Haiti-Impressionen nach dem Horror-Beben

29.04.2011
Zwischen Miniatur, Chronik und politischer Reflektion: Die Schriftstellerin Yanick Lahens hat notiert, was sie nach dem Erdbeben in Haiti erlebt hat. Herausgekommen ist ein poetisch dichtes Journal über den Horror der Zerstörungen und das Unglück in den Seelen.
Die Verwerfung, deren Überdruck am 12. Januar 2010 um 16 Uhr 53 den Südwesten Haitis zertrümmert hat, liegt etwa 15 Kilometer unter dem Boden. Sie hat nicht zum ersten Mal und nicht mal mit der größten Stärke die Erde dort zum Bersten gebracht. Und sie ist nicht die einzige Verwerfung, die das verheerende Erdbeben auf der Karibikinsel Hispaniola erzeugt hat. Deren südwestliches Drittel Haiti ist selbst gespalten, unruhig wie die zwei tektonischen Platten unter sich und voller sozialer Verwerfungen. Und dann ist da noch die Welt, allem voran der Kolonialismus, eine der gewaltigsten Verwerfungen der Menschheitsgeschichte. Er traf Haiti besonders, die erste Schwarze Republik, die 1804 von revolutionären Sklaven gegründet wurde - also eigentlich als stolzes Weltkulturerbe gehütet gehört.

Failles - Verwerfungen, Spalten - heißt Yanick Lahens' aufwühlendes Buch im Original. Vor jenem Datum hatte das Wort keinen besonderen Klang für sie. Jetzt ist es "ein Wort wie ein schwarzes Loch, das in mir plötzlich einen ungeahnten Widerhall findet". Yanick Lahens ist Schriftstellerin, sie muss diesen Widerhall in die Welt zurückwerfen. Dafür lauscht sie ihm seine vielen einzelnen Klangfacetten ab - die leisen und brutalen, die verzweifelten und tröstlichen.

Sie selbst will ihrem kleinen Neffen gerade einen Frosch zeigen, als sich unter ihr "der Boden in einem schrecklichen Ruck bewegt", drinnen die Buchregale einstürzen und draußen ihr Auto auf- und abhüpft. Ihr Lebensgefährte hat "den Weltuntergang gesehen", bevor er abends unverletzt nach Hause kommt. Aus dem einst lärmenden Porte-au-Prince, das plötzlich unheimlich still ist. In ihrer Straße liegen Tote, Nachbarn sind verletzt, obdachlos, fast jeder bangt um Angehörige, die unter irgendwelchen Trümmern liegen, manche telefonieren mit Todgeweihten, die man nie finden wird. Und hinter dem Horror der äußeren Zerstörungen liegen die inneren, die das Unglück in den Seelen der Menschen und dem ganzen geschundenen Land anrichten wird.

Gleich am nächsten Tag, zwischen Schock, Lähmung und Überlebensorganisation, fängt sie an zu notieren, was sie sieht, hört, riecht und was ihr durch den Kopf geht. Sie fährt durchs Land, geht durch Straßen wie kaputte Zahnreihen, übersät von Trümmern und Toten, stolpert über kleine Dinge, die gerade noch in ein Leben gehörten. Später, schreibend, konfrontiert sie die einzelnen Töne mit haitianischen und globalen Partituren, springt hin und her zwischen Miniatur, Chronik, ästhetischer und politischer Reflektion.

Herausgekommen ist ein Journal, in dem zwar, wie sie selbstironisch bemerkt, "kein einziger zu Ende gedachter Gedanke" steht. Vor allem aber kein einziger falscher Ton, keine literarische Verwerfung nirgends. Sondern so poetisch dichte wie politisch strahlende Sätze, aus denen der betörend schöne karibische Januarhimmel leuchtet und in denen das Lachen eines aus Trümmern kletternden Kindes, die Lust eines Teenagers, sich hübsch zu machen, die ganze Erbärmlichkeit geostrategischer "Hilfe", evangelikaler Missionare und um Hilfsmillionen rangelnder NGOs zum grellen Klingen bringen.

Besprochen von Pieke Biermann

Yanick Lahens: Und plötzlich tut sich der Boden auf - Haiti, 12. Januar 2010. Ein Journal
Deutsch von Jutta Himmelreich
Rotpunktverlag, Zürich 2011
160 Seiten, 18,50 Euro