Gummi für die Masse

Die Demokratisierung des Konfekts

Gibt es seit der Weimarer Republik: Gummibärchen.
Gibt es seit der Weimarer Republik: Gummibärchen. © picture alliance / dpa / Jens Büttner
Von Nora Bauer · 01.02.2017
Der Genuss einer Süßigkeit - Konfekt - war einst ein Privileg für die Reichen, bis im 20. Jahrhundert mit dem Gummibärchen ein Süßwarenmarkt für alle entstand. Sogar für den ehemaligen Kaiser Wilhelm stellten Gummibärchen die beste Erfindung der jungen Demokratie dar.
Es war die Zeit, als alles im Umbruch war. Der Krieg verloren. Das alte monarchische System diskreditiert. Der Kaiser geflohen. Der Reichstag die Bühne für den Beginn einer neuen Zeit.
Philipp Scheidemann: "Diese Volksfeinde sind hoffentlich für immer erledigt. Der Kaiser hat abgedankt, er und seine Freunde sind verschwunden..."
Philipp Scheidemann, der Sozialdemokrat, verkündete den Anbruch einer neuen Zeit: der Demokratie.
"...über sie alle hat das Volk auf der ganzen Linie gesiegt."
Wahlrecht für alle. Kein Dreiklassenwahlrecht mehr wie im alten Preußen, in dem das Steueraufkommen bestimmte, wie viel Gewicht eine Stimme hatte. Das Volk ist der Souverän und bestimmt die Regierung. Der Adel ist nicht mehr der bevorrechtigte Stand, die Standesschranken werden aufgehoben, die rechtliche Gleichheit der Bürger ist Grundlage der neuen Verfassung. Demokratie. In Weimar 1919 begründet: die Weimarer Republik.
Friedrich Ebert: "Das Wesen unserer Verfassung soll vor allem Freiheit sein. Freiheit für alle Volksgenossen. Aber jede Freiheit, an der mehrere teilnehmen, muss ihre Satzung haben. Diese haben Sie geschaffen. Gemeinsam wollen wir sie festhalten."
Was ist Demokratie?
Boike Rehbein: "Wir verbinden ja mit Demokratisierung gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten für alle, ... eine formale Gleichheit. ... Dass man beispielsweise bei Wahlen jeweils nur eine Stimme hat ... alle haben die gleiche Stimme. ... Dass man vor Gericht zumindest formal die gleichen Rechte hat, die gleichen Möglichkeiten einen Anwalt zu nehmen und sich auf das Gesetz zu berufen und so weiter."
Boike Rehbein ist Professor der Soziologie an der Humboldt Universität in Berlin. Sein Blick ist nicht nur auf die formale Demokratie gerichtet, sondern mehr noch auf die gesellschaftlichen Realitäten. Er hat unter anderem bei Pierre Bourdieu in Paris studiert, einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Ungleichheit in demokratischen Gesellschaften. Als 1919 in Weimar die Republik begründet wurde, war die Gesellschaft schon im Umbruch. Die Auflösung der alten Ständegesellschaft hatte längst begonnen.
Rehbein: "Tiefer an der Wurzel, denke ich, sollte man eher ins 19. Jahrhundert zurückschauen, und die Konflikte zwischen dem Großbürgertum und Adel auf der einen Seite und Monarchie auf der anderen Seite als die treibende Kraft betrachten.
Adel und Großindustrielle haben ja schon im 19. Jahrhundert eine Art Verschmelzungsprozess begonnen, der aber nicht abgeschlossen wurde, weil eben die Monarchie mit ihren Strukturen einen Hemmschuh bildete. Und die Großbürger und Industriellen hätten bestimmt keine Revolution von sich aus angefangen, und so war es für sie ganz, sagen wir, profitabel und nützlich, dass das Volk dann die Revolution gemacht hat. Ohne die Unterstützung dieser Geldaristokratie wäre es wahrscheinlich schwierig geworden, die Weimarer Republik ins Leben zu rufen."
Demokratisierung heißt auch: Veränderung von Verhaltskodizes
Demokratisierung – das meint nicht nur den Prozess der Umverteilung von Herrschaft. Sondern auch die Veränderung von Verhaltenskodizes: die Masse will teilhaben an ehemals exklusiven Genüssen. Demokratie und Kapitalismus: Wer dieses Bedürfnis als Unternehmer befriedigen kann, dem bieten sich ungeahnte Chancen.
