Haarfeine Beobachtungen

22.01.2010
Kracauer - einer dieser klingenden Namen wie Adorno oder Benjamin. Deutsche Geistesgeschichte, die brutal abgebrochen wurde, weil ihre Geister nicht nur deutsch, sondern auch jüdisch waren. Sie wirkten, wenn sie nicht umgebracht wurden, im Ausland weiter, zurück kamen nur manche.
Siegfried Kracauer blieb in Amerika. Auch die Zeitungskultur, die er verkörpert hatte, blühte in beiden Deutschlands nie wieder so wie vor 1933. Vielleicht wird deshalb sein Name heute nur mit einer, der kultursoziologischen Hälfte seines Werks assoziiert: der Studie "Die Angestellten", der "Therorie des Films" und "Von Caligari zu Hitler". Aber der Architekt und promovierte Ingenieur aus Frankfurt am Main war auch Schriftsteller.

Er hatte 1928 einen Roman bei Fischer veröffentlicht, er bereicherte von 1922 bis 1933 die "Frankfurter Zeitung" mit Feuilletons. Mit jener freien kleinen Prosa, für die heute kaum noch eine Zeitung Platz hat. Miniaturen, in denen sich haarfeine Beobachtung, überraschende Verknüpfungen und scheinbar Abseitiges mit einem eigenen Ton verbinden. Um Alltagsdinge geht es, darum, wie sie sich allmählich verschieben oder einfach verrückt werden durch die - heute auch längst historische - Moderne.

Kracauer hatte 1933 gut 50 dieser 2- bis 15-seitigen Feuilletons für ein Buch ausgewählt. Kurz danach stellte "seine" Zeitung ihn, den Leiter ihrer Kultur- und Filmredaktion, kalt. Er floh mit seiner Frau Lili nach Paris. "Straßen in Berlin und anderswo" erschien erst 1964, von ihm selbst um 19 Stücke gekürzt, im Verlag von Peter Suhrkamp. Gezündet haben sie damals nicht, vielleicht - vermutet Reimar Klein im Nachwort - vermisste das Publikum "die verborgenen Zeichen des kommenden Unheils".

Die Neuausgabe in der Bibliothek Suhrkamp enthält außer dem hervorragenden, kontextreichen Nachwort auch die 19 ausgelassenen Texte als Anhang, Kracauers Arrangement in vier Kapiteln blieb unangetastet. Die meisten seiner "Straßen" liegen in Berlin, andere in Paris, Marseille, Aix, Hamburg, Positano, New York. Manche sind unverortet, in manchen verschiedene Städte überblendet.

Straßen schaffen Räumlichkeit(en), also geht es im zweiten Kapitel um "Lokale" - nicht nur Kneipen, auch Kinos oder Wärmehallen. In Lokalitäten gibt es, drittens, "Dinge" - große wie Klaviere, kleine wie Hosenträger. Sie gehören da hin oder gerade nicht, verschwinden oder drängen sich in die Gedanken. Aber immer haben sie ihre eigenen Beziehungen zu denen, ohne die es weder Straßen noch Lokale noch Dinge gäbe und denen das vierte Kapitel gewidmet ist: "Leute".

Kracauers Straße ist alles und das Gegenteil davon: ständiges Nebeneinander von Lücken, zerrissenen Linien, von Nahem, das durch Kenntnis der Ferne klarer wird, und scheinbar Fernem - dem Mittelgebirge etwa, das dem Städter durch den immer schnelleren Verkehr näher rückt. Ein disparater Raum, zusammengehalten durch den Beobachter. Aber nicht nur der Raum, auch die Zeit wird nach Menschenmaß verrückt. Das wird einem klar anhand der winzigen Ärgernisse, von denen diese zwischen 1925 und 1933 geschriebenen Feuilletons nebenbei erzählen.

Auf den Lärm, die Kameras und Mikrofone um eine Lesung von Heinrich Mann in einem Warenhaus herum würden wir heute kaum "verdrießlich" reagieren. Wir sind viel höhere Dezibel, Blitzlichtgewitter und weltweites Versenden in Echtzeit gewohnt. Nur macht das Kracauers Frage umso unheimlicher: "Warum in aller Welt muss immer alles gleich in alle Welt?"

Besprochen von Pieke Biermann

Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo
Erweiterte Ausgabe
Mit einem Nachwort von Reimar Klein
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
268 Seiten, 15,80 Euro