"Halbgötter in Bunt"

Sewan Latchinian im Gespräch mit Susanne Führer · 28.09.2010
In der DDR waren die Theater ein Forum für öffentliche Diskussionen, sagt der Intendant des Theaters Senftenberg Sewan Latchinian. Und heute? Da helfen die Spielstätten den Ostdeutschen bei der Suche nach einer neue Identität.
Susanne Führer: 20 Jahre vereinigtes Deutschland, unser Thema in dieser Woche im "Radiofeuilleton". Heute wollen wir darüber sprechen, wie die ostdeutschen Theater durch diese Zeit gekommen sind, und zwar mit Sewan Latchinian. Er wurde 1961 in Leipzig geboren, war an der Schauspielschule "Ernst Busch" in Berlin, in der Wende- und Nachwendezeit dann Schauspieler am Deutschen Theater in Berlin mit Engagements in Ost- wie in Westdeutschland und ist seit 2004 Intendant des Theaters in Senftenberg in der Lausitz in Brandenburg. Guten Morgen, Herr Latchinian!

Sewan Latchinian: Guten Morgen, Frau Führer!

Führer: Ja, 3. Oktober kommenden Sonntag – ein Feiertag für Sie?

Latchinian: Na ja, zum Feiern ist mir nicht wirklich zumute, aber ein Tag der Freude ist es schon. Es ist sicher das beste Deutschland, das es je gab, in dem wir momentan leben dürfen, und ich will die DDR so, wie sie war, auch nicht wieder. Aber vieles wäre besser und anders möglich gewesen, wenn man sich an den Tag heute vor 20 Jahren erinnert.

Führer: Sie wollen die DDR nicht zurück, wie sie war. Wir blicken mal trotzdem zurück in die DDR, wie sie war, also vor allen Dingen in Bezug auf die Theater: Die hatten ja eine enorme Bedeutung in der DDR. Über die Literatur – für die galt das ja ähnlich – hat man immer gesagt, na gut, die hat die freie Presse im Grunde genommen ersetzt. Wie war das mit den Theatern?

Latchinian: Die Demokratie, die in der DDR ja nicht wirklich sehr entwickelt war, ist schon auch auf den Theaterbühnen als Forum sozusagen versucht worden wirklich ernst zu nehmen. Insofern waren das schon auch Orte, die Ersatz für öffentliche Diskussionen und Demokratieüberlegung waren. Jedenfalls die Bühnen, die das gewagt haben, das waren nicht alle.

Führer: Also in den Büchern hat man zwischen den Zeilen gelesen und da hat man dann zwischen den Sätzen gehört, oder wie …

Latchinian: … ja, es gab so was wie eine zweite Sprachebene, also man kann auch von einer Art Sklavensprache sprechen, die es zu allen Systemen gab, wenn auf der Bühne gegen Diktaturen oder andere sehr einseitige autoritäre Systeme angespielt wurde. Also ein Beispiel in einem Theaterstück, das ich geschrieben habe, das leider zu DDR-Zeiten nicht gespielt werden durfte, hat eine Staatsbürgerkundelehrerin versucht, eine ostdeutsche Sportlerin zu überzeugen, das Kind von einem Westberliner wegmachen zu lassen mit dem Satz: Irren ist menschlich und menschlich ist der Sozialismus. Da ist natürlich genau zwischen den zwei Satzhälften eine dritte Wahrheit, die einerseits den Sozialismus zu loben scheint, aber andererseits auch auf viele Irrtümer hinweist. Und so hat das Publikum natürlich gelesen und gehört.

Führer: Dann kann ich mir vorstellen, Herr Latchinian, dass damit auch die Menschen am Theater, die Schauspieler, die Regisseure, die Dramaturgen, ja auch eine enorme Bedeutung, also ein, sagen wir mal das Gefühl einer enormen Bedeutung gehabt haben müssen, oder? Wurden die bewundert?

