Halbierte Literaturgeschichte

Siegfried Lokatis im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 15.03.2011
Gustav Kiepenheuer verlegte Bücher von Autoren wie Bertolt Brecht, Anna Seghers oder Heinrich Mann. Nach der Teilung wurde sein Erbe in verschiedenen Häusern in der DDR und der BRD fortgeführt. Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag erzählen davon in "100 Jahre Kiepenheuer-Verlage".
Liane von Billerbeck: Mit Siegfried Lokatis, der gemeinsam mit Ingrid Sonntag das bei Ch. Links erschienene Buch über 100 Jahre Kiepenheuer-Verlage herausgegeben hat, bin ich jetzt in Leipzig verbunden. Ich grüße Sie!

Siegfried Lokatis: Guten Tag, Frau von Billerbeck!

von Billerbeck: Was für ein Mensch war dieser Gustav Kiepenheuer?

Lokatis: Er war vor allem ein faszinierender Mensch und Verleger, jemand, der damals es verstand, Lektoren an sich zu binden, Autoren an sich zu binden, und um den es viele wunderbare Geschichten und Anekdoten gibt. Die Verleger damals, die lebten ja – wenn Sie nur an Leute wie Rowohlt denken oder Kippenberg vom Insel-Verlag – in einer Szene, in der auch viel gefeiert und getrunken wurde, und es gibt die Erzählung, wie Gustav Kiepenheuer dann sein Auge spät abends aus der Augenhöhle herausnimmt und über den Tisch kullern lässt, es gibt den Rowohlt, der dann anfängt, sein Sektglas aufzuessen. Diese Geschichten findet man heute nicht mehr leicht so auf diese Weise, und ich denke, dass so etwas auch zu der Faszination dieses Mannes beiträgt. Und dazu beiträgt natürlich auch die Weise, wie er in den unterschiedlichsten politischen Systemen immer seinen Weg gegangen ist und immer Autoren gefunden hat und immer Lektoren gefunden hat und immer dafür gesorgt hat, dass es gute Bücher gibt auf einem Niveau, wo er sich nicht viel hat abbeißen lassen durch ökonomische Zwänge.

von Billerbeck: Verleger sind ja, das weiß jeder Autor, immer sehr vieles: Sie sind Geldzusammenhalter, sie sind Psychologen, sie sind Lektoren, sie sind Vater und Mutter der Autoren und manchmal auch Einpeitscher, damit die Autoren die Termine einhalten, das kennen wir ja. Gehörte Gustav Kiepenheuer auch zu diesem Typus?

Lokatis: Na, er interessierte sich auch sehr für Literatur, aber man muss ja beides sein als Verleger, und das war Kiepenheuer in hervorragendem Maße. Was eigentlich sein Geschäftsgeheimnis war, meiner Meinung nach, war, dass er immer auch sehr kostbare, bibliophil wertvolle Bücher herzustellen verstand, die ihm dann auch Kredit verschaffen konnten, wenn er mal kein Geld hatte. Er war, das haben wir zeigen können, immer äußerst großzügig zu seinen Autoren, der Verlag war fast dauernd überschuldet, und im Grunde genommen stellt das Buch einen mathematischen Beweis dar, dass man ohne eine grandiose Vertriebsorganisation, wie man sie heute zum Beispiel mit Buchgemeinschaften hat, einen hoch berühmten Verlag mit fantastischen Autoren betreiben kann, die jeder kennt, und trotzdem steht man immer im Minus und muss Vorschüsse mehr zahlen, als man einnimmt.

von Billerbeck: Ich weiß nicht, ob alle Verleger der Gegenwart Ihnen da heute zustimmen würden – immerhin. Kiepenheuer, wenn ich mich an frühere Zeiten erinnere, dann galt der, jedenfalls in der offiziellen Sicht der DDR, immer als lupenrein links und pazifistisch, aber Kiepenheuer hat zumindest im Ersten Weltkrieg auch mit Militaria Geld verdient. Wie passt das zu diesem Bild?

