Groteske zur Terror-Hysterie

Von Volker Trauth · 07.10.2009
In "Freie Sicht" wird ein Mädchen verdächtigt, ein explosives Paket in einem Einkaufszentrum versteckt zu haben. Marius von Mayenburg zeichnet in seinem neuen Stück am Nationaltheater Mannheim eine absurde Szenerie des Schreckens nach.
Summary "Freie Sicht". Deutsche Erstaufführung von Marius von Mayenburg
Nationaltheater Mannheim. Premiere 7.10.09
Regie: Burkhart Kosminski

Der Plot ist schnell erzählt. Freie Sicht wollen zwei Beamte eines Sondereinsatzkommandos der Polizei erzwingen, freie Sicht auf ein sogenanntes Zielobjekt. Das Zielobjekt erweist sich als 10-jähriges Mädchen, das ein grünes Paket mit unbekanntem Inhalt in einen Müllkasten an einem Einkaufszentrum gesteckt hat. Damit löst sie eine kollektive Sicherheitshysterie aus.

Die Parole wird ausgegeben, dass gerade von 8- bis 12-jährigen Kindern Terrorismusgefahr ausgeht. Die Erwachsenen im Umfeld des Mädchens - von Mayenburg nennt sie, ihre Gesichtslosigkeