Handbefreit mit Reißverschluss

02.04.2010
Der Hauptfigur, einem genialen Ingenieur namens LoveStar, ist es im Science-Fiction-Roman des Isländers Andri Snaer Magnason gelungen, die Kommunikation zu revolutionieren. Ein kleines Gerät reicht, und jeder kann Computer und Geräte kraft seiner Gedanken steuern.
Eine Dystopie, eine negative Utopie könnte man Andri Magnasons "LoveStar" nennen, doch ist der Roman viel zu lustig, als dass man ihm ein so trübsinniges Etikett anheften möchte. Lieber setzt er auf Slapstick als auf Schauereffekte. Darin auch unterscheidet sich "LoveStar" von Klassikern des Genres wie Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" und George Orwells "1984": Er zeigt uns die Zukunft nicht als beklemmende Vision, sondern als skurrile Groteske.

Die Grundzutaten aber bleiben die gleichen: Es geht um Überwachung, ums Klonen und die Macht der Werbung, kurz gesagt: um Manipulation. Da nimmt es nicht wunder, dass der 1973 geborene Magnason sich in seiner Heimat Island vehement für den Schutz der Natur und gegen den Einfluss großer Konzerne einsetzt. Jüngst wurde er für dieses Engagement sogar mit dem in Hamburg verliehenen und mit erstaunlichen 75.000 Euro dotierten Kairos-Preis ausgezeichnet.

In "LoveStar" nun, seinem bereits 2002 im Original erschienenen – von Tina Flecken übrigens tadellos übersetzen – Debütroman geht es um eine mittelferne Zukunft, in der die Menschheit, wie es heißt "handbefreit" ist. Der Hauptfigur, einem genialen Ingenieur namens LoveStar ist es gelungen, sogenannte "Vogelwellen" zu isolieren und damit die Kommunikation zu revolutionieren. Ein kleines Gerät reicht, und jeder kann die Computer oder Küchengeräte kraft seiner Gedanken steuern.

Das LoveStar mit seinem gleichnamigen Unternehmen dadurch auch Zugriff auf das Bewusstsein der handbefreiten Menschen hat, ist ein in vielerlei Hinsicht nützlicher Nebeneffekt. Zum Beispiel lässt sich Werbung effizienter steuern, ja ganz individuell einsetzen.

Durch sogenannte "Kräher" etwa wird die Zielperson direkt angesprochen. Da kann es passieren, dass einer durch die Straßen geht und ihm nach und nach verschiedene Leute die Wörter "Geschmeidigkeit", "Dynamik", "Zuverlässigkeit" zurufen, bis ihm quasi als Konklusion hinter der nächsten Ecke ein vielstimmigen "Fooord!" entgegentönt.

Magnasons Ideen sind nicht nur vorausschauend, sondern gerade was die Möglichkeiten maßgeschneiderter Werbung angeht unerschöpflich – und dabei niemals billig oder absehbar. Dass totale Kontrolle allerdings nicht möglich ist, nicht möglich sein darf, auch diesen Grundgedanken teilt Magnason mit seinen großen Vorgängern.

Neben LoveStar, dem seine eigene Macht allmählich unheimlich wird, gibt es noch zwei weitere Hauptfiguren, Indiridi und Sigridur, ein Liebespaar, das leider Gottes nicht "zusammengerechnet" wurde. In LoveStars Welt nämlich herrscht ein extremer wissenschaftlicher Positivismus, der Gott der Statistik und mithin der Glaube, dass es für jeden Menschen den einzig Wahren bzw. die einzig Wahre gibt, den einen Menschen, der auf genau der gleichen Vogelwelle sendet.

Indridi und Sigridur sollen laut Berechnung nicht füreinander bestimmt sein, und so sucht man sie auseinanderzureißen. Ihr Eigensinn passt nicht in das totalitäre Konzept von LoveStar. Dieser Handlungsstrang bietet nun allerhand Gelegenheit für Magnason, seine Fantasie sprühen zu lassen: Epileptische Anfälle spielen im Kampf um die Liebe dabei eine wichtige Rolle, ein menschenfressender Wolf mit Reißverschluss im Bauch und vor allem das "Millionensterne Festival", bei dem alle Toten der Welt, ausgegraben und mit Raketen in den Weltraum verbracht, als Sternenregen wieder zur Erde fallen. Hier zeigt sich einmal mehr, wie eng verschwistert Science-Fiction und Metaphysik im Grunde sind. So vergnüglich wie in "LoveStar" hat man es allerdings noch nicht vorgeführt bekommen.


Besprochen von Tobias Lehmkuhl

Andri Snaer Magnason: LoveStar.
Übersetzt von Tina Flecken.
Bastei Lübbe Verlag, Köln 2010. 300 Seiten, 13,99 Euro.