Hans-Dietrich Genscher zur EU-Krise

"Unsere Zukunft ist Europa - eine andere haben wir nicht"

Hans-Dietrich Genscher, Bundesaußenminister a.D. (FDP)
Hans-Dietrich Genscher, Bundesaußenminister a.D. (FDP) © picture alliance / dpa / Matthias Balk
Moderation: Nana Brink · 10.11.2015
Fällt Europa auseinander? Der ehemalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher fordert die Europäer auf, für ihr Einigungswerk kämpfen – und sieht Deutschland in der Verantwortung, den "Motor EU" am Laufen zu halten. In Zeiten, in denen die Welt zusammenwachse, dürfe Europa nicht auseinanderbrechen.
Der ehemalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) mahnt die Europäer, für die EU zu kämpfen. Genscher stellte sich am Dienstag im Deutschlandradio Kultur-Interview hinter den luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn, der vor einem Auseinanderfallen Europas gewarnt hat.
Genscher sagte, statt immer nur zu fragen, was man denn von Europa bekommen könne, "ist es notwendig, dass die Europäer – das heißt, diejenigen, die aus tiefer Überzeugung das Einigungswerk bejahen – auch kämpferisch für dieses Einigungswerk eintreten ... und nicht erklären, was jetzt gerade kompliziert sei."
Man dürfe sich von bloßen Lippenbekenntnissen nicht abspeisen lassen.
Deutschland trägt Verantwortung
Genscher sieht hierbei Deutschland, wie vom EU-Ratspräsidenten Donald Tusk gefordert, in der "Verantwortungsrolle" bei dem Bemühen, die EU stabil zu halten.
"Ich kann es nur immer wieder sagen: Unsere Zukunft ist Europa – eine andere haben wir nicht. Die Welt rückt überall zusammen, wir sind in einem Prozess der Globalisierung. Und ausgerechnet in diesem Prozess, wo die Welt näher zu einander rückt weltweit, soll Europa weiter auseinanderrücken? Das wäre geradezu gegen den Strom der Geschichte. Und diese Leute, die uns Europa heute in Misskredit bringen, stellen sich auch gegen den Strom der Geschichte."
Deshalb brauche es in Europa Persönlichkeiten mit Überzeugung. Zur augenblicklichen angespannten Situation sagte Genscher: Schwierig sei, dass auf jene, die in Europa Verantwortung trügen, innerhalb kurzer Zeit viele Probleme auf einmal zugekommen seien. Jetzt sei zukunftsorientiertes Handeln erforderlich.
"Es fällt mir schwer, mich über die Akteure von heute zu erheben, wenn ich weiß, dass ich selbst in einer langen Zeit als Außenminister solche Situationen erlebt habe."
Doch stets sei es gelungen, Momente des Stillstands zu überwinden.


Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Diesen Satz muss man sich in Ruhe anhören: Die Europäische Union kann auseinanderbrechen, und wenn man dann auch noch hört, wer das sagt, nämlich Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn – das Land führt ja gerade den Ratsvorsitz der EU –, dann kann man schon das Gefühl bekommen, hier fällt ein Tabu. Die Europäische Union kann auseinanderbrechen – dass es rechtsnationale Strömungen wie den Front National in Frankreich, das Regierungsbündnis Fidesz in Ungarn oder linkspopulistische Bündnisse wie Syriza in Griechenland freuen würde, das überrascht uns nicht, aber nun glauben selbst führende Politiker der EU nicht mehr an das Projekt, für das die EU ja 2012 den Friedensnobelpreis bekommen hat, für den Einsatz von Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte übrigens. Liegt der Zerfall also näher als wir wahrhaben wollen, vor allem in Deutschland? Hans-Dietrich Genscher hat nicht nur in seiner Zeit als Außenminister der Bundesrepublik fast ununterbrochen von 1974 bis 92 immer für Europa geworben. Ich grüße Sie, guten Morgen, Herr Genscher!
Hans-Dietrich Genscher: Guten Morgen!
Brink: Bislang hat sich Europa ja noch aus jeder Krise herausgewunden – siehe Griechenland –, können wir uns darauf jetzt noch verlassen, wenn selbst hohe Funktionsträger an der Idee Europa zweifeln?
