Grundverschiedene Brüder

19.10.2009
Die Brüder Grimm waren weit mehr als Märchensammler: Sie waren penible Wissenschaftler und wurden in den Revolutionszeiten des Vormärz zu politischen Stars, wie aus Steffen Martus' kürzlich erschienener Biografie hervorgeht.
"Der eine ist kränklich, der andere ein harter Arbeiter; der eine neigt zu Goethe, der andere zu Schiller; der eine führt seine Forschungen ruhig aus, den anderen beseelt ein fast schon faustischer Entdeckerdrang ..." – Steffen Martus macht in seiner Biografie über die Brüder Grimm vor allem eines deutlich: Die beiden waren grundverschieden.

Da ist zunächst Jacob (1785 – 1863), ein Jahr älter als Wilhelm und der intellektuellere von beiden. Er ist es, der den Ton des brüderlichen Dialogs bestimmt: eine offene und ehrliche Streitkultur. Wilhelm (1786 – 1859) beugt sich diesem Wunsch, nicht zuletzt deshalb, weil er in der Lage ist, die Vielfalt der Meinungen anzuerkennen. Er ist flexibler und beweglicher als sein Bruder - sowohl, was wissenschaftliche Meinungen als auch, was den Umgang mit anderen Menschen betrifft - und damit verschafft er seinem Bruder immer wieder die notwendige Erdung.

Trotz ihrer Polarität hängen die beiden Brüder wie Kletten aneinander. Als Jacob 1802 zum Studium nach Marburg geht, sind sie zum ersten Mal getrennt – und es fällt ihnen schwer, das auszuhalten.

Es ist die Stärke von Steffen Martus’ Biografie, dass sie hier und auch an anderen Stellen einordnet. Die große Bruderliebe, so schreibt Martus, ist eng mit der Liebe der Brüder zu den Büchern verbunden. Denn gemeinsam lassen sich Bücher einfacher sammeln. Und: Diese Liebe entspricht dem Zeitgeist – wie alle Romantiker, erklärt Martus, glauben auch die Grimms an die "innere Einigkeit der Gegensätze".

Steffen Martus liefert eine sehr ausführliche Lebensbeschreibung der Grimms. Dabei zeigt er, wie eng ihre Forschungen mit der damaligen Zeitgeschichte verknüpft waren. Wenn etwa Jacob in seiner "Geschichte der deutschen Sprache" untersucht, worin die Eigenheiten der deutschen Sprache liegen, dann sucht er im Grunde danach, was in der Zeit der Vielstaaterei die deutsche Nation ausmacht.

Kein Wunder also, dass die Grimms zu den Göttinger Sieben gehörten, eine Professorengruppe, die 1837 offen gegen die Aufhebung der Verfassung im Königreich Hannover protestierte und deshalb entlassen wurde. Und kein Wunder auch, dass Jacob 1848 zum Mitglied der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche gewählt wurde.

Mit einer Portion Respekt erörtert Steffen Martus, der selbst Professor für Neuere Deutsche Literatur in Kiel ist, auch die Grimm'sche Forschungshaltung, die Konservativität und Moderne verbindet. Die Grimms plädierten für historische Kontinuität – und waren sich gleichzeitig bewusst, dass ihr Wissen nicht ewig gelten würde. Als Paradebeispiel gilt Martus das Mammutprojekt des "Deutschen Wörterbuchs", das so groß war, dass der letzte der 32 Bände erst 1971 erschien. Die Grimms arbeiteten mit 600.000 Belegzetteln, die sie ständig neu ordnen und erweitern konnten. Eine durch und durch lebendige Arbeit, stellt Martus fest – lebendig wie die Sprache selbst.

Natürlich gibt es in der Biografie auch ein ausführliches Kapitel über die Hausmärchen. Es ist das spannendste Kapitel – nicht zuletzt weil Martus hier besonders pointiert formuliert. Er zeigt die Grimms als Marketing-Spezialisten, die einfach behaupteten, ihre Märchen seien mündlich überliefert – obwohl sie die meisten in verstaubten Bibliotheken gefunden und dann gehörig bearbeitet hatten; so lange, bis jener Märchen-Erzählton gefunden war, der den Leser noch heute in diese schaurig-schöne Stimmung versetzt...

Und so lässt sich sagen: Steffen Martus’ Biografie über die Grimms ersetzt einem zwar nicht den Wolf und die sieben Geißlein, aber spannend und interessant ist sie trotzdem.

Besprochen von Marcus Weber

Steffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biografie.
Rowohlt Verlag, 2009
608 Seiten, 26,90 Euro