Latchinian: Na ja, wenn man heute von Ärzten als den Göttern in Weiß spricht, würde ich schon sagen, dass Schauspieler so was wie Halbgötter in Bunt waren. Sie hatten eine große Freiheit verglichen zu sagen wir mal dem Durchschnitts-DDR-Bürger; andererseits war es eben auch die Freiheit des Hofnarren, der zwar auch vieles anmahnen kann oder vieles bemerken darf, was man so passieren lässt, aber was dann doch relativ folgenlos bleiben musste.

Führer: Sie waren ja in den aufregendsten Zeiten, also 1989, in Berlin Schauspieler am Deutschen Theater. Und das wird ja immer wieder genannt im Zusammenhang mit dieser berühmten Demonstration vom 4. November 1989, als sich da eine halbe Million Menschen am Alexanderplatz versammelt haben, Christa Wolf hat gesprochen, Gregor Gysi, Stefan Heym. Welche Rolle spielte denn eigentlich nun genau das Deutsche Theater, können Sie das mal aufklären?

Latchinian: Na ja das Deutsche Theater war sicher zu allen Zeiten und in allen Diktaturen etwas Besonderes und hatte eine Ausnahmestellung. Das hatte sicher mit der hohen Qualität der meisten Künstlerinnen und Künstler dort zu tun, die sich vom Nationalsozialismus nicht haben vereinnahmen lassen und auch in der DDR eine Mischung aus sozusagen Sympathie und Kritik gelebt haben auf der Bühne. Aber es war eine aufregende Zeit, und dennoch waren wir sozusagen vom Deutschen Theater in Berlin nicht die Mutigsten, da waren Kollegen in Dresden oder auch in Leipzig erst mal viel früher mutig im sozusagen Aus-den-Rollen-Heraustreten und Auf-die-Straße-Treten oder Mit-Resolutionen-vor-den-Vorhang-Treten.

Und dennoch war das eine wichtige Zeit, in der zum Beispiel eben diese berühmte und mir sehr liebe Demonstration am 4. November erfunden wurde, als nämlich eingeladen wurde, dass alle Theatermacher der Republik Delegationen sozusagen entsenden dürfen, um zu beraten im Deutschen Theater, was wir gemeinsam tun könnten. Und das Bedürfnis war groß, sich zu artikulieren und ja über vielleicht einen besseren Versuch der DDR zu sprechen.

Und da stand – Sie haben den Namen schon erwähnt, das wissen die wenigsten – so ein kleiner Rechtsanwalt auf, der hieß Gregor Gysi und der sagte, also ihr müsst keine Angst haben zu demonstrieren, das ist eigentlich verfassungsmäßig im DDR-Grundgesetz – oder in der DDR-Verfassung hieß es damals ja – verankert, da gibt es Versammlungs- und Meinungsfreiheit, lasst uns eine Demonstration anmelden, ich hab das gute Gefühl, die könnte genehmigt werden. Und daraus ist dann tatsächlich diese riesige – von einer halben Million Teilnehmern wird ja gesprochen – Demonstration in Berlin entstanden.

Führer: Sewan Latchinian, Intendant des Theaters Senftenberg im Gespräch im Deutschlandradio Kultur. Herr Latchinian, nach dem Mauerfall ging es ja zunächst den Theatern wie vielen anderen Betrieben in der DDR auch, ihre Produkte wollte niemand mehr haben. Wie haben die Theater reagiert, wie haben Sie das erlebt? Das muss doch eine furchtbare Kränkung gewesen sein?

Latchinian: Na ja, da Theater natürlich nicht das Wichtigste auf der Welt ist und es ein Leben neben dem Theater gibt, hab ich es – und ich nehme an, die meisten – nicht wirklich als Kränkung empfunden. Wir haben schon selber ja auch in uns gemerkt, dass es plötzlich eine Verschiebung von Interessen gibt, und dass man erst mal selber jetzt Lust hatte, sich die Welt anzuschauen, um vielleicht eine noch richtigere Weltanschauung zu bekommen.

Und so, wie es vielen Kollegen schwergefallen ist, sich immer wieder ins Theater zurückzubegeben zu Proben und Vorstellungen, so hatten wir schon Verständnis, dass die meisten Menschen weniger ins Theater gehen, als erst mal selber sozusagen sich umzuschauen. Aber der Bedeutungsverlust war schon enorm, und er hat vielleicht unsere Wirkungsmächtigkeit auf ein realistisches Maß reduziert, würde ich mal sagen. Denn es wäre jetzt falsch, sich diktatorischere Verhältnisse zu wünschen, damit die Rolle des Schauspielers wichtiger ist und er die Freiräume nutzen kann, die andere nicht haben. Also die Vorzüge dieses Nachteils haben den Nachteil schon überwogen.

Führer: Also es musste ja ein Prozess einsetzen, dass die Theater sich dann besannen, was ist denn die eigentliche Aufgabe des Theaters?

Latchinian: So ist es.

Führer: Sie sind ja Intendant eines kleinen Theaters in einer kleinen Stadt, Senftenberg, 27.000 Einwohner, das liegt in der Lausitz in Brandenburg. Wie schaffen Sie das, was sehen Sie … Sie haben es immerhin geschafft, 2005 Theater des Jahres zu werden. Sie haben glaube ich mehr Zuschauer als die Stadt Einwohner hat …

Latchinian: Ja, wir haben sogar das Dreifache an Zuschauern im Vergleich zur Einwohnerzahl. Aber das haben wir sicher dadurch geschafft, dass wir uns um die Identität unserer Menschen kümmern in der Stadt oder in der Region, dass wir deren Geschichte und Geschichten erzählen, dass wir mit ihnen auf der Suche sind nach einer neuen Identität, die es so richtig noch nicht wirklich gibt, und dass wir hier gebraucht werden, wo eben nicht das Gefühl vorherrscht wie in manchem älteren Bundesland, das Ende der Geschichte sei schon erreicht, sondern wo es eben auch durch die Erfahrung von vor 20 Jahren eine ganz andere soziale und gesellschaftliche Fantasie immer noch gibt, weil man weiß:

Alles, was scheinbar unabänderlich scheint, ist doch veränderbar. Und das ist eine gute, ein gutes Klima für Theater, fast schon wieder in einigen Punkten ähnlich wichtig wie zu DDR-Zeiten, weil manche Muster kommen ja dann doch auch aus DDR-Zeiten bekannt vor. Wenn ich daran denke, wie oft auch Entscheidungen im Bundestag gefällt werden, die dann doch gegen eine Mehrheit der Bevölkerung gefällt worden zu sein scheinen.

Führer: Aber offensichtlich ja auch das Gegengift, was Sie gerade genannt haben: Da wirkt dann ja diese Wendezeit noch nach. Es ist ja interessant, dass … Also im Allgemeinen ist es ja so, dass beim Zusammenschluss von Ost und West der Westen der Stärkere war und ist, aber nur beim Theater scheint es anders zu sein. Viele große Regisseure kommen aus der DDR, also nehmen wir Castorf, Leander Haußmann, den jüngst verstorbenen Gosch, Kriegenburg, und auch die Schauspielausbildung hat nach wie vor ein hohes Renommee. Liegt das vielleicht daran, dass noch so ein Rest Utopie mitschwingt?

Latchinian: Ja ich denke, dass es eben mehr gab und gibt, was aus der DDR sozusagen übernehmenswert gewesen wäre als der grüne Pfeil und das "Sandmännchen". Und dazu gehört unter anderem auch ja die handwerkliche und methodische Qualität des DDR-Theaters. Aber nicht umsonst sind das eher Dinge, die wenig materiell sind, sondern eher geistig, die da sozusagen als Spurenelemente immer noch ja in unseren Einheitsprozess bereichernd hineingekommen sind. Und Sie haben schon recht, das Wort der Utopie, also eher einer geistigen Zukunft, trifft es voll und ganz. Das ist das, was wir wahrscheinlich als spannendstes Moment mit in den Einigungsprozess, der ja noch nicht abgeschlossen ist, einbringen können.

Führer: Sewan Latchinian, Intendant des Theaters Senftenberg. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!

Latchinian: Danke für Ihr Interesse!

Führer: Und noch der Hinweis: Morgen um 9:00 Uhr geht es in unserer Reihe weiter, 20 Jahre Wiedervereinigung, dann kommen die Bürgermeister der ehemaligen Grenzorte Helmstedt und Marienborn zu Wort.