Hamm-Brücher: Volk soll entscheiden

Hildegard Hamm-Brücher im Gespräch mit Dieter Kassel · 29.06.2010
"Endlich ernsthaft über die Frage der Volkswahl unseres Staatsoberhauptes" zu sprechen, fordert Hildegard Hamm-Brücher, die 1994 für die FDP für das Amt kandidiert hatte. Alle westlichen Demokratien, soweit sie keine Monarchien seien, wählten ihr Staatsoberhaupt direkt.
Dieter Kassel: 1.244 Frauen und Männer wählen morgen unseren neuen Bundespräsidenten, eine davon ist Hildegard Hamm-Brücher. Sie wurde von den hessischen Grünen als Wahlfrau in die Bundesversammlung entsandt. Sie kennt diese Abläufe aber auch aus einer ganz anderen Perspektive, denn vor 16 Jahren, da hat sie schon mal eine solche Wahl miterlebt – damals als Kandidatin. Hildegard Hamm-Brücher war 1994 noch Mitglied der FDP, das ist sie seit acht Jahren nicht mehr, und für die FDP war sie damals Kandidatin für das höchste Amt im Staate. Sie ist jetzt, gut einen Tag, bevor sie diesmal mitwählen wird, einen anderen wählen, für uns am Telefon. Schönen guten Tag, Frau Hamm-Brücher!

Hildegard Hamm-Brücher: Ja, grüß Gott, guten Tag!

Kassel: Nun habe ich es geschildert, 1994 haben Sie das selbst erlebt, damals wurde am Ende Roman Herzog Bundespräsident, und es war von Anfang an klar, dass Ihre Chancen sehr, sehr gering sind – ein bisschen so ähnlich wie jetzt bei Joachim Gauck. Was ist denn das für ein Gefühl, wenn man sich zur Wahl stellt für das wichtigste Amt in diesem Staat und von Anfang an weiß, eigentlich habe ich keine Chance?

Hamm-Brücher: Ich habe gewusst, dass ich keine Chance habe, aber ich habe die Gelegenheit genutzt, dass ich nun zum ersten Mal wirklich als Frau ernsthaft, und zwar neun Monate lang, für dieses Amt kandidiert habe und den Bürgerinnen und Bürgern übermittelt habe und glaubwürdig gemacht habe, dass auch eine Frau dieses Amt sehr gut ausfüllen könnte. Und das war schon noch in einer Zeit, als man Frauen natürlich schon etwas mehr respektierte als zu Beginn meiner Laufbahn, aber es war eine Zeit, wo kein Mensch ernstlich unterstützte, dass eine Frau das machen sollte. Und insofern war es für mich eigentlich eine Herausforderung und auch eine große Chance, auf diese Weise Pionierin gewesen zu sein.

Kassel: Aber hatten Sie nicht damals schon das Gefühl, wenn es die Chance gäbe, dass der FDP-Kandidat am Ende Bundespräsident wird, dann hätte man damals, 1994, wahrscheinlich keine Frau nominiert?

Hamm-Brücher: Genauso war es ja dann auch. Die nächste Kandidatin, Frau Schipanski, hatte keine Chance, Frau Schwan hatte auch keine echte Chance – das ist eben eigentlich noch diese zwar Bereitschaft, jemanden aufzustellen, aber kein Mann, von dem man weiß, dass er verlieren wird.

Kassel: Aber hätten Sie nicht – wir kommen gleich in die Gegenwart, aber lassen Sie mich kurz noch beim Jahr 1994 bleiben – hätten Sie nicht den Vorschlag Ihrer Parteikollegen, sich zur Wahl zu stellen, auch als Beleidigung empfinden können? Denn ist das nicht komisch, wenn jemand sagt, stell dich doch zur Wahl, aber denk dran, du wirst es nicht werden?

Hamm-Brücher: Nein, als Beleidigung habe ich es nicht empfunden, sondern eben als Herausforderung. Ich glaube, gerade bei diesem Amt spielen diese normalen Empfindungen, hoffnungslos zu kandidieren, keine so große Rolle. Jedenfalls war es bei mir überhaupt nicht so, sondern nützlich. Ich hätte ja sogar im dritten Wahlgang weiterkandidiert, wenn der damalige Bundeskanzler Kohl meinen damaligen Vorsitzenden Kinkel nicht furchtbar beschimpft hätte, mich endlich aus dem Verkehr zu ziehen. Und die SPD, die Herrn Rau damals aufgestellt hatte, hatte zum Teil auch eine Neigung, mich dann im dritten Wahlgang zu wählen, aber das gab es alles dann nicht. Kohl befahl das alles, und die FDP war gehorsam. Und damit war meine Kandidatur erledigt.

Kassel: Wie ist denn das heute im Jahr 2010? Ich glaube, Frau Merkel kann man zwar nicht mit Kohl so vergleichen, dass man sagt, die Merkel befiehlt, aber natürlich möchte Angela Merkel, dass zumindest die CDU/CSU- und FDP-Bundestagsabgeordneten und -Wahlmänner und -Wahlfrauen Christian Wulff wählen. Nun wissen wir, bei der FDP ist das zum Teil überhaupt nicht sicher. Ist das gut oder schlecht für die Demokratie, wenn das nicht mehr so klar ist, dass der, der von einer bestimmten Partei entsandt wurde, auch nach derem Willen abstimmt?

