Gulya Sultanowa: "Überall in Russland werden Menschenrechte verletzt"

Gulja Sultanowa im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 22.08.2013
Ein Boykott der Olympischen Spiele in Sotschi aus Solidarität mit den russischen Homosexuellen würde auf Kosten der Sportler gehen, sagt die Festivalleiterin Gulya Sultanova. Gut wäre es jedoch, wenn die Besucher der Winterspiele ihre Kritik an den vielen Menschenrechtsverletzungen, die auch andere Minderheiten betreffen, zum Ausdruck brächten.
Stephan Karkowsky: "Russia Today" ist das russische Auslandsfernsehen, grob gesagt das, was "BBC International" für die Briten ist oder die "Deutsche Welle" für Deutschland. Und da erlebte die Moderatorin gestern eine Überraschung. Eigentlich wollte sie mit dem US-Reporter James Kirchick über den Fall Bradley Manning sprechen und das zu erwartende harte Urteil, 35 Jahre Haft. Doch als der Reporter ins Bild kam, live, wie gesagt, zog er erst mal seine Gay-Pride-Hosenträger über die Schultern und zitierte den US-Schauspieler Harvey Feierstein mit den Worten "Im Angesicht des Bösen verbietet sich das Schweigen."

Einspielung – O-Ton:

Karkowsky: Und deshalb wolle er hier, auf dem Propagandasender des Kreml laut sagen, was er von den diskriminierenden Anti-Schwulen-Gesetzen in Russland halte, die es unter Strafe stellen, Homosexualität in der Öffentlichkeit überhaupt nur zu thematisieren. Die Moderatorin versuchte, ihn zu stoppen.

Was ist mit Bradley Manning, fragt sie, und der Reporter antwortet, das interessiere ihn nicht, er wolle über das schreckliche Klima der Homophobie in Russland reden, und den Schwulen und Lesben dort sagen, ihr habt Freunde und Verbündete in aller Welt. Bei euch geht es 24 Stunden nur um amerikanisches Unrecht gegen Manning und Snowden, schimpft der Reporter weiter. Ich habe noch nie etwas gesehen über das russische Unrecht gegen Schwule und Lesben. Punkt.

Nun sind die Anti-Schwulen-Gesetze in Russland keine Erfindung Wladimir Putins. Unter- und Oberhaus des russischen Parlaments haben sie abgesegnet. Die russischen Bürger sind zumindest mehrheitlich nicht dagegen, Gewalt gegen Schwule und Lesben ist an der Tagesordnung. Warum die Russen eine solche Angst haben, ihre Kinder könnten gefährdet werden durch das bloße Reden über Homosexualität, das wollen wir mit Gulja Sultanowa besprechen vom schwul-lesbischen Filmfestival "Side by Side" in Sankt Petersburg. Guten Tag!

Gulja Sultanowa: Hallo!

Karkowsky: Stimmen denn die Vorwürfe des Reporters, dass in den russischen Medien die Anti-Schwulen-Gesetze kein Thema sind?

Sultanowa: Das stimmt nicht ganz, in russischen Medien ist das Thema Homosexualität seit ungefähr sechs, acht Monaten ein sehr heißes Thema. Und zu diesem Thema wird sehr viel gezeigt und gesprochen, aber einseitig. Es werden Informationen manipuliert, es wird eine Art Feindbild aus Schwulen und Lesben gemacht, und das ist eine Art Abschreckung für die Bevölkerung.

Karkowsky: Wie sieht dieses Feindbild aus?

Sultanowa: Also die erste These ist, Schwule und Lesben seien nicht russisch. Das ist nach Russland eingebracht, das ist importiert aus dem bösen Westen. Und was bemerkenswert ist, ist, dass diese homophobe Rhetorik geht parallel zu der antiwestlichen Rhetorik.

