Harte Landung

Von Uwe Bork · 14.09.2006
Sie wollten alles anders machen. Anders, und besser. Die Eltern, die zu Zeiten eines vermeintlich stetig wachsenden Wohlstandes ihre Kinder auf die Welt brachten, waren oft die Güte und das Verständnis in Person. Angesichts des unzweifelhaft herannahenden Paradieses sahen sie keinen Grund für die Strenge ihrer eigenen Eltern, die nur allzu häufig nach dem biblischen Ratschluss verfahren waren, nach dem nur der seine Kinder wirklich liebt, der sie auch regelmäßig züchtigt.
Leider war die politökonomische Analyse vom unweigerlichen Weiterwuchern jenes Gartens namens Eden dann aber doch nicht so ganz richtig. Das Lustprinzip hat das Leistungsprinzip unglücklicherweise bisher nicht abgelöst, ganz im Gegenteil. Angesichts so prosaischer Tatsachen wie nahezu ununterbrochen steigender Energiepreise und parallel dazu sinkender Realeinkommen scheint ein irdisches Paradies – welcher Provenienz auch immer – vielmehr in unerreichbare Ferne gerückt.

Elterliche Verantwortung zeigt sich heute folglich darin, den Nachwuchs auf die mittlerweile raueren Klimazonen der gesellschaftlichen Entwicklung und auf die mehr als nur kühle Brise eines scharfen Wettbewerbs um Lehrstellen und Arbeitsplätze vorzubereiten. Eindeutig ins Abseits dürfte inzwischen der seine Kinder führen, der ihnen immer noch eine Bedürfnisbefriedigung ohne echte Grenzen vorgaukelt.

Pech bedeutet diese Umorientierung vor allem für diejenigen, die noch unter positiveren Perspektiven aufwuchsen und die nun eher hart in einer Ökonomie der Knappheit aufgeschlagen sind statt weich im Garten des Überflusses zu landen.

Pech haben vermutlich aber ebenso die Kinder, die ganz abseits der sozialen Romantik von Post- oder Post-Postachtundsechzigern in den Familien eines immer noch wohlsituierten Mittelstandes als eine Art lebendes Luxusgut aufwachsen. Wo einst in der Erziehung jegliche Autorität als finstere Charaktermaske des Klassenfeindes galt, ist sie heute verschwunden, weil Papa und Mama es sich leisten zu können glauben, ihre Nachkommen in einer pädagogischen Wellness-Oase ohne jegliche Grenzen aufwachsen zu lassen.

Fatal ist beides, das Laissez faire aus ideologischen wie aus materiellen Gründen. Und dennoch: "Im Grunde genommen sind Eltern heute nicht weniger gute Mütter oder Väter als früher," stellte jüngst beruhigend der Schweizer Kinder- und Jugendpsychologe Walter Braun fest, "aber die Bedingungen der Elternschaft haben sich gewandelt." Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erziehungslaufbahn seien Väter und Mütter heute oft verunsichert. Statt eines Erziehungsverhältnisses zwischen den Generationen werde daher vielfach eher ein Beziehungsverhältnis gesucht, bei dem Eltern wie Kinder nahezu gleichberechtigt agieren. Was fast so klingt wie eine verspätete Kapitulation vor der lautstarken Forderung, die die einstige Avantgarde-Popgruppe Pink Floyd vor rund einem Vierteljahrhundert auf ihrem Album "The Wall" erhob: "We don't need no education! We don't need no thought control! Teachers, leave them kids alone!" "Wir brauchen keine Erziehung! Wir brauchen keine Gedankenkontrolle! Lehrer, lasst die Kinder in Ruhe!"

Nun kann es in der Tat nicht darum gehen, eine weitere Form der Gedankenkontrolle – dieses Mal gegenüber Kinder und Jugendlichen - einzuführen: In dieser Beziehung haben wir uns den Utopien eines George Orwell schon viel zu sehr angenähert. Ebenso gilt es aber auch die gnadenlose Wettbewerbsorientierung zu vermeiden, mit der etwa in China schon die Kleinen und Kleinsten auf den Gebrauch ihrer Ellenbogen getrimmt werden oder nach der in anderen Staaten Südostasiens Elitebildung betrieben wird. Sie dürfte sich gesellschaftlich nicht erst auf lange Sicht verheerend auswirken.

Nötig erscheint es andererseits jedoch durchaus, manche Eltern in unseren Breiten wieder einmal daran zu erinnern, dass sie zur Erziehung nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind. Wollen sie für ihre Söhne und Töchter eine mehr als harte Landung auf dem Boden der nachfamiliären Realität vermeiden, so heißt das, dass trotz allen Bemühens um eine möglichst erquickliche Kindheit und Jugend des eigenen Nachwuchses auch die Erziehung zu Disziplin, Fleiß und Verlässlichkeit nicht aus den Augen verloren werden darf. Geschieht das in Verbindung mit einer Stärkung der kindlichen Eigenverantwortlichkeit und einer Förderung des kindlichen Selbstwertgefühls muss sich das noch nicht einmal so verstaubt und überholt anhören, wie es zunächst klingen mag.

Unsere kleinen Revolutionäre wie unsere kleinen Prinzen und Prinzessinnen müssen jetzt wohl oder übel lernen, dass das Verhältnis von Rechten zu Pflichten sich leider zuungunsten der ersteren verschoben hat. Für ihre Eltern heißt alles zu verstehen nun eindeutig nicht mehr, alles zu verzeihen. Und für sie selbst bedeutet alles zu verstehen inzwischen schlicht, alles zu begreifen. Und das auch noch möglichst schnell und möglichst gründlich.

Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion 'Religion, Kirche und Gesellschaft' des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist Autor zahlreicher Glossen und mehrerer Bücher, in denen er sich humorvoll-ironisch mit zwischenmenschlichen Problemen auseinandersetzt.
Uwe Bork
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