Harry Kramer - der "Friseur aus Lingen"

Von Günter Beyer · 16.07.2006
Der Bildhauer Harry Kramer nannte seine in den 1960er Jahren entstandenen Arbeiten "automobile Skulpturen". Die Skulpturen werden von einem Elektromotor oder einer Handkurbel angetrieben. Neben anderen Werken ist davon ein gutes Dutzend nun in Kramers Heimatstadt Lingen zu sehen.
So wunderbar leicht, so offen kann eine Skulptur sein: Ein unregelmäßiger Körper, groß wie ein Vogelbauer, verwoben zu einem filigranen Gehäuse mit Hilfe von nichts anderem als billigem Draht. Die transparente Hülle gibt den Blick frei in das bewegte Innenleben. Ja, man hört sogar das mechanische Atmen der Skulptur. Gummibändchen treiben hölzerne Räder, Draht-Hämmerchen schlagen an Fahrradklingeln.

"Automobile Skulpturen" nannte der Bildhauer Harry Kramer seine in den 1960er Jahren entstandenen Arbeiten. Skulpturen also, die sich von selbst - mit Hilfe eines kleinen Elektromotors bewegen oder mit einer kleinen Handkurbel angetrieben werden. Ein gutes Dutzend davon ist mit weiteren Schöpfungen Kramers nun in der Kunsthalle Lingen an der Ems zu sehen. Dem 1925 geborenen Autodidakten und späteren Professor an der Gesamthochschule Kassel haftete das Attribut "der Friseur aus Lingen" an. Völlig zu Recht, meint Heiner Schepers, Kunsthallen-Leiter in Lingen:

"Er ist ein Friseur aus Lingen, er ist als 17-Jähriger in den Krieg gezogen, aber er wusste, dass er was Besseres werden wollte, und deswegen ist er in die Welt hinaus gezogen, um berühmt zu werden."

Nach dem Krieg besucht er eine private Schauspielschule in Hamburg und lässt sich zum Tänzer ausbilden. Gleichzeitig entwirft er Figurinen fürs Puppentheater und schlägt sich als Puppenspieler durch. Als seine Frau Helga, eine Tänzerin, ein Engagement in Paris erhält, siedeln die Kramers 1956 in die Kunstmetropole an der Seine um. Dort entwickelt Harry Kramer sein in Deutschland begonnenes "Mechanisches Theater" weiter.

"Mechanisches Theater" sagt das vielleicht, das waren bewegte Figuren, es gab so kleine Maschinen, die am Band über die Bühne gezogen wurden, oder auch vom Küchenwecker angetrieben alleine über die Bühne fuhren, und die Puppenspielerszene hat sich damals mächtig darüber aufgeregt, aber die Kunst war begeistert, und für Kramer war das also der Ausgangspunkt für die Drahtskulpturen, die dann Anfang der 60er entstanden sind, und für Filme, die er gemacht hat."

Kramers Figuren werden Hauptdarsteller in experimentellen Animationsfilmen auf 16 Millimeter. Kurzfilme wie "Die Stadt" oder "Die Schleuse" sind Low-Budget-Produktionen in Schwarzweiß, in denen Kramer und ein befreundeter Kameramann Figuren aus Holz und Draht vor Industrie- und Stadtkulissen agieren lassen. Die raschen Schnitte sind revolutionär, die Vertonung mit Jazzstücken von Art Blakey oder Benny Goodman verleihen den Filmen ungeheures Tempo.
Vier dieser Streifen sind in Lingen wieder zu entdecken.

Obwohl Harry Kramer als Experimentalfilmer durchaus erfolgreich ist und sogar Preise einheimsen kann, verfolgt der "Friseur aus Lingen" diesen Weg nicht weiter. Vielmehr entwickelt er Elemente seiner mechanischen Hauptdarsteller der Filme zu selbständigen "automobilen Skulpturen". Er schafft ihnen einen Raum, in dem sie auch ohne Kamera agieren können. Ausstellungsmacher Heiner Schepers erinnert sich, dass er eine effektvoll illuminierte Drahtskulptur von Harry Kramer bereits auf der Dokumenta 1964 gesehen hatte.

"Ich habe das jetzt für diese Ausstellung noch mal neu inszeniert. Das Licht kommt also von unten, die Skulpturen, diese filigranen Drahtskulpturen, die ja frei geknüpfte, oft runde Figuren sind, und die sind ja sehr durchscheinend, und als Schatten auf der Wand sind sie wie Zeichnungen, in denen sich die inneren bewegten Teile dann auch als Schatten drehen."

Mitte der 60er Jahre hat Helga Kramer ein Engagement in Las Vegas, und Harry folgt ihr als mitreisender Ehegatte und Künstler in neue Welt.

"In Amerika hatte er dann wieder viel Zeit, und er hat sich dann mit der Kunst der Zeit auseinander gesetzt, hat gesehen, was Rauschenberg und ähnliche Leute gemacht haben, und dann hat er auch angefangen, im Stil der Pop Art Möbel zu bauen, in die er seine Drahtskulpturenelemente mit eingebaut hat, in denen er sozusagen erweitern konnte, was er bisher schon gemacht hat, nämlich Bewegung, Raum, Körper, Klang zusammen zu bringen, das hat er nur noch erweitert um Licht, um fließendes Wasser ..."

Anklänge an die amerikanische Pop Art sind unübersehbar. Kramers Skulpturen sind nicht mehr filigran, sondern kompakt, klotzig, schrill farbig lackiert und mit modisch großen Nummern versehen. Wasser prasselt in die Emailschüssel einer "Pissoir" genannten Stele, aufmontierte Glühbirnen spielen mit Versatzstücken des Showbusiness.

1970 erhält der unstete Geist eine Professur für Bildhauerei an der Gesamthochschule Kassel. Eigenes Schaffen tritt fortan in den Hintergrund, Kramer engagiert sich sehr für die Lehre. Etliche Arbeiten, die gemeinsam mit Studierenden entstanden, sind in Lingen zu sehen, etwa gewalttätige Kinder aus dem Zyklus "Kinderlieder", in dem der bösartige Nachwuchs Gleichaltrige zersägt und auspeitscht. Oder lebensgroße menschliche Automaten, die den Betrachter durch minimale Bewegungen irritieren.

Sehenswert ist die Ausstellung allerdings vor allem wegen der Drahtskulpturen, Harry Kramers originären Beitrag zur Skulptur der 60er Jahre. Denn hier ist dem 1997 gestorbenen Künstler etwas völlig Neues gelungen: Auf dem Umweg über die Projektion an die Wand wird die Plastik zur Zeichnung. Kunsthallen-Leiter Heiner Schepers:

"Aber das Besondere an dieser Zeichnung ist dann, dass sich in der gezeichneten Figur die 'nun verkürzten oder gedehnten' inneren Elemente bewegen. Also eine Zeichnung in Bewegung, und das ist schon eine ganz schöne Erfahrung, und obendrein eine sehr poetische."

Service: Die Ausstellung ist von 16. Juli 2006 bis 24. September 2006 zu sehen.