Die zweite Sache, Schwule und Lesben seien alle Pädophile. Und deshalb sind wir so gefährlich für russische Kinder, für russische Minderjährige. Und aus dieser These kommt dann die Schlussfolgerung, also wir sollen unsere Kinder schützen vor bösen und gefährlichen Homosexuellen. Und wir sollen den Schwulen und Lesben keine Möglichkeit geben, publik zu werden, öffentlich zu werden, und keinen Zugang zu unseren teuren Kindern geben.

Karkowsky: Nun werden Gesetze ja nicht immer auch gleich angewendet, manchmal dienen sie einfach nur der Einschüchterung. Wie ist das in diesem Fall? Sind in Russland schon Homosexuelle wegen des neuen Gesetzes angeklagt worden?

Sultanowa: Es ist so, dass – also diese Gesetze gibt es seit ungefähr sieben Jahren in Russland auf regionaler Ebene. Bis jetzt gibt es etwas zehn Regionen, wo diese Gesetze gegen die Verbreitung von Informationen über Homosexualität, Transgenderthemen unter Minderjährigen verabschiedet wurden, die Praxis wie diese Gesetze angewendet werden, zeigt gerade, dass Aktivisten einfach nur mundtot gemacht werden mit diesen Gesetzen, das ist das Erste, und das Zweite, also diese Gesetze werden einfach gebraucht von nationalistischen Kräften, um Angriffe, um Gewalt zu rechtfertigen.

Karkowsky: Aber Gefängnisstrafen und Geldstrafen hat es bisher nicht gegeben?

Sultanowa: Bis jetzt gab es nur eine Strafe. Diese Strafe ist jetzt, glaube ich, angeklagt worden von Moskauer Schwulen-Aktivisten und die geht dann weiter zum Europäischen Gericht für Menschenrechte. Das ist nur ein einziger Fall. Aber was jetzt das Gesetz auf der föderalen Ebene angeht, so gibt es dieses Gesetz in Russland seit dem 30. Juli 2013, und bis jetzt ist das Gesetz nicht angewendet worden. Aber man kann sagen, in dieser Zeitperiode gab es keine großen öffentlichen LGBT-Events, also die Behörden hatten keine große Chance, dieses Gesetz anzuwenden. Aber wir erwarten, dass es später kommt.

Karkowsky: Sie hören Gulja Sultanowa, sie ist Organisatorin des schwul-lesbischen Filmfestivals "Side by Side" in Sankt Petersburg. Frau Sultanowa, die russische Mehrheit argumentiert, Schwule und Lesben können auch in Russland natürlich weiter frei ihre Sexualität ausleben, nur eben nicht in der Öffentlichkeit. Wo geht das denn da los? Händchenhalten? Ist das möglich?

"Homophobe Hysterie ist ein Ergebnis von Attacken im Fernsehen"
Sultanowa: Wissen Sie, es ist so. Was die Umfragen zeigen, das ist das Ergebnis von auch manipulierten Fragen. Zum Beispiel in Umfragen wird das so formuliert: Sind Sie gegen die Propaganda von Homosexualität. Und dazu stimmen 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung. Weil sie einfach nicht verstehen, was eigentlich das ist, Propaganda der Homosexualität. Weil ihnen unterschiedliche Informationen, Erklärungsprojekte im Fernsehen einfach so als böse und schreckliche Propaganda dargestellt wird.

Wenn aber die Menschen gefragt werden, haben Sie etwas gegen Ihre – generell gegen Lesben oder Schwule, da sind es nicht so viele Menschen. Und man muss sagen, dass jetzt diese homophobe Hysterie ein Ergebnis von all diesen Attacken im Fernsehen, im staatlich kontrollierten Fernsehen ist. Und man muss auch denken, wenn Menschen jeden Tag irgendwelche schreckliche Bilder über homosexuelle Menschen sehen, dann wird ihre Denkweise auch so gebildet.

