Hakan Günday: "Flucht"

Als würde er seinen Ekel vor der Welt erbrechen

Flüchtlinge aus Syrien an einer Bus-Station in Istanbul
Flüchtlinge aus Syrien an einer Bus-Station in Istanbul © dpa / EPA / Sedat Suna
Von Luise Sammann · 30.08.2016
Wegen seiner provozierenden Kolumnen und Romane ist Hakan Günday zum Kultautor avanciert. Günday möchte seinen Lesern und der türkischen Gesellschaft etwas zumuten. Das gilt auch für seinen Roman "Flucht", der jetzt auf Deutsch erscheint.
Ob die aktuelle Situation in der Türkei auch für ihn gefährlich werden könnte? Für ihn, dessen kritische, auch obszöne Bücher so gar nicht zur Weltanschauung der aktuellen Regierung passen wollen? Autor Hakan Günday überlegt so lange, wie der Zigarettenstummel zwischen seinen Lippen aufglüht. Dann schüttelt er den schwarzen Lockenkopf.

"Stellen Sie sich die Regierung als einen Fünfjährigen vor. Wo immer der Lärm hört, dort wendet er seinen Kopf hin. Heute sind ihm die Journalisten zu laut, also trifft es sie. Oder sogar die Twitter-Nutzer – denn weil wir von einem Fünfjährigen sprechen, liest er am ehesten Tweets, die ja nur 140 Zeichen umfassen. Romane jedenfalls liest er nicht. Seit ich das verstanden habe, habe ich keine Angst mehr."
Vielleicht muss man die Dinge so nüchtern sehen, um gleichzeitig so eindringlich, so schonungslos schreiben zu können, wie Hakan Günday es seit 16 Jahren tut.
Der türkische Autor Hakan Günday bei einer Lesung im Rahmen des Literaturfestivals lit.Cologne 2014 in Köln (Nordrhein-Westfalen) auf der Bühne, wo er sein Buch "Extrem" vorstellt. Foto: Henning Kaiser/dpa | Verwendung weltweit
Hakan Günday bei einer Lesung in Köln© dpa / Henning Kaiser

Lebensgeschichte eines noch jugendlichen Menschenhändlers

Wäre mein Vater kein Mörder gewesen, hätte ich nie das Licht der Welt erblickt.
So beginnt Gündays achter, am Dienstag auf Deutsch erscheinender Roman "Flucht". Die Lebensgeschichte eines noch jugendlichen Menschenhändlers, der Flüchtlinge wie übereinander gestapelte Tomatenkisten über die Türkei in die EU schleust, in fensterlosen Kellerlöchern zwischenlagert – nicht mitleidig, sondern angewidert von ihrem fäkalfauligen Geruch, ihrer Wehr- und Würdelosigkeit.
Ich sorgte dafür, dass eine Kanalisation, durch die man Menschen schleuste, gereinigt wurde und nicht verstopfte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass die mir wie allen anderen auch angeborene Empathiefähigkeit an diesem Punkt aussetzte. Ich war außerstande, mich in diese Halb-Scheiße-Menschen hineinzuversetzen.

"Alle Schriftsteller, die ich bewundere, haben mich verstört"

Über seine Veröffentlichungen sagte ein türkischer Kritiker einst, sie klängen, als würde Günday seinen Ekel vor der Schlechtigkeit der Welt erbrechen. Auskotzen! Seine Bücher seien eine Zumutung. Hakan Günday – ein freundlicher, nachdenklicher Mann – deutet mit dem Kinn eine Verbeugung an, als er das hört. Gute Literatur, so findet er, muss wehtun.
"Alle Schriftsteller, die ich bewundere, haben mich verstört. Sie haben dafür gesorgt, dass ich meine Augen offen halte, Fragen stelle und zweifele…Ich glaube, dass die Aufmerksamkeit wie ein Muskel funktioniert. Wenn ich heute aufhöre hinzuschauen, den Muskel zu trainieren, dann fühle ich ein Jahr später nichts mehr beim Blick in die Zeitung. Ich kann mir dann den aktuellen Flüchtlingsdeal zwischen der Türkei und der EU ansehen, ohne etwas dabei zu spüren. Ohne dabei zu denken, wie zynisch es ist, wenn Türken durch diesen Deal bald visafrei in den Schengen-Raum reisen könnten, um den zu erreichen in den letzten Jahren mehr als 5.000 Menschen gestorben sind! Erst wegen dieser Leichen dürfen wir vielleicht bald am Brandenburger Tor Touri spielen."
Gündays Werke beschäftigen sich auf den ersten Blick mit universellen Themen und Abgründen. Dennoch haben sie immer auch ein typisch türkisches Wesen. Nicht etwa, weil es Gewalt, Menschenhandel und Schlechtigkeit nicht überall auf der Welt gäbe. Aber weil hinter seinen Helden, die man als Leser eher hasst und fürchtet als liebt, das immer gleiche Motiv steckt: Sie wollen ausbrechen aus dem Korsett, in das sie – wie in "Flucht" als Sohn eines Menschenhändlers – hineingeboren oder – wie im Vorgängerroman "Extrem" – als Kinderbraut verkauft wurden. Sie wollen frei sein von ihrer eigenen Geschichte, ganz neu anfangen – und haben zugleich panische Angst davor. Es ist ein Thema, das einem in der so zerrissenen, im Auf- und Umbruch befindlichen türkischen Gesellschaft täglich begegnet, in der Familie, Religion, Nation und Tradition so einschnürend wie haltgebend wirken.
"Mich beschäftigt eine einfache Frage: Kann ein Individuum aus der Zelle, in der es steckt – sei es die Familie, ein religiöser Orden, die Armee, irgendein geschlossenes System eben… Kann man daraus ausbrechen? Und wenn ja, wie? Denn die dicksten Wände dieser Systeme bestehen nicht aus Granit, sondern aus unserem eigenen Fleisch… Und wenn du es schaffst, wegzurennen. Was sind die Kosten? Was also ist das Ergebnis der Gleichung: Individuum minus Gesellschaft? Das ist es, wonach ich suche."

Inhalte, vor denen man nicht die Augen verschließen kann

Auch Gaza, der in "Flucht" mit gerade einmal neun Jahren in die Fußstapfen seines Vaters tritt und zum Menschenhändler wird, versucht später auszubrechen aus der Zelle, in der er von Geburt an steckt. Will ein besseres Leben, ein neues. Doch die Vergangenheit klebt an ihm, folgt ihm überall hin.
Ich reinigte die Kloake! Und war das nun einmal mein Job, dann sollte ich der Gott der Kloake sein! Und der wurde ich. Viele Dinge tat ich, an die ich nie wieder denken möchte.
Hakan Gündays Geschichten bringen einen als Leser häufig an seine Grenzen. Flucht ist einer dieser Romane, den man weglegen möchte, aber nicht kann. Einer, vor dessen hochaktuellem Inhalt man die Augen nicht verschließen kann, weil man weiß, dass man keine gültige Ausrede für den eigenen Wohlstand, das eigene Wohlergehen hat. Die Situation von Tausenden Flüchtlingen, die Ignoranz des Westens gegenüber dem andauernden Leid - das sind die Themen, die Autor Günday wirklich beschäftigen. Die politische Situation in seinem Heimatland, der Türkei, scheint ihm dagegen fast schon verkraftbar.

Hakan Günday: "Flucht"
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
Random House, München 2016
480 Seiten, 22,99 Euro