Zeitenwechsel. Ein Laden im Kölner Hauptbahnhof heute.
Doris Richter: "Es schmeckt süß, das ist etwas, was wir ganz früh erlernen, dass Süßigkeit etwas ist, was uns gut tut, was wir mögen, was uns belohnt, all das. Ich kann mir gut vorstellen, wie das war nach dem Krieg, es gab nicht wirklich viel, es gab Süßigkeiten für die Reichen, die waren aus teuren Materialien wie Kakao, ein Übersee-Produkt, was sehr aufwendig zu besorgen war, es gab alles Mögliche an Konfisziere, an Pralinen. Aber ein Gummibärchen, gemacht aus etwas, was im Garten wächst, wenn der Segen im Sommer groß ist, gibt es viele Johannisbeeren, es gibt alles Mögliche viel und es ist einfach nicht so teuer zu beschaffen. Und dann hat ein findiger Konditor einfach probiert und hat gesagt, leckerer Fruchtsaft, wie kriege ich den denn fest, damit ich den in kleinen Stückchen essen kann. Und dann ist er wahrscheinlich irgendwann drauf gekommen, Gelatine macht fest. Und so wird es probiert worden sein."
Doris Richter verkauft Gummibärchen. Ihren kleinen Laden im Kölner Hauptbahnhof, leitet sie als Geschäftsführerin im Franchise-System einer Firma aus dem Schwarzwald. Wer durch die Glastür kommt, ist sofort umgeben vom typisch süßsauren Duft der Gummibärchen. Der Verkaufsraum ist angefüllt mit kunterbunten Obst-Torten, Pizzen, Sushi, Fastfood aller Art – "gebastelt" aus den verschiedensten Sorten Fruchtgummi. Der Krieg, von dem Doris Richter spricht, ist der Erste Weltkrieg. Nach diesem Krieg, in den Jahren der Weimarer Republik, wurden die Gummibärchen "erfunden". Es gibt Kunden, die das noch erlebt haben.
Richter: "Ich backe heute eine Geburtstagstorte für eine Dame, die 95 wird. Und da legen wir die 95 in Fruchtgummi als Zahl auf die Torte. Also, die ist nun 95 und liebt Gummibärchen, ich glaube, da ist man eigentlich nie zu alt oder zu jung. Süßigkeiten und Naschen ist etwas für Kinder, das stimmt, aber das Kindliche und kindliche Wesenszüge, die hat nahezu jeder Mensch sich bewahren können. Ich glaube, wir hatten bisher noch nie einen schlechtgelaunten, muffeligen, einfach unangenehmen Menschen hier drin, weil, sobald Sie hier reinkommen, sehen Sie Gummibärchen, und es rührt was an, es rührt was Kindliches an und etwas sehr fröhliches und auch was Heimeliges und ich glaube, das ist der Grund, warum Gummibärchen für Alt und Jung sind."
Gleichheit vor den Gummibärchen
Vor den Gummibärchen sind alle gleich. Seit ihrer Erfindung 1920 sind sie erschwinglich für alle – damals kosteten zwei Gummibärchen, die allerdings um einiges größer waren als heute, immer in einer Packung, einen Reichspfennig. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Die Weimarer Republik brachte erst das allgemeine Wahlrecht für alle und dann Süßes für alle.
Zucker ist der Hauptbestandteil eines Gummibärchens, dazu kommen Gelatine, Fruchtsaft und Farbe. Die Deutschen vernaschen heute ca. 200.000 Tonnen Fruchtgummi pro Jahr und es wird immer mehr. Ob saure, fruchtig süße, sahnige Fruchtgummis, als Kombination mit würzigem Lakritz oder softem Schaumzucker. Heute ist die Vielfalt des Angebots nahezu grenzenlos. Denn Zucker ist grenzenlos verfügbar.
Richter: "Erst mal haben wir zwei Verpackungsgrößen, wir haben Tüten, die so um die 200 Gramm wiegen, 220, 230 Gramm, dann gibt es Tüten die haben 400 bis 500 Gramm und es gibt eine Tüte, das ist praktisch unser preiswertestes Fruchtgummi, das sind Dinge, die in der Produktion einfach, wenn irgendwelche Formen gegossen wurden, die so nicht gebraucht wurden, das ist eine große Mischung, da ist ein ganzes Kilo drin. Das ist ein Fruchtgummi unter fünf Euro im Kilo."