Lokatis: Es ist so, dass in der Tat der Kiepenheuer-Verlag 1914/1915 sich auf diesen Markt gestürzt hat, dass eine Reihe von Büchern erschienen sind wie "Unser heiliger Krieg", und es ist so, dass wir, wenn wir das im Ganzen sehen, jetzt über 100 Jahre, die ganz seltene Chance sehen, wie hat dieser Verlag sich im ersten Krieg verhalten, wie im Zweiten Weltkrieg, und nach 1940/41 war ja ökonomisch betrachtet für viele Verleger eine ökonomisch sehr ertragreiche Zeit, und das galt dann auch wieder für den Kiepenheuer-Verlag.

von Billerbeck: Aber wenn Sie die Jahre zwischen 1925 und 33 mal nehmen, waren das für Kiepenheuer so die beste Zeit, und welche Rolle spielte der Verlag in der Weimarer Republik?

Lokatis: Auf jeden Fall. Und wenn ich das vorhin gesagt habe, dass selbst mit diesen Autoren der Verlag eigentlich immer kurz vor der Pleite stand, müssen Sie ja auch bedenken, was das für Zeiten waren – die Nachkriegszeit, die Verarmung des Bürgertums mit der Inflation 1923, dann ab 1929/30 die Wirtschaftskrise, da hätte wahrscheinlich kein Verlag auf der Welt bessere Ergebnisse erzielen können. Aber es ist natürlich die Blütezeit. Bertolt Brecht wird entdeckt, Anna Seghers wird entdeckt, Zuckmayer ist im Verlag, Heinrich Mann ist schließlich im Verlag. Und das sind natürlich alles auch Autoren, mit denen man 1933 nicht viel machen kann und die das Verlagsprogramm mehr oder weniger dazu verurteilen, zu 75 Prozent auf die Listen der Nationalsozialisten zu gehen, das weitgehend den Bücherverbrennungen zum Opfer fällt. Es ist allerdings schwer zu sagen, ob dieser Verlag wirtschaftlich hätte weitermachen können so in dieser Form, wenn der Nationalsozialismus nicht gekommen wäre. Aber das ist eine hypothetische Frage.

von Billerbeck: Sie haben es schon erwähnt, Dreiviertel des Verlagsprogramms landete bei der Bücherverbrennung auf den Scheiterhaufen, viele Autoren von Kiepenheuer gingen ins Exil – wie konnte der Verleger da weitermachen?

Lokatis: Er hat zunächst versucht, mit Verlagen wie Rowohlt eine Kooperation auf die Beine zu bringen. Er hat dann, glaube ich, seine Bestände doch an seine ehemaligen Kollegen, die Lektoren Lanzow und Kästner (Anm. d. Redaktion: Namen wie gehört) auch nach Amsterdam verkaufen können, wo praktisch die Kultur der Emigrationsverlage über Querido hochgezogen wurde. Das waren alles kleine Mittel, und er hatte so etwas wie ein Schutzschild – sein Sohn war ein berühmter Sonnenphysiker. Solche Elemente kommen dann zusammen. Insgesamt ist er ein Nischenverlag – er macht in Reiseliteratur, er macht in internationaler Literatur –, und so quält er sich eigentlich durch diese Jahre, hat aber dann natürlich einige Titel internationaler Literatur, die ihn 1940/41 ganz gute Bilanzen ermöglichen, wie jedem Verlag in dieser Zeit.

von Billerbeck: Siegfried Lokatis ist bei mir zu Gast, der Leipziger Professor für Buchwissenschaften hat gemeinsam mit Ingrid Sonntag ein Buch über 100 Jahre Geschichte der Kiepenheuer-Verlage herausgegeben, das bei Christoph Links erschienen ist. Durch die Teilung Deutschlands in zwei Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg, Herr Lokatis, da gab es auch mehrere Kiepenheuer-Verlage – Kiepenheuer & Witsch in der Bundesrepublik und Gustav Kiepenheuer in der DDR –, und diese Verlage waren grenzübergreifend tätig. Welche Folgen hatte das?

Lokatis: Es hatte vor allem die Folge, dass bis vor Kurzem – das haben wir noch bei der Vorbereitung des Buches gespürt –, es Mythen gab, gegenläufige Erzählungen: Wer ist der richtige Kiepenheuer-Verlag? Wo man auf der einen Seite die Weimarer Tradition hochgefahren hat, was war Gustav Kiepenheuers letzter Wille, was hat seine Witwe gesagt? Und wo man dann in Köln, also bei Kiepenheuer & Witsch, dann auch die Geschichte erzählt hat, die so auf jeden Fall nicht stimmt, dass Gustav Kiepenheuer praktisch auf dem Weg zum Bahnhof mit der Fahrkarte in der Hand nach Köln gestorben sei. Und Sie dürfen ja nicht vergessen, es gibt noch einen weiteren Kiepenheuer-Verlag, den Bühnenvertrieb in Berlin. Kurz und gut, es gibt verschiedene Kiepenheuer-Verlage, und man kann sagen, das ist ziemlich sicher, dass die Leute im Osten hauptsächlich den Verlag in Weimar kennen, der in den 70er-Jahren dann eine große Blüte noch einmal erlebte, und dass der westdeutsche Leser hauptsächlich Kiepenheuer & Witsch kennt. Und das hat zum Teil sogar die Folge, dass Bücher aus den 20er-, 30er-Jahren heute immer noch in Antiquariaten unter Kiepenheuer & Witsch zitiert werden, obwohl Kiepenheuer & Witsch unter dem Namen erst 1951 gegründet worden ist.