Karkowsky: Das Sankt Petersburger Filmfestival für Schwule und Lesben war schon immer schwierig zu organisieren, es ist ja auch einmal schon, 2008, glaube ich, aus Sicherheitsbedenken angeblich verboten worden. Wie ist das mit den neuen Gesetzen, die jetzt also landesweit gelten, was bedeuten die für Ihre Arbeit? Ist dieses Filmfestival damit überhaupt noch legal durchführbar?

Sultanowa: Ja, also die Behörden machen jetzt alles Mögliche, um unsere Organisation illegal zu machen, um unsere Organisation kaputt zu machen. Und dafür nutzen sie ein anderes Gesetz, nicht dieses Propagandagesetz, sondern ein Gesetz über ausländische Agenten. Unsere Organisation, das Festival wurde als ausländischer Agent abgestempelt, weil wir ausländische Finanzierung haben und, wie das Gericht formuliert hat, politische Tätigkeit durchführen. Wegen diesem Gesetz müssen die jetzt eine sehr hohe Strafe zahlen. Das sind 400.000 Rubel, etwa 9000 Euro. Für die Organisation und auch für mich als Direktorin persönlich sind das 300.000 Rubel, das ist der erste Weg für die Behörden, uns kaputt zu machen.

Aber wir werden das alles durchstehen, und wir haben viel Unterstützung von vielen Leuten aus Russland, aus dem Ausland, und wir werden weitermachen. Und natürlich befürchten wir jetzt Anschuldigungen nach dem neuen Gesetz, weil das Festival gerade das Gegenteil macht, was jetzt die staatlich kontrollierten Medien in Russland machen. Wir machen einen offenen Raum für Dialog. Und wir geben Informationen, wissenschaftliche Informationen, wir geben neutrale Informationen. Wir fördern Diskussion über Homosexualität, Bisexualität, Transgender. Und gerade das möchten die Behörden nicht, weil das kann diese homophobe Denkweise verändern.

Karkowsky: Nun ist Ihr Filmfestival ein relativ kleines Event, aber 2014 kommt dann das ganz große, dann kommen nämlich die Olympischen Spiele nach Russland. Was wünschten Sie sich denn, wie die internationale Gemeinschaft sich da verhalten sollte?

Sultanowa: Also ich glaube, dass die Olympischen Spiele zu boykottieren, ist erst mal nicht realistisch, weil sich eigentlich fast alle staatlichen bereiterklärt haben, teilzunehmen. Und zweitens ist es nicht richtig gegenüber Sportlern. Also ich finde, man soll die Olympischen Spiele besuchen als ausländischer Sportler. Was wichtig ist, wenn die Sportler, wenn die Teilnehmer, die Fans, wenn die Regierungsmenschen ihre Haltung über die Verletzung von Menschenrechten äußern könnten, das wäre natürlich sehr gut. Aber nicht nur wegen Verletzung von Rechten von Lesben und Schwulen. Weil es ist nicht das einzige Problem hier, Menschenrechte, es werden – Migranten werden furchtbar diskriminiert, sie werden angegriffen. Sie bekommen keinen Lohn, monatelang. Aktivisten, politische Aktivisten, Menschenrechtsaktivisten werden verfolgt, auch unabhängige Journalisten werden verfolgt. Menschenrechte in Russland werden überall verletzt, und ich glaube, es ist wichtig, wenn ausländische Solidarität dieses breite Thema der Verletzung von Menschenrechten behandelt und nicht nur Verletzung von lesbisch-schwulen Rechten. Weil dann gibt es einen Ausdruck, der Westen unterstützt nur die LGBTs, und alle anderen interessieren den Westen nicht.

Karkowsky: LGBTs muss ich noch kurz erklären, das ist die internationale Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Gulja Sultanowa, Ihnen herzlichen Dank für das Gespräch. Sie ist die Organisatorin des schwul-lesbischen Filmfestivals "Side by Side", das läuft im November in Sankt Petersburg, wenn nichts dazwischen kommt. Und sie hat uns von der Situation der Schwulen und Lesben und natürlich auch der Menschenrechte unter der neuen nationalen russischen Gesetzgebung berichtet.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.