Hamburger Musical

Phantom-Punk in der Roten Flora

Die Opernsänger Tim Maas als Phantom und Luise Hansen als Christine während der einmaligen Performance des Musicals "Phantom der Oper" auf dem Balkon des Kulturzentrums "Rote Flora".
Die Opernsänger Tim Maas als Phantom und Luise Hansen als Christine während der einmaligen Performance des Musicals "Phantom der Oper" auf dem Balkon des Kulturzentrums "Rote Flora". © Daniel Bockwoldt/ dpa picture-alliance
Von Alexander Kohlmann · 15.08.2015
Musical im umkämpften Raum: Mit 25 Jahren Verspätung ist das "Phantom der Oper" doch noch in die besetzte "Rote Flora" im Hamburger Stadtteil Sternschanze eingezogen. Hunderte sahen eine Inszenierung, die auch in jedem echten Opernhaus ihresgleichen gesucht hätte.
Es ist jetzt 25 Jahre her, dass Investoren das Musical "Phantom der Oper" in das alte Flora-Theater im Hamburger Szene-Stadtteil Schanze bringen wollten. Um ihr Vorhaben umzusetzen, rissen sie damals erstmal den allergrößten Teil des historischen Gebäudes ab, übrig blieb nur der Torso des Eingangsbereichs, durch den künftig Millionen von Bustouristen strömen und Andrew Lloyd Webbers Musik-Show genießen sollten.
Doch es kam anders. Eine Protestgemeinschaft von Linksautonomen und Anwohnern brachte das Projekt zu Fall. Die Bauruine wurde als Hamburgs prominentestes besetztes Haus zur "Roten Flora", ein gruseliger, heruntergekommener Bau, um den sich bald ganz eigene Legenden rankten, vor allem die der Unbesiegbarkeit. Bürgermeister und Senatoren kamen und gingen, die Flora blieb besetzt und wurde ungewollt zum Markenkern des Sternschanzen-Viertels.
Ein Punk-Phantom kämpft für gerechte Mieten
Dass ausgerechnet hier, 25 Jahre später, doch noch das "Phantom der Oper" zur Uraufführung kommt, ist eine Idee, die ein Regisseur auf einer großen Opernbühne kaum interessanter hätte in Szene setzen können. Das Gebäude und seine Geschichte werden in der einmaligen Performance, die der Künstler Christoph Faulhaber mit Studierenden der Hochschule für Musik und Theater in Szene gesetzt hat, zu einer faszinierenden Kulisse, die unterschiedliche Zeit- und Bedeutungsebenen in sich vereint.
Denn die "Rote Flora" wird zur Zeit renoviert - der Senat hat das Haus inzwischen gekauft und will es als "besetztes Haus" erhalten. Auf die Bauplane hat Faulhaber den Ur-Zustand des Hauses von der Jahrhundertwende drucken lassen, eine weiße Trutzburg der Unterhaltungsindustrie. Blau angestrahlt werden die Planen zur Dekoration für ein Phantom der anderen Art. Über eine Videoleinwand verfolgen Hunderte, wer in dem Graffiti-besprühten Flora-Innenräumen sein Lager aufgeschlagen hat. Ein Punk mit stacheligen Klamotten und filzigen Haaren wird zum Ausgestoßenen der Gesellschaft. Das Flora-Phantom fordert gerechte Mieten und wehrt sich gegen das schöne Hamburg und sein Vermarktungstalent. Eine riesige, flackernde Diskokugel hebt ein Baukran über die Szenerie, eine moderne Form des Kronleuchters als Sinnbild der Hamburger Glamour-Welt.
Phantom sein bedeutet hier Vermummung
Die schöne Sängerin Christine wird zum schicken Hamburger Mädel der Gegenwart. Auf dem Flora-Balkon schwankt sie zwischen dem Phantom-Punk und dem Hamburger Großreder Raoul, der im Original ein französischer Adeliger und hier ein Millionenerbe ist, mindestens. Auf dem Video sehen wir, wie Christine mit dem Punk-Phantom durch ein Spiegel-Labyrinth auf der Hamburger Dom-Kirmes zieht, während alle Zuschauer zuvor ausgeteilte Phantom-Masken aufsetzen. Phantom sein bedeutet in dieser Inszenierung auch Vermummung, ist eine kollektive Form des Widerstands gegen die verhasste Staatsmacht. Da passt es sehr gut, dass vor der Aufführung linke Demonstranten der Gegenwart als eine Art unfreiwilliger Chor durchs Schulterblatt ziehen und sich friedlich zwischen hunderte Zuschauer einreihen, die hier bei Schummerlicht eine Geschichte aus Hamburg verfolgten.
So machen die verschwimmenden Bedeutungsebenen vor allem Lust auf eine anderen Umgang mit dem Kulturgut Musical, das nur allzu oft von den Stadttheatern als reiner Kassenschlager behandelt wird. Das muss gar nicht immer im öffentlichen Raum passieren. Inspirierende Auseinandersetzungen wie diese könnten auch in jedem echten Opernhaus funktionieren.
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