von Billerbeck: Ist bei Kiepenheuer auch der Kalte Krieg ausgetragen worden? Denn ich erinnere mich ja, dass nach der Ausbürgerung Biermanns dessen Sachen auch bei Kiepenheuer & Witsch in Köln erschienen sind.

Lokatis: Aber sehr, und das zunächst auf eine etwas asymmetrische Weise. Man muss sagen, dass der eigentliche Hausverlag Gustav Kiepenheuer zunächst eine Art Schneckendasein in der Provinz führte, der, nachdem er große Schwierigkeiten hatte, seine Lizenz zu bekommen und nach dem frühen Tod des Verlegers mehr oder weniger weitermachte, während seine großen Autoren waren ja an den Aufbau Verlag gegangen: Feuchtwanger, Seghers, Brecht, Sie können sagen, die komplette Elite des Aufbau Verlages stammt ursprünglich ja von Gustav Kiepenheuer. Auf der anderen Seite Köln, von Witsch gegründet, der aus der SBZ geflohen war, der dort zunächst als Zensor tätig gewesen war, aber danach in Köln sehr stark eine Propaganda-Aktivität entfaltet hat, sehr intensiv gegen dieses System, das er ja jetzt kennengelernt hatte, dieses repressive Zensursystem gearbeitet hat, der stark unterstützt worden ist von der Adenauer-Regierung, von CIA-Stellen, der dann aber auch tolle Bücher gemacht hat. Eben auch Bücher wie Leonard, "Die Revolution entlässt ihre Kinder" und solche Dinge, oder auch Manès Sperber, "Wie eine Träne im Ozean", also einen antisowjetischen Diskurs auf einem sehr hohen Niveau geführt hat und zum Teil eine Art Speerspitze des sogenannten dritten Weges geworden ist.

von Billerbeck: Man spricht ja im Zusammenhang mit einem anderen großen Literaturverlag, mit Suhrkamp nämlich, von der Suhrkamp-Kultur, die ja insbesondere von dessen Verleger Siegfried Unseld kreiert und garantiert wurde. Was bleibt, Herr Lokatis, von Kiepenheuer? Gab es da auch eine Kiepenheuer-Kultur?

Lokatis: Die scheint es zu geben, denn wir haben eine Menge von Reaktionen von ehemaligen Lesern und Freunden des Verlages, was wir nicht für möglich gehalten hätten – der Titel des Buches "100 Jahre Kiepenheuer-Verlage" ist ja alles andere als verkaufsfreundlich –, aber diese Fangemeinde scheint es zu geben und hat sich tief eingefressen. Es gibt selbstverständlich einen großen Einfluss von Kiepenheuer & Witsch, und man muss ja auch sagen, dass seit den 60er-Jahren Kiepenheuer & Witsch ein ganz wichtiger Verlag und Motor auch eher auf der linken Seite des politischen Spektrums geworden ist – ich erinnere nur an Autoren wie Heinrich Böll und Wallraff und viele andere. Und natürlich gibt es da eine Kultur. Man muss sagen, es gibt heute viele Kiepenheuer-Kulturen, manche, die es nicht wissen, weil ja Kiepenheuer auch – Kiepenheuer Weimar – ja auch seine Bücher nicht offen in die Bundesrepublik verkauft hat, sondern oft unter der Firma von westdeutschen Verlagen.

von Billerbeck: Sagt Siegfried Lokatis, der gemeinsam mit Ingrid Sonntag ein Buch über 100 Jahre Kiepenheuer-Verlage herausgegeben hat, und das ist bei Ch. Links erschienen. Ich danke Ihnen!

Lokatis: Vielen Dank, Frau Billerbeck!