Hans Kundnani: "German Power"; Sabine Bode: "German Angst"

Die deutsche Frage kehrt zurück

Sebastian Schweinsteiger jubelt
So unbefangen geben sich die Deutschen nur zur WM © dpa picture alliance
Von Erik von Grawert-May · 14.05.2016
Deutschlands Stärke trägt paradoxerweise zur Instabilität Europas bei, analysiert Hans Kundnani. Und vor der Folie dieser Erkenntnis wird auch Sabine Bodes These zur "German Angst" verständlich: Sie zeigt auf, wie Deutschlands ruhendes Trauma erwacht.
Der verdienstvolle Zeithistoriker Heinrich August Winkler, dem wir das monumentale Werk über den langen Weg Deutschlands nach Westen verdanken, gab den Anstoß zur Übersetzung von Hans Kundnanis Buch ins Deutsche. Er lobt es in den höchsten Tönen: Es sei eine brillante Analyse, halte Deutschland den Spiegel vor und stelle uns Fragen, die wir Deutschen uns schon längst selbst hätten stellen sollen.
Winkler übertreibt nicht. Der Spiegel, den wir da aus Londoner Sicht vorgehalten bekommen, reflektiert unseren Gang zurück in die Bismarck-Zeit. Natürlich nicht eins zu eins. Der Journalist und wissenschaftliche Mitarbeiter des German Marshall Fund mit Wohnsitz in London stellt trotzdem einen verblüffenden Vergleich zwischen der deutschen Einigung von 1871 und 1990 an.
Damals war das wilhelminische Kaiserreich zu groß, um keine Probleme zu machen, aber zu klein, um sie zu lösen – ein Halb-Hegemon, dem es aufgrund seiner zu geringen Größe nicht gelingen konnte, in Frieden mit seinen europäischen Nachbarn zu leben.

Deutschlands neue und alte Politik zulasten seiner Nachbarn

Heute ganz ähnlich, nur dass an die Stelle damaliger Geo-Politik die Geo-Ökonomie getreten ist, das heißt statt einer global ausgerichteten Zivilmacht, die sich - nicht nur hinhaltend - auch an militärischen Friedenslösungen außerhalb Europas beteiligt, ziehe Deutschland eine globale Exportpolitik zulasten seiner Nachbarn vor. Damit trage es nicht zur Stabilität, sondern zur Instabilität der politischen Verhältnisse bei. Mit anderen Worten: Die deutsche Frage kehrt zurück.
Kundnani bezeichnet diese Machtkonstellation als das Paradox der deutschen Stärke. Es hat sich ihm zufolge zunehmend unter Gerhard Schröders Abkehr von Adenauers Politik der Westbindung entwickelt. Schröders Weigerung, an der Seite der USA in den Irakkrieg zu ziehen, habe erstmals einer nationalen politischen Eigenständigkeit der Deutschen Vorschub geleistet, die bis heute andauere.
Hans Kundnani, German Power
Hans Kundnani, German Power© Promo
Sie zeige sich wiederum an der zu engen ökonomischen Auffassung von Stabilität, die von der Regierung Merkel vorwiegend den südlichen Anrainerstaaten Europas aufgedrängt werde. Es fehle eine großzügige Unterstützung – eine Art neu aufgelegter Marshall-Plan für Europa. Der wurde bereits während der Weltwirtschaftskrise der Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts schmerzlich vermisst. Vor Wiederholungsgefahr wird gewarnt.
Der Autor verlängert seine Gefahren-Analyse bis zur aktuellen deutschen Flüchtlingspolitik und meint in der ungarischen Kritik am "moralischen Imperialismus" der Deutschen ein Echo der Kritik am deutschen "Fiskal-Imperialismus" zu erkennen. Wir hätten es also mit einer Wiederkehr alter, überwunden geglaubter Politik-Muster zu tun.

Angst als die andere Seite deutscher Politik

Vor dieser Folie gewinnt das Buch Sabine Bodes über die "German Angst" an Profil. Eigentlich schon 2006 erschienen, erlebt es in diesem Jahr eine Neuauflage. Auf den ersten Blick scheint das Timing nicht ganz geglückt. Schon vor zehn Jahren folgte auf die Erst-Veröffentlichung die Fußballweltmeisterschaft mit der überschäumenden Freude der deutschen Fans.
German Angst? Fehlanzeige. Vor allem Bodes These, diese Angst sei auf die Vaterlosigkeit der Kriegsgeneration 1933 bis 1945 zurückzuführen, scheint fraglich.
Sabine Bode, Kriegsspuren
Sabine Bode, Kriegsspuren© Promo
Und doch: Die Kölner Hörfunkjournalistin führt neben vielen einflussreichen Zeitgenossen, die ihrer These beipflichten, auch den ehemaligen US-Botschafter in Berlin, John Kornblum, an, der zustimmend William Faulkner zitiert: "Das Vergangene ist nicht tot, es ist noch nicht einmal vergangen".
Kornblum kommt nach eingehendem Studium des politischen Lebens in der Bundesrepublik zu dem Schluss, "dass dieses Land immer noch unter einem ziemlich schweren Trauma leidet". Ein Trauma ist dadurch gekennzeichnet, dass es jahrzehntelang ruhen kann. Der von ihm Betroffene ist beschwerdelos, aber irgendwann taucht das Trauma wieder auf und führt zu Zuständen von Ängsten, Depressionen und Wahrnehmungsverzerrungen.
Ob der französische Historiker Fernand Braudel mit seiner "longue durée" vielleicht doch recht hat?

Hans Kundnani: German Power. Das Paradox der deutschen Stärke
C.H. Beck Verlag München, 2016
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
208 Seiten, 18,95 Euro

Sabine Bode: Kriegsspuren. Die deutsche Krankheit German Angst
Klett-Cotta Verlag Stuttgart, 2016
298 Seiten, 9,95 Euro

Mehr zum Thema