werden in den nächsten 40 Jahren ausfindig gemacht, allerdings werden nur 6500 rechtkräftig verurteilt werden.

"Das lag an der Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes. Der BGH hat also gesagt: In diesen Fällen ist Rechtsbeugung nur dann gegeben, wenn die Leute gegen ihre Überzeugung gehandelt haben.
Die konnten aber immer nachweisen, oder haben das jedenfalls gesagt: ich war eben damals ideologisiert. Und infolgedessen glaubte ich Recht zu sprechen, indem ich dieses Todesurteil verkündet habe. Da können Sie ihm schlecht das Gegenteil nachweisen.
Das hat dazu gereicht, dass man die großen Fische nicht verurteilen konnte. Der BGH hat von dieser Rechtssprechung 1996 im Rahmen eines Verfahrens gegen einen Richter aus der damaligen DDR abgerückt und hat auch gesagt, dass die Rechtssprechung verfehlt gewesen ist. Aber da war es zu spät."

So Willy Dreßen, ehemaliger Leiter der Zentralstelle in Ludwigsburg. Der Richter Dr. Klaus-Detlev Godau-Schüttke hat vor kurzem eine umfangreiche Publikation über den Bundesgerichtshof vorgelegt. Die 30-jährige Sperrfrist für viele Personalakten war gerade abgelaufen, als Godau-Schüttke seine Recherchen begann. Er vertiefte sich in Materialen, die bisher streng geheim waren.
Er geht nun davon aus, dass NS-Richter weit mehr Todesurteile ausgesprochen haben als bisher angenommen wurde. Über 50.000 Verurteilungen seien aktenkundig. Eine Dunkelziffer müsse es ebenso geben, da die Sondergerichte ihre Hinrichtungen nur manchmal angaben. Im Vorwort zu seinem Buch "Der Bundesgerichtshof – Justiz in Deutschland." heißt es:

"Resümierend ist festzustellen, dass die Richterschaft … kein Bekenntnis zu den eigenen Verbrechen in der NS-Zeit ablegte. Das skandalöse Verhalten vieler Juristen sowie erzkonservativer und deutschnationaler Politiker nach 1950 hatte schließlich zur Folge, dass zahlreiche NS-Justizverbrecher am Bundesgerichtshof wieder ‚Im Namen des Volkes’ Recht sprechen konnten."

Mit den Bestimmungen des Bundesgerichtshofs müssen auch die Ermittler der Zentralstelle in Ludwigsburg leben. So können sie nur gegen Täter ermitteln, die wegen Mord oder wegen Beihilfe zum Mord angeklagt werden können. Alle Totschlagsdelikte und Körperverletzungen mit Todesfolge dürfen seit 1960 nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden. Sie gelten als verjährt.

Die Verjährungsfristen waren für die Ermittler in Ludwigsburg nicht die einzigen Hindernisse, Auch die so genannten Schreibtischtäter wurden 1968 durch ein Gesetz begünstigt. Danach konnte ein Mordgehilfe nur noch dann bestraft werden, wenn ihm niedrige Beweggründe, zum Beispiel Rasenhass nachgewiesen wurde. Willly Dreßen, ehemaliger Leiter der Zentralstelle:

"Es hat sich so ausgewirkt, dass die Schreibtischtäter von dieser Zeit praktisch einen Freibrief hatten. Denn es wurde nach der Schuld des Teilnehmers die ganze Sache aufgezogen. Und meistens konnte man dem nicht nachweisen, dass er jetzt aus Rassenhass gehandelt hat. Da wird Ihnen der Schreibtischtäter jetzt in Anführungszeichen – immer sagen: Nee, ich hatte nur auf Weisung gehandelt. Ich hatte gar nichts gegen Juden. Ich hatte gar nichts gegen die Sinti und Roma - und Sie können ihm schlecht das Gegenteil nachweisen."

Im Bundesjustizministerium war damals Eduard Dreher als zuständiger Referent an diesem Gesetz beteiligt. In der NS-Zeit zählte er zu den wichtigsten Männern im Reichs-Justizministerium. Später wehrte sich Dreher gegen den Vorwurf, er habe Schreibtischtäter begünstigen wollen, erinnert sich Willy Dreßen.

"Er hätte mit solchen Auswirkungen nicht gerechnet. Das haben die Politiker auch gesagt. Das mag glauben, wer will. Ich glaube es nicht. Aber ich könnte ihm auch nicht das Gegenteil nachweisen."

Die Nachwirkungen des Nürnberger Juristenprozesses

In der Bundesrepublik konnten fast alle ehemaligen NS-Juristen ihre Karrieren fortsetzen oder bezogen vorzeitige Pensionen. In der DDR sah das anders aus. Bis auf wenige Ausnahmen wurde wirklich ein Neuanfang gewagt. Einmalig aber in der deutschen Geschichte war der Nürnberger Juristenprozess vor 60 Jahren, wo man versuchte die "furchtbarsten Juristen" des Dritten Reiches zur Verantwortung zu ziehen. Ingo Müller über das weitere Schicksal derer, die in Nürnberg angeklagt waren:

"Schlegelberger, der Staatssekretär im Justizministerium als höchster Angeklagter bekam 280.000 Mark Gehalt nachgezahlt für die Jahre 1945 bis 1950. Muss man sehen in einer Zeit, wo der Facharbeiterlohn 200 Mark betrug. (…) Aber Schlegelberger blieb nach wie vor einer der angesehensten deutschen Juristen des 20. Jahrhunderts.(…)"

Nach seiner Haftentlassung 1951 aus Gesundheitsgründen war Schlegelberger noch enorm produktiv: Mit zahlreichen Kommentaren, besonders zum Handelsrecht verschaffte er sich viel Anerkennung in Juristenkreisen. Und als es in den 60er Jahren darum ging, Schlegelbergers Pension auf ein Minimum zu kürzen, war es sein Sohn, der als Finanzminister in Schleswig-Holstein einen Vergleich durchsetzte.

Erst Jahrzehnte später untersuchen Juristen wie Helmut Kramer, Ingo Müller und Klaus-Detlev Godau-Schüttke die Lebensläufe von NS-Richtern und Staatsanwälten, die ohne große Probleme nach 1945 wieder Karriere machten. Als Schlegelberger und 15 andere führende Nazijuristen vor 60 Jahren auf der Anklagebank saßen, nahm die Öffentlichkeit kaum Notiz vom Nürnberger Juristenprozess. In Juristenkreisen und Fachpublikationen wurde das Ereignis weitgehend totgeschwiegen – nach der Verurteilung und baldigen Begnadigung der Angeklagten ging man schnell wieder über zur Tagesordnung. So konnten Schreibtischtäter und Blutrichter der NS-Sondergerichte und des Volksgerichtshofes als alte und neue Staatsdiener über Recht und Gerechtigkeit urteilen ohne sich selbst je für ihre Taten rechtfertigen zu müssen.