Genscher: Ich würde keinen Vorwurf gegen den Außenminister Luxemburgs erheben, im Gegenteil sein ernstes Wort der Mahnung ist dringend notwendig. Ich habe den Eindruck, dass in vielen Köpfen in Europa die Idee, dass man für Europa eintreten muss, um dauerhaft Frieden zu haben und Wohlstand übrigens auch, dringend geboten ist und nicht ständig zu fragen, was man von Europa für sich bekommen kann, jener Egoismus, von dem Sie mit Recht eben gesprochen haben. Es ist notwendig, dass die Europäer, das heißt, diejenigen, die aus tiefer Überzeugung das Einigungswerk bejahen, auch kämpferisch für dieses Einigungswerk eintreten und nicht eher entschuldigen, nur erklären, was jetzt gerade kompliziert sei, und nicht ... Wenn man ein großes Einigungswerk schaffen will, dann muss man dauerhaft daran arbeiten. Das entsteht nicht von selbst, das bedarf Akteure, es bedarf der Bekenner, und daran scheint es im Augenblick zu fehlen. Deshalb ist eine mahnende Stimme, wie die, die Sie eben zitiert haben, so goldrichtig, dass ich sie nur aus voller Überzeugung unterstützen kann.
Der plötzliche Stillstand
Brink: Ich würde Ihnen ja so gerne glauben, dass man darüber kämpfen kann, allein, mir fehlt der Glaube. Wenn ich jetzt zum Beispiel auf das Gipfeltreffen Mitte Oktober gucke, das ja de facto nicht die Spur einer Lösung gebracht hat, weder was die Verteilung der Flüchtlinge angeht, noch die Kontrolle der Außengrenze – wo war denn da Europa?
Genscher: Ich will nun die Vergangenheit nicht besser machen als sie war, aber auch in der Vergangenheit habe ich erlebt, wie plötzlich ein Europa ein Stillstand eintrat, ja eigentlich schon fast Resignation und rückschrittlich. Ich habe damals mit dem italienischen Außenminister eine Initiative ergriffen, die Genscher-Colombo-Akte, um den Integrationsprozess voranzutreiben, daraus ist dann die Europäische Union geworden. Das heißt, wir haben solche Situationen, wie wir sie jetzt haben, auch schon bei dem kleineren Europa gehabt, bei dem Europa, das nach dem Zweiten Weltkrieg einen gemeinsamen Anfang hatte. Jetzt ist es das größere Europa, das ist komplizierter, das verlangt mehr Einsatz, das verlangt auch mehr Rücksichtnahme, aber notwendig ist das Agieren, und ich sage noch einmal, man darf sich nicht abspeisen lassen, man sei ja für Europa, aber leider das und das.
Nein, wenn man für Europa ist, muss man für Europa eintreten. Ich kann es nur immer wieder sagen: Unsere Zukunft ist Europa, eine andere haben wir nicht. Die Welt rückt überall zusammen. Wir sind in einem Prozess der Globalisierung, und ausgerechnet in diesem Prozess, wo die Welt näher zueinander rückt weltweit, soll Europa weiter auseinander rücken, das wäre geradezu gegen den Strom der Geschichte, und diese Leute, die uns Europa heute in Misskredit bringen, stellen sich auch gegen den Strom der Geschichte.
Brink: Aber ich möchte noch mal Jean Asselborn zitieren, den Sie ja auch so unterstützen. Er macht ja das Versagen der EU auch am Schengen-Abkommen fest. Er definiert Schengen ja als wichtigstes Abkommen der EU, das die Freizügigkeit garantiert hat innerhalb ihrer Grenzen, aber nur so lange die Außengrenzen gesichert sind, und genau das passiert ja gerade nicht mehr. Haben die nationalen Interessen in dieser Flüchtlingskrise einzelner Länder nicht wirklich gesiegt?
Nicht über die Akteure von heute erheben
Genscher: Nein, ich glaube – Sie haben ja auch die Finanzkrise erwähnt. Wir müssen einfach sehen, es ist auf diejenigen, die heute in Europa Verantwortung tragen, natürlich auch sehr viel an Problemen auf einmal oder in kurzen Abständen gekommen, das spielt auch eine Rolle. Nur, das festzustellen reicht nicht, da muss man sagen, was heißt das für mich, was heißt das für uns, was müssen wir jetzt tun, und ich glaube, dass wir heute sagen können, dass unser Land und dass die Bundesregierung doch sehr stark diese Verantwortung auch erkennt. So kompliziert das ist, so schwierig Einigungsformeln sind, wie wir sie jetzt in der Regierung erleben. Es fällt mir schwer, mich über die Akteure von heute zu erheben, wenn ich weiß, dass ich selbst in einer langen Zeit als Außenminister solche Situationen erlebt habe. Aber eins muss natürlich sein: Wenn man die Lage so analysiert, dann ist jetzt auch entschlossenes und zwar zukunftsorientiertes Handeln erforderlich.