Vor etwa 8000 Jahren gelangte Zucker, gewonnen aus Zuckerrohr, aus Ostasien in den Orient und nach Europa. Das Wort Zucker stammt aus dem Sanskrit und bedeutet süß. Weil die Herstellung schwierig und die Handelswege weit waren, gehörte Zucker zur teuren Mangelware aus Übersee.
Bis in die Neuzeit galt: Nur die Reichen konnten sich die feinen glitzernd-weißen Kristalle über den sonst trist-grauen Brei streuen und ihrem Essen damit einen Hauch von Eleganz und Luxus verleihen. Wie Samt, Seide und Diamanten gehörte Zucker zu den Statussymbolen der herrschenden Klasse. Man naschte handgefertigtes Konfekt. Der Begriff stammt von dem lateinischen confectum, "angefertigt" und ist die allgemeine Bezeichnung für feine Zucker- und Backwaren wie kandierte Früchte, Pralinen, Fondants, Marzipan, Schokolade.
Richard Strauß: Der Rosenkavalier. Was lässt sich die Marschallin zum Frühstück während des morgendlichen Empfangs der Untertanen in ihrem Schlafgemach von ihrer Zofe servieren? Gezuckerte Trinkschokolade. Die Oper spielt im 18. Jahrhundert und wurde 1911 uraufgeführt.
Silja Graupe: "Also ein Gegenbeispiel für das, was man ein Statussymbol oder Snob-Effekt nennt, ist ein Medikament, was unheimlich teuer ist in der Herstellung und es ist lebensnotwendig und der Arme bekommt es halt nicht und stirbt und der Reiche kann es sich leisten und bekommt es. Da würde man ja nicht von einem Statussymbol sprechen, sondern schlichtweg von einem Gut, was extrem hochbepreist ist, aus welchen Gründen auch immer. Also ich habe den Eindruck, dass Statussymbol eben in diese Richtung –, wo man jetzt bei Schokolade argumentieren kann, dass es teuer im Erwerb ist, aber in der eigentlichen Sache unnütz. Der gesundheitliche Effekt von Schokolade, all das rechtfertigt es nicht, sondern es ist eine Aura, die dieses Produkt umgibt. Also, indem ich Schokolade trinke, kann ich mich vergewissern, dass ich zum Adel gehöre. Habe ich ein bestimmtes Selbstwertgefühl. Also, es muss symbolisch aufgeladen werden."
Silja Graupe ist Professorin für Ökonomie an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Cues. Warum eine Ökonomin zum Verhältnis von Gummibärchen und Demokratie etwas zu sagen hat? Weil Volksherrschaft natürlich auch mit Volkswirtschaft zu tun hat.
Ungefähr in der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde Zucker in der Runkelrübe, der gemeinen Futterrübe, entdeckt. Damals hatte sie einen Zuckergehalt von acht Prozent. Die heutige Zuckerrübe hat durch Züchtung einen Zuckergehalt von 22 Prozent bekommen. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft wurde aus dem Distinktionsinstrument Zucker ein billiges alltägliches Lebensmittel für die Massen. Indem die industrialisierte Produktion Zucker für alle erschwinglich machte, verlor er seine Exklusivität und war fortan kein Statussymbol mehr.
Aus einem Bonbonkocher wurde Haribo
Zitator: Man schreibt das Jahr 1920. Politisch gesehen lösen im Bonner Raum französische und kanadische Besatzungstruppen die englischen ab. Wirtschaftlich gesehen ist es ein denkbar ungünstiges Jahr. Die Inflation treibt die Preise um das Doppelte in die Höhe. Trotz der Unsicherheiten investiert der Bonbonkocher Hans seine ganzen Ersparnisse. Es mögen 250 oder 300 Reichsmark gewesen sein. Die Summe reicht für zwei Säcke Zucker. Der Rest der Ausrüstung ist geliehen: ein Kupferkessel, ein Hocker, eine Marmorplatte, ein gemauerter Herd und eine Walze. Hans ist der Chef in seinem Ein-Mann-Betrieb. Der Geschäftsablauf ist denkbar einfach: Er produziert eine bestimmte Menge seiner Produkte, packt davon ein paar Proben auf sein Fahrrad und verteilt sie in tagelangen Fahrten durch Bonn und die umliegenden Dörfer. So sammelt er Aufträge. Dann produziert er die bestellten Waren und wirbt bei den Lieferfahrten stets wieder neue Kunden.
