Hamburger Premiere

Die letzte große Flut

Von Michael Laages · 12.02.2015
Katie Mitchell setzt Samuel Becketts "Glückliche Tage" unter Wasser. Diese Bild-Erfindung im Hamburger Schauspielhaus ist grandios: Sie wirkt weitaus bedrohlicher als der bei Beckett vorgeschriebene Sandhaufen. Am Solo-Palaver im Angesicht der Apokalypse hat sich aber nichts geändert.
Theaterarbeit mit den Texten des modernen Klassikers Samuel Beckett ist ähnlich ungemütlich (und oft unproduktiv, ja geradezu langweilig) wie beim anderen großen Klassiker des vorigen Jahrhunderts, Bertolt Brecht. Denn wie Brechts Erben hat noch Beckett selbst das eigene Werk kanonisiert; Änderungen etwa in der Besetzung sind strengstens verboten. Das Personal des berühmten "Warten auf Godot" etwa darf auf keinen Fall weiblich sein, auch nicht in Teilen ... und in "Glückliche Tage" muss die Hauptfigur Winnie (eine Frau, immerhin!) zunächst bis zum Nabel und dann bis zum Hals in einem Erdhaufen sitzen, wenn sie vom eigenen und dem Ende aller Zeit und Welt palavert. Die neue Inszenierung der Engländerin Katie Mitchell fürs Deutsche Schauspielhaus in Hamburg birgt also zumindest eine Überraschung – aber die hat es in sich.
Nicht in Sand, in trübem Wasser sitzt die Hamburger Winnie in Becketts apokalyptischem Endspiel; bis zum Nabel zunächst und später bis zum Hals, quasi Oberkante Unterlippe, steht das Wasser im zweiten Teil. Nur eine falsche Bewegung, so scheint es, und sie müsste elend ersaufen. Diese Winnie lebt so gerade eben noch, vorm Einschlafen bewahrt durch gemein lautes Alarmklingeln, und ihr Raum ist eine komplett überschwemmte Wohnung; im ersten Teil ragen noch Stühle und ein Tisch, Sofa und Kommode aus dem Wasser, hinten sind auch Teile einer Küche zu sehen, Herd und Spüle, und draußen vor dem Fenster knallt aus leicht bewölktem Himmel die Sonne auf friedlich-grünhügelige Landschaft, als wär's (vielleicht) ein Bild von Magritte. Nur die Bäume sind arg verkrüppelt und kahl. Und das Wasser steigt.
Das Wasser steht und fließt nicht ab
Über diese ohnehin schon zu Beginn atemberaubende Bühnen-Konstruktion von Alex Eales legt sich im zweiten Teil obendrein ein Effekt, der lange grübeln lässt, wie er wohl zustande kommt ... die Wasserfläche nämlich scheint sich links aus dem Bild hinaus zu neigen; was jeder Physik widerspricht, denn das Wasser steht ja und fließt eben nicht nach links ab. Erst mit der Zeit sind die Veränderungen im (offenkundig wasserdichten) Bühnenkasten auszumachen – er ist nun selber stark nach rechts geneigt, und mit ihm ist es die Landschaft draußen; und die Beleuchtung macht, dass das kaum sehen ist. Das Wasser hingegen benimmt sich wasserwaagengerecht wie immer.
Diese Bild-Erfindung ist grandios. Denn sie ist eindeutig stärker und wirkt weitaus bedrohlicher als der bei Beckett vorgeschriebene Sandhaufen. Sand lässt sich wegschaufeln, das Wasser einer Überschwemmung nicht; ihm ist alles Leben, ist die Welt schlicht ausgeliefert, bis die Pegelstände sinken. Hier steigen sie noch. Es ist nicht nur fünf nach zwölf, die Uhren sind schon lange stehen geblieben. Nur Winnie meint noch, es sei fünf vor, es bliebe noch Zeit ... Und so übernimmt der mögliche Weltuntergang persönlich die Hauptrolle in diesem Blick auf Beckett.
Als gäbe es die Option des Überlebens
An Winnies großem Solo-Palaver hat Mitchells Inszenierung nichts verändert – zu Beginn (und trotz schwindendem Augenlicht) besitzt sie noch die Übersicht über "die Dinge": Zahnbürste, Taschentuch, Brille, Spiegel, Lippenstift, auch die Pistole, die in der vollgekramten Tasche lauert und so etwas wie die letzte Rettung sein könnte. Dann wird sie fahriger – in Fragmenten deliriert sich die Frau durchs eigene Leben, und da der Gatte Willie prinzipiell anwesend ist im überschwemmten Zimmer, spricht sie immer auch mit ihm – auch wenn er kaum noch antwortet. Vors Fenster und in die brennende Sonne kriecht er, oder ins Wohn-Loch, das oberhalb der Bühne in die Wand gestemmt ist, als hätten hier neue Wasserleitungen gelegt werden sollen. Dann kam nicht nur ein Rohrbruch, sondern gleich die Flut ... Am Ende – Winnie japst nur noch knapp über Wasser – kommt Willie in Frack und Zylinder hereingekrochen; wie ehedem zur Hochzeit, wie vielleicht jetzt zur Beerdigung ... hat er die Waffe in der Tasche?
Paul Herwig und Julia Wieninger spielen dieses eigentlich noch sehr lebendige, ungewöhnliche jugendliche Paar ganz so, als gäbe es noch die Option zu überleben. Sie beglaubigen so das Denk-Modell, das Becketts "Endgames" zu Grunde liegt, diesen "Endspielen", die mitten im kältesten Krieg Ende der 50er- und Anfang der 60er-Jahre entstanden, unter der stetigen Bedrohung durch die von beiden politischen Weltmächten strategisch positionierte Atombombe zur gegenseitigen Vernichtung per Erst- und Zweitschlag. "Endspiel", das berühmtere, und "Glückliche Tage", weniger häufig im Spielplan, sind Texte vor der finalen Apokalypse – die aber nur zeigen, dass sie schon eingetreten ist.
Ganz praktisch und fundamental hat Katie Mitchell sie kenntlich gemacht auf der Bühne: als letzte große Flut.
Informationen des Deutsches Schauspielhauses Hamburg zur Inszenierung von "Glückliche Tage"
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