Brink: Aber Herr Genscher, Sie haben so unendlich viel Erfahrung über 20 Jahre in wirklich komplizierten Zeiten auch. Wenn Sie jetzt nach Ungarn gingen oder nach Slowenien, nach Kroatien, nach Polen, was sagen Sie denn den Osteuropäern, die sich ja – das muss man de facto ja sagen – einer Einigung verweigern?
Genscher: Es ist so, dass sie zunächst einmal den Weg in die Freiheit gefunden haben, übrigens durch die Existenz eines freien Europa, das die deutsche Entspannungspolitik so maßgeblich unterstützt hat, darauf hinweisen, und dann welche Chancen sich für sie daraus ergeben haben. Sie durchlaufen Sachen, wir haben auch sehr schwierige Diskussionen in Deutschland gehabt nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Einigungsprozess begann. Manche Vokabel, die ich heute höre in anderen Ländern, hat es damals auch bei uns gegeben, das war nicht so, dass das wie vom Himmel gefallen plötzlich in Deutschland war und die Deutschen plötzlich begeisterte Europäer waren. Sie fanden das gut alle zusammen, aber wenn es dann darum ging, daraus auch Konsequenzen in Einzelfragen zu ziehen, hat es manchen Streit gegeben. W
enn Sie sich die Diskussion über Agrarpolitik ansehen, also so lupenrein war der Weg hierher nicht. Wichtig ist nur, dass diejenigen, die in der Verantwortung stehen, das erkennen und jetzt auch handeln, das heißt, dass die sich nicht abspeisen lassen mit Einzelentscheidungen in Einzelfragen, aber nicht das große Einigungswerk dabei mit im Auge haben. Das erfordert natürlich schon in den Regierungen der Mitgliedstaaten Persönlichkeiten, die mit ganzer Kraft und mit einer tiefen Überzeugung von der historischen und moralischen Aufgabe Europas handeln.
Deutschlands muss die EU zusammenhalten
Brink: Interessant ist ja, dass EU-Ratspräsident Donald Tusk jetzt gerade gestern wieder eine starke Führungsrolle Deutschlands in Europa in der Flüchtlingskrise gefordert hat. Man hat ja manchmal das Gefühl, dass die Deutschen die letzten in der Krise agierenden Europäer sind. Muss Deutschland mehr tun?
Genscher: Ich glaube, dass daran etwas deutlich wird, und ich würde es jetzt nicht unterschätzen wollen, das heißt, wenn ein polnischer Politiker einen solchen Appell an die Deutschen richtet – Deutschland ist in der Verantwortung, es hat als Land mit den meisten Einwohnern unter den Mitgliedstaaten, mit den meisten Nachbarn, das Land in der Mitte Europas, trägt es eine historische Verantwortung. Ich denke aber, dass Deutschland dieser Verantwortung auch gerecht wird, auch wenn es diese und jene Entscheidung gibt, über die man diskutieren kann. Ich bin der Meinung, wenn in der europäischen Haltung überall die gleichen Überzeugungen wären wie jetzt bei uns, unverändert in der offiziellen Politik sind, dann könnte man es leichter schaffen.
Diese Aufgabe nämlich – das Wort Führungsrolle scheue ich, das wird jeder verstehen, wenn er die Generation sieht, der ich angehöre, aber Verantwortungsrolle, Verantwortungspolitik Deutschlands für die Einheit Europas, die nehme ich an und die muss jeder von uns annehmen. Ja, wir tragen eine große Verantwortung und der müssen wir uns stellen.
Brink: Ganz kurze Frage zum Schluss noch: Sie haben ja den Eisernen Vorhang in Ihrer Zeit als Außenminister überwunden – ist diese Krise jetzt größer?
Genscher: Sie ist anders, und das Tragische daran ist, dass es eine selbst mitgeschaffene Krise ist, während den Eisernen Vorhang andere geschaffen haben, und unsere Aufgabe war es, ihn zu beseitigen.
Brink: Vielen Dank, Hans-Dietrich Genscher, für die Zeit und Ihre Einschätzungen!
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht
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