Die Methode hatte Erfolg. Aus dem Bonbonkocher Hans in seiner Bonner Küche ist das milliardenschwere Unternehmen Haribo geworden. Das Zitat stammt aus der Firmen-Biografie von Bettina Grosse de Cosnac.
Graupe: "Wenn ich es richtig sehe, ist ja die Geschichte dahinter, dass der Preis für diese eine Zutat, hier Zucker, gesunken ist. Und jetzt ist doch die Frage, wie ist dieses Zuckerzeug in die Gesellschaft diffundiert? Wie ist es dazu gekommen, dass das alle konsumieren? Also das wäre ja nur eine ökonomische Erklärung, dass man sagt, vorher konnten es eben nur die Adligen bezahlen, und jetzt können es irgendwie alle zahlen und deswegen kaufen es alle, aber die interessante Frage ist doch: woher kommt überhaupt dieses Bedürfnis?"
Rehbein: "Das ist selbstverständlich, dass man das imitieren will oder für wertvoll hält, was eine gewisse Distanz nach oben hat."
Sagt Boike Rehbein von der Humboldt Universität in Berlin und macht damit auf den springenden Punkt aufmerksam. Wie kommt das Bedürfnis nach dem Konfekt der Oberschicht in die unteren und breiteren Schichten der Gesellschaft, hatte Silja Graupe gefragt. Die Antwort des Soziologen Boike Rehbein geht aus von dem Gedanken: Man identifiziert sich mit dem Verhalten der höheren Schicht.
Rehbein: "Diesen Prozess, den Bourdieu als Prätention bezeichnet hat, dass die unteren Schichten versuchen, Elemente von Lebensstilen aufzugreifen, die eigentlich den oberen Schichten vorbehalten sind. Die Imitation der höheren Schichten ist eher selten, aber es kommt sicher vor. Der Normalfall ist eher, dass man das macht, was die anderen aus der eigenen Umgebung auch tun. Und dass man nicht versucht, anderen Bevölkerungsgruppen nachzueifern, die über einem stehen. Weil man normalerweise eben gerade nicht die kulturellen und ökonomischen Mittel dafür hat. Das heißt, wenn man überhaupt den oberen Schichten nacheifert, nur vermittelt über billigere und einfach zu erreichende Imitate."
Preiswerte Gummibärchen statt teures Konfekt
Also nascht man aus Mangel an wirtschaftlichen Ressourcen anstelle von teurem Konfekt die preiswerten Gummibärchen. Ein Massenbedürfnis entsteht durch eine Kreuzung aus der Orientierung nach oben mit der Nachahmung durch die breiteren Schichten, die sich an Verhaltensweisen der zahlenmäßig kleineren, exklusiven gesellschaftlichen Gruppe orientiert. Das war die Voraussetzung dafür, dass der umtriebige Bonbonkocher Hans Riegel in Bonn 1920 den Grundstein legen konnte für den Aufbau eines Süßwarenkonzerns, der heute in aller Munde ist: Haribo. Denn plötzlich machten alle, was zuvor dem Adel und den Reichen vorbehalten war: Süßigkeiten genießen.
Auf der Strecke blieben - die Aufladung und die Qualität. Gummibärchen zu kauen, verschafft nicht den Prestigegewinn, zum Adel zu gehören, im Gegenteil – die Qualität des Wunschobjekts hat nur noch wenig mit dem einstigen Original zu tun: statt den Gaumen mit Schokoladenkonfekt zu betören, gibt es Gummi für alle.
Richter: "Um die Säure so aussteuern zu können, wie man das in einer Großproduktion braucht, um Rezepturen so zu halten, dass das Fruchtgummi immer nahezu gleich schmeckt, braucht es eben standardisierte Mengen von standardisiert erfassten Aromen-Zusätzen und so weiter, wenn Sie eine Säure haben möchten in einem Fruchtgummi, dann ist halt niemand da, der Saft presst, sondern es werden Konzentrate genommen und die werden entsprechend aufgefüllt, so dass man wirklich immer ein Standard-Aroma hat, ein Standard Säure, ein Standard Zuckeranteil, auch Gelatine oder das Pektin, was die gelatinefreien Fruchtgummi ja andickt, das braucht man immer sehr, sehr genau, weil sonst erlebt man böse Überraschungen."
Gummibärchen sind ein billiges Massenprodukt, sie stillen ein Bedürfnis, mit dessen Befriedigung man früher einen Status demonstrierte; um aber darüber hinaus ein Begehren auszulösen, bedarf es der Aufladung des Besonderen.
