Händelfestspiele Göttingen

Weiblich, stark, fragwürdig

Eine Statue von Georg Friedrich Händel in seiner Geburtsstaat Halle an der Saale.
Statue von Georg Friedrich Händel in seiner Geburtsstadt Halle an der Saale © imago/Westend61
Von Claus Fischer · 15.05.2015
Sie sind empfindsam, heroisch oder erhaben: Über 100 Frauenfiguren tauchen in Georg Friedrich Händels Opern auf. Um seine manchmal zwiespältigen "Heldinnen" dreht es sich bei den diesjährigen Göttinger Händelfestspielen.
So dürfte er garantiert nicht geklungen haben, der Beginn von "Rodelinda" am 26. Juni 1920 in Göttingen. Die erste Aufführung einer Händel-Oper nach fast 200 Jahren wurde noch ganz im Stil der Spätromantik vollzogen, stand als Initiator doch ein Schüler des Komponisten und Wagner-Verehrers Engelbert Humperdinck am Pult: der Musikwissenschaftler Oskar Hagen. Die Sänger und Instrumentalisten damals waren größtenteils Amateure, Studenten und Dozenten der Universität. Sie alle verband das Interesse, einen verschütteten Schatz wieder zu heben.
"Engste Fühlung mit dem Geist"
"In einer Zeit geistiger Orientierungslosigkeit ist festzustellen, dass unserer gegenwärtigen Musikproduktion die engste Fühlung mit dem Geist und den Formen ihrer unendlich viel befähigteren Vergangenheit bitter Not tut."
Mit der Orientierungslosigkeit der Zeit meinte Oskar Hagen die kulturelle Situation im Deutschen Reich nach dem Ersten Weltkrieg. Wie viele Intellektuelle damals war er vom Geist der Jugendbewegung beeinflusst, die den etablierten Konzert- und Opernbetrieb mit ihrer weihevollen Zelebration von Musik ablehnte.
Eine Institution waren die Händelfestspiele damals noch nicht, erst nachdem man 1931 die Göttinger Händel-Gesellschaft gegründet hat, steht das Unternehme auf sicherem Grund. In künstlerischer Hinsicht prägte vor allem Hans Niedecken-Gebhard die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg. Auch er stand der Jugendbewegung nah. Durch sie entdeckte er den Tanz als Grundlage für die Inszenierung Händelscher Opern, um die damals noch als zum Teil als schwer verständlich geltende Musik optisch umzusetzen. Ein Kritiker charakterisiert diesen Stil als:
"...eine aus dem seelischen Zwiespalt unserer Tage geborene und mit ihrer besonderen geistigen Substanz erfüllte neue Opernkunst."
Eine Ästhetik wie bei Leni Riefenstahl
Hans Niedecken-Gebhardt entwarf opulente choreografische Bilder in einer Ästhetik, die damals avantgardistisch war, heute aber als fragwürdig gilt, ist sie doch jener, die Leni Riefenstahl auf die Kinoleinwand gebracht hat, recht ähnlich. Überhaupt waren der Oberspielleiter und seine Mitstreiter nach 1933 häufiger im Dienst der nationalsozialistischen Ideologie tätig. Es verwundert daher nicht, dass Hans Niedecken-Gebhardt nach 1945 zunächst mit Berufsverbot belegt wurde. Erst zwei Jahre später kehrt er im wahrsten Wortsinn auf die Göttinger Bühne zurück, als Professor für Theaterwissenschaft an der Universität.
In den 1960er- und 70er-Jahren haben sich die Internationalen Händelfestspiele Göttingen im Kulturleben der Bundesrepublik etabliert, was auch daran lag, dass Händels Geburtsstadt Halle an der Saale in der DDR lag. Seit den 1980er-Jahren entdeckte man mehr und mehr die historisch-informierte Aufführungspraxis. Die Opernproduktionen, die etwa unter Leitung von Sir John Eliot Gardiner auf die Bühne des Deutschen Theaters in Göttingen kamen, waren auch inszenatorisch um Werktreue bemüht. Man versuchte, sich der Szenerie und dem Spiel des barocken Musiktheaters im England und Italien der Händelzeit anzunähern. Gardiners Nachfolger als künstlerischer Leiter Nicolas McGegan machte schließlich aus Göttingen eine Art "Bayreuth der Barockmusik". Für das von ihm neu gegründete Festspielorchester Göttingen engagierte er führende Musiker der Originalklangbewegung aus aller Welt. Das ist inzwischen gute Tradition, auf die der derzeitige künstlerische Leiter des Festivals, Lawrence Cummings weiter aufbaut.
Cummings: "Ich liebe Händel! Kein anderer Komponist hat so präzise wie er die menschliche Gefühlswelt beschrieben. Seine Stimmungsbilder sind so genau, dass man sich sofort mit seinen Protagonisten identifiziert."
Den stärksten Sängerinnen seiner Zeit auf den Leib geschrieben
Protagonisten und Protagonistinnen muss man sagen, denn in dieser Saison stehen in Göttingen Händels "Heldinnen" im Mittelpunkt des Programms. Über 100 Frauenfiguren tauchen in seinen Opern auf, etwa 70 weitere in seinen Oratorien. Nicht alle sind vordergründig Heldinnen, aber viele doch empfindsam, heroisch oder erhaben. Alle Frauenpartien hat Händel den stärksten Sängerinnen seiner Zeit auf den Leib geschrieben.
Dass der Begriff der "Heldin" heute – anders als in den Anfangsjahren der Göttinger Händelfestspiele – kritisch beurteilt werden kann, ja sogar muss, das wird an der diesjährigen Opernproduktion besonders deutlich, die heute Abend Premiere hat: Agrippina.
Die Protagonistin in Händels erstem in Italien entstandenen Musikdramas ist zweifellos eine starke Frau. Dass sie aber skrupellos ihrem Sohn Nero den Weg zur Macht ebnet, macht sie allerdings zu einer fragwürdigen Heldin. Es dürfte interessant werden zu sehen, wie der britische Regisseur Laurence Dale diesen Zwiespalt sichtbar macht. Hörbar, so der Intendant der Internationalen Händelfestspiele Tobias Wolff, wird in jedem Fall die sprichwörtliche Italianità des jungen Händels.
Wolff: "Ich finde es ja immer wieder großartig, wie gekonnt ein Deutscher mit der italienischen Sprache umgeht… Sprachmelodie."
Zweiter künstlerischer Höhepunkt dieser Saison wird die Aufführung des selten zu hörenden Oratoriums "Theodora" in der Göttinger Stadthalle sein. Die Heldin ist hier eine Märtyrerin der frühen Christenheit. Händel selbst bezeichnete Theodora als sein bestes Oratorium.
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