Handwerker, Arbeiter und Frauen ausgeschlossen

05.09.2007
So war es zumindest zu Immanuel Kants Zeiten. Jürgen Schmidt zeigt mit Quellentexten, wie unterschiedlich der Begriff der Zivilgesellschaft von der Antike bis heute interpretiert wurde. Dabei stellt der Historiker und Politologe Schmidt jedem Text einen eigenen Kommentar voran, was dem Leser die Einordnung erheblich erleichert.
Vor zweieinhalbtausend Jahren beschreiben Platon und Aristoteles das Ideal des Staates. Handeln außerhalb staatlicher Strukturen ist noch nicht denkbar. Die Geschichte der Zivilgesellschaft ist auch von Anfang an mit dem Ausschluss bestimmter Gruppen verbunden. So nahmen die Bürger der griechischen Polis billigend in Kauf, dass es Sklaven gab, die keine Rechte besaßen, nicht mitreden durften und nur ihren Herren, den freien Bürgern, zu dienen hatten. In den deutschen Städten des späten 18. Jahrhunderts, das geht aus einem Text Immanuel Kants hervor, waren Handwerker, Arbeiter und Tagelöhner ausgeschlossen, die Frauen sowieso.

Und bis heute gilt, was August Bebel schon 1875 schrieb: Wer sich engagieren will, braucht Zeit und Geld; von beidem hatte Bebel, der eine Drechslerwerkstatt betrieb, übrigens nur wenig.

Jürgen Schmidt, Historiker und Politologe, stellt die Texte in chronologischer Reihenfolge vor. Er beginnt in der Antike mit Platons "Der Staat", Aristoteles’ "Politik" und Ciceros "De re publica" (Über das Gemeinwesen). Selbst wer die berühmten Texte längst kennt, liest sie unter der Überschrift "Zivilgesellschaft" und in dieser besonderen Zusammenstellung in einem neuen Verständnis.

Der Staat ist auf die Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit seiner engagierten Bürger angewiesen. Doch das Engagement blieb einer kleinen Elite vorbehalten, die Stände waren in ihren Aufgaben festgelegt. Und das sollten sie nach Plato auch bleiben, kein Tausch, keine "Vieltuerei", und dass jeder – so wörtlich – "nur das Seinige tut und sich nicht in vielerlei mischt".

Aus der Spätantike, dem Mittelalter und dem Zeitalter der Glaubensspaltung lesen wir Texte von Augustinus oder Martin Luther. Aus dem 17. und 18. Jahrhundert von Thomas Hobbes, für den der Staat in erster Linie dem Lebensschutz diente, von John Locke, für den die Sicherung des Eigentums als Lebensgrundlage hinzu kam, oder von Charles-Louis Montesquieu, dem Wegbereiter der Gewaltenteilung.

Der schottische Historiker Adam Ferguson, der als Mitbegründer der Soziologie gilt, macht sich Gedanken darüber, wie sich die Zivilgesellschaft gegen Angriffe von außen verteidigen kann. Zivilgesellschaftliches Handeln ist jedoch nicht nur von außen bedroht; es kann selbst antidemokratische Entwicklungen hervorrufen oder begünstigen. Als ausgesprochene Gegner der Zivilgesellschaft kommen Ernst Jünger und Carl Schmitt zu Wort.

Die Amerikanerin Sheri Berman von der New Yorker Columbia Universität beschreibt in ihrem Text von 2006, wie sich Vereine, Hauptakteure der Zivilgesellschaft, als Einfallstore für Rechtsextremisten entpuppen können. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten müssen also keinesfalls immer demokratisch und friedliebend sein. Um dies zu belegen, untersucht Berman den Aufstieg der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik einerseits und die Entstehung islamistischer Bewegungen in Ägypten, Algerien und im Libanon. Dass sie dabei direkte Vergleiche zieht, hält Jürgen Schmidt jedoch für fragwürdig.

Jedem der Texte hat Schmidt einen Kommentar vorangestellt, der hilfreich ist bei der Einordnung und außerdem eine kurze Inhaltsangabe liefert. Er verzichtet aber leider auf Kurzbiographien der zahlreichen Autoren und wenigen Autorinnen. Bei Karl Marx, Max Weber, Rosa Luxemburg, Vaclav Havel, George W. Bush oder Gerhard Schröder mag das überflüssig sein. Bei den anderen wäre es ein angenehmer Service gewesen. Aber vielleicht gehört das ja zum Konzept des Buches, dass es nicht nur mannigfachen Stoff bietet, um die Zivilgesellschaft in all ihren Ambivalenzen kennenzulernen, sondern dass es gerade dazu animiert, selbst weiter zu lesen.

Im Übrigen zeugen nicht nur Texte bestimmter Autoren, sondern auch Pamphlete, Aufrufe und Flugblätter vom gesellschaftlichen Engagement und politischer Teilhabe, so zum Beispiel "Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" in der französischen Revolution, ein Flugblatt aus der Revolution von 1848, die Prager Charta 77 oder der Gründungsaufruf des Neuen Forums in der DDR.

Ein möglichst breites Spektrum an Texten in knapper Auswahl wollte Jürgen Schmidt dem Leser vorstellen – das ist ihm gelungen.

Rezensiert von Annette Wilmes

Jürgen Schmidt: Zivilgesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement von der Antike bis zur Gegenwart
Texte und Kommentare, Rowohlt Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007
352 Seiten, 14,90 Euro