Richter: "Unsere Fruchtgummis sind sehr sorgfältig verpackt, von uns mit wirklich sehr viel Handarbeit also ausschließlich Handarbeit zusammengestellt, und dann ist es ja immer ein sehr subjektives Empfinden, was möchte ich ausgeben, was füge ich meinem Körper zu, ist es bloß Zucker, Gelatine, Aromen oder nehme ich etwas zu mir, was mir aber einen Sinneseindruck verschafft, der mir was wert ist. Und das ist der Eindruck, der bei unseren Kunden echt vorherrscht. Man tut sich was Gutes, man fügt sich selbst ein hochwertiges Lebensmittel oder sagen wir Nahrungsmittel zu, zum Leben braucht man es nicht, aber ein Genussmittel zu, da achten mittlerweile sehr viele Leute auf gute Qualität."
Graupe: "Auf der Seite der Produzenten, und da bin ich mir sicher, dass das jetzt Anfang des 20. Jahrhunderts auch schon ist, dann würden die ja genau versuchen, das Image zu halten auf dem Symbol, was eben mit dieser hohen Qualität verbunden ist, es de facto zu unterhöhlen, also anders zu produzieren, billiger zu produzieren, aber gleichzeitig weiterhin mit diesem symbolischen Gehalt aufzuladen. Stichwort: 'längste Praline der Welt', das ist ein absolutes Massenprodukt, es wird in den billigsten Regalen sozusagen verkauft, aber es soll den Eindruck vermitteln, als hätte das was Exklusives."
Bei den Gummibärchen erinnert nur noch die Kunst der Verpackung an die Handarbeit, in der das Schokoladenkonfekt einst hergestellt wurde.
Scheidemann: "Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue..."
...erinnern wir uns noch mal an die große Zeitenwende.
Scheidemann: "Es lebe die deutsche Republik!"
...die Ausrufung der Demokratie in einem Schaufenster des Reichstagsgebäudes in Berlin – der Hans Riegels Revolutionierung der Süßwarenproduktion in Bonn folgte.
Ein Bonbon-Kocher kopiert das Privileg der Oberschicht
Graupe: "Naja, das ist ja schon interessant, das mit Demokratie in Verbindung zu bringen, weil es ja fast buchstäblich der kleinste gemeinsame Nenner dann ist. Also, es macht im Geld gleich, es verwischt gerade dadurch den Status, hat jetzt aber mit einer ursprünglichen Idee einer partizipativen Demokratie, oder einer gestalterischen, ja überhaupt nichts mehr zu tun. Sondern da ist ein Niveau von Gleichheit erlangt, was keine Könnerschaft mehr in irgendeiner Weise impliziert, es braucht kein Wissen mehr, also es hat etwas absolut Nivellierendes."
Silja Graube, die Ökonomin.
Und Boike Rehbein, der Soziologe:
"Aus der Richtung der Kulturkritik, also Frankfurter Schule, ist natürlich das große Problem, dass die bürgerliche Kultur verwässert wird, wenn sie auf das Kleinbürgertum und darüber hinaus ausgedehnt wird, weil eben den Konsumenten, mit Bourdieu jetzt gesprochen, das kulturelle Kapital fehlt, um die bürgerliche Kultur als solche wahrzunehmen und zu schätzen und dann vielleicht selber sogar zu praktizieren."
Wenn ein Bonbon-Kocher das Privileg der Oberklasse kopiert, Süßes zu genießen, wenn er massenhaften Süßwarenkonsum ermöglicht, mag das wie ein Moment der Demokratisierung im Alltagsleben erscheinen – aber bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass der Schein trügt. Weil Qualität mit Masse nicht zu vereinbaren ist?
"Diese Kritik ist natürlich fundamental undemokratisch und reicht, wenn man so will, in eine Stände-Gesellschaft zurück, weil damit behauptet wird, dass eben nur bestimmte Gruppen, genauer gesagt, eine Schicht, eine Klasse, die Fähigkeit hat, gute Kultur herzustellen und zu konsumieren. Da ist insofern was dran, als die Verbreitung der Kulturgüter ja nicht durch eine, sagen wir, Bildung, d.h. Steigerung des kulturellen Kapitals der anderen Bevölkerungsschichten erreicht wird, sondern dadurch, dass tatsächlich die Kulturgüter selber abgewertet werden, also vereinfacht werden, vermasst werden."
Das heißt doch: Qualität ist mit Masse nicht zu vereinbaren?