Hamm-Brücher: Nein, ich finde es sogar einen Fortschritt, die etwas aufmüpfige Reaktion der Wahlmänner, wenn man wie in diesem Falle ja skrupellos innerhalb von wenigen Stunden, ohne mal einen Vorstand oder ohne mal ein Parteigremium zu fragen, den Herrn Wulff vorschlägt und dann sozusagen alle mit einer Strafe belegen will, die da nicht dann spuren. Das entspricht einfach nicht dem Grundgesetz, das ja im Artikel 38 gebietet, dass der Abgeordnete an Aufträge und Weisungen nicht gebunden ist und nur seinem Gewissen unterworfen. Und insofern ist das ganze Gerede, man solle die Wahl freigeben, irrig, denn die Wahl ist frei. Und wer den Artikel 38 endlich mal beachtet bei dieser Gelegenheit, dann wäre ganz sicher Herr Gauck der Sieger.

Kassel: Im Deutschlandradio Kultur reden wir mit Hildegard Hamm-Brücher, einst FDP-Politikerin bis ins Jahr 2002 und als solche 94 selbst Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin. Mit ihr reden wir über diese, über die morgige Bundespräsidentenwahl, wo sie mit in der Bundesversammlung sitzen wird. Sie haben es gerade selber gesagt, Frau Hamm-Brücher, es wäre, wenn es nach dem Willen des Volkes ginge, Joachim Gauck der nächste Bundespräsident. Und das kann man auch mit Zahlen belegen, da gibt es seriöse Umfragen, die sagen, 52 Prozent der Deutschen würden ihn wählen, wenn sie ihn direkt wählen könnten. Man beobachtet das auch in der Presse – von der linken über die liberale bis zur eher konservativen –, die schreiben auch alle viel mehr und viel lieber über Gauck. Aber wenn wir mal bedenken, dass da die Mehrheit offenbar einen Präsidenten möchte, der wirklich kein Politiker ist, sagt das auch was aus über das Verhältnis der deutschen Bürger im Moment zur Politik?

Hamm-Brücher: Ja. Ich glaube, dass das Staatsoberhaupt in dem Sinne, wie das heute formuliert ist, definiert ist, kein Politiker sein sollte sogar, sondern die Unabhängigkeit seines Amtes, seine Position und seine Aufgaben sind besser aufgehoben, wenn er nicht aus dem Parteilager kommt. Also davon bin ich fest überzeugt. Und ich bin jetzt nach diesen verschiedenen schlechten Erfahrungen mit der Bundesversammlung auch der Meinung, man müsste doch nun mal endlich ernsthaft über die Frage der Volkswahl unseres Staatsoberhauptes sprechen und dann für eine Legislaturperiode – und die kann dann sieben Jahre sein. Alle westlichen Demokratien, soweit sie keine Monarchien sind, alle wählen ihr Staatsoberhaupt. Und man hat das deshalb nicht gemacht, weil man von der Weimarer Republik dann mit dem Hindenburg schlechte Erfahrungen hatte. Aber mittlerweile sind unsere Bürger auch mündiger geworden, und von daher gesehen, sollte man die Volkswahl nicht mehr argumentativ mit der Weimarer Republik vergleichen.

Kassel: Frage, Frau Hamm-Brücher, an eine Frau, die die gesamte Bundesrepublik und damit alle Bundespräsidenten, die es bisher gab, ja als Bürgerin erlebt hat, als Politikerin auch, aber ich will jetzt mit der Bürgerin sprechen an dieser Stelle: Wie wichtig ist denn das Amt des Bundespräsidenten überhaupt für dieses Land?

Hamm-Brücher: Mein politischer Ziehvater, der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, hat mal die sehr schöne Definition geprägt, dass der Bundespräsident – das ist so eine englische Definition – der Bundespräsident muss ermutigen und er muss warnen. Und diese beiden Funktionen sind in unserer Lage so wichtig, dass man schon sagen kann, wenn er auch keine Macht im politischen Sinne hat, er hat aber eine ganz starke Wirkungsmöglichkeit mit diesen beiden Vorhaben: zu ermutigen – das hat unsere Demokratie dringend nötig und das macht der Gauck übrigens vorzüglich in seinen Vorstellungsveranstaltungen – ermutigen und warnen, warnen vor Fehlentwicklungen, und da ist auch allerhand zu tun.

Kassel: Joachim Gauck hat, als die Grünen und die SPD ihn vorgestellt haben als ihren Kandidaten, ganz trocken gesagt auf die Frage, ob ihm denn nicht klar ist, dass die Chance gering ist: Ich kann rechnen. Und damit hat er ja zum Ausdruck gebracht, er glaubt nicht so richtig daran, dass er Bundespräsident wird. Danach, in dieser relativ kurzen Zeit, ist aber noch viel passiert, finde ich, was die Diskussion angeht. Glauben Sie, dass er eine Chance hat morgen?

Hamm-Brücher: Ich glaube nicht, dass er eine Chance hat. Er hat eine große Chance für einen Achtungserfolg, und der Achtungserfolg schon alleine ist blamabel für die Regierung, für die Art, wie sie die Sache durchdrücken wollten. Also ich glaube, da müsste ja ein Wunder geschehen, aber ich denke nicht, dass er gewählt wird. Aber er hat ein Stück einer Demokratie verkörpert, die ein Parteiprofi nicht verkörpern kann. Und danach sehnen sich die Menschen.

Kassel: Hildegard Hamm-Brücher, ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen morgen die richtige Entscheidung, aber die werden Sie schon treffen, davon bin ich überzeugt. Danke!

Hamm-Brücher: Ich gebe mir Mühe wie immer. Danke schön!

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