"Das war natürlich der Angriffspunkt der Frankfurter Schule, dass die Kulturgüter dadurch an Qualität einbüßen. Daraus kann man aber nicht schließen, wie die Frankfurter das getan haben, dass die unteren Bevölkerungsschichten unfähig wären dafür, sondern, das ist ja ein Prozess der Kapitalverwertung, dass man die Märkte vergrößern will, und wenn man die Märkte vergrößert, insbesondere für Leute, die nicht genügend ökonomisches Kapital haben, dann muss man eigentlich fast immer auch die Preise senken. Und mit der Preissenkung geht natürlich eine Qualitätssenkung einher, weil man nicht dasselbe investieren kann, wenn man weniger Geld dafür kriegt, das ist klar. Und die Preise beziehen sich ja heutzutage auf alle Kulturgüter. Alle Kulturgüter kosten Geld in der Produktion und müssen auch wieder Geld bei der Konsumtion, das heißt über den Verkauf, einspielen. Und so müssen wir doch beide Prozesse zusammen sehen, den Verlust der Qualität und die Verallgemeinerung durch das Kapital."
Demokratisierung ist nur symbolisch
Qualitätsverlust und Verallgemeinerung: die Bärchen-Bilanz ist wohl keine Erfolgsbilanz der Demokratisierung, die mit großen Worten begann und mit unternehmerischem Geschick bald den republikanischen Alltag prägte. Kaiser Wilhelm soll sogar gesagt haben, das Gummibärchen sei das Beste, was die Weimarer Republik hervorgebracht habe. Aber der war bekanntlich kein Verfechter des Prinzips Demokratie.
"Es kann ja auch eine andere Verallgemeinerung geben, zumindest prinzipiell, dass alle Leute in den Stand gesetzt werden, die hochqualitativen Gegenstände auch zu schätzen, zu konsumieren und vielleicht dann sogar selber zu produzieren. Aber dieser Prozess funktioniert so in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht, weil die Standesgesellschaft, so behaupte ich das ja immer, nicht abgeschafft wurde, und das heißt, die unteren Bevölkerungsgruppen, die tatsächlich die unteren Klassen sind, niemals das entsprechende ökonomische und kulturelle Kapital erwerben, erwerben können, um die entsprechenden Güter zu konsumieren oder gar zu produzieren."
Alle Gegenstände, die nur für wenige erschwinglich sind, zeichnen sich als Distinktionsinstrument, Status-Symbol, Herrschaftsinstrument aus. Um den Absatz zu steigern, senkt das Unternehmen unter den Bedingungen des Kapitalismus über Rationalisierung der Produktion und die Minderung der Qualität der Inhaltsstoffe den Preis, bis der Gegenstand für alle erschwinglich geworden ist. Die Werbung sorgt dafür, dass das Produkt den Kunden trotzdem eine große Projektionsfläche und Identifikationsmöglichkeit bietet – dass im Massenkonsum auch Exklusivität suggeriert wird.
Die Menschen sind in diesem Vermassungsprozess natürlich nicht gleicher geworden. Eine Demokratisierung hat nur symbolisch stattgefunden. Der Kapitalismus hat über den massenhaften Konsum erschwinglicher Waren Gewinn generiert und verfeinert nun im digitalen Zeitalter die Strategien, um das Verhalten der Konsumenten zu steuern.
Wenn der Konsument das Produkt einer Demokratisierung im Sinne einer Teilhabe an den Früchten der Volkswirtschaft ist, dann ist das Ergebnis nicht besonders ansehnlich.
Richter: "Mitunter könnte man stereotyp sagen, je übergewichtiger ein Mensch ist, um so eher ist er aufgeschlossen zu naschen. Umso eher kauft er tatsächlich auch was. ... und mitunter gibt es wirklich sehr übergewichtige Menschen, die auch tatsächlich viel kaufen. Es gibt Menschen, von denen wir auch mitbekommen, sobald sie eine Tüte gekauft haben, schon gleich fragen, ob wir ihnen sie mal aufschneiden können. Das sind auch ganz oft Leute, die gehen hier aus der Tür und nehmen die erste Handvoll, die ganze Handvoll schon mal direkt, und ich bin nicht sicher, ob sie den Bahnhof verlassen haben, und die Tüte nicht schon ganz leer ist."
Im Lichte der Gummibärchen-Geschichte muss die Frage, wie eine echte Demokratie verwirklicht werden könnte, wohl noch einmal neu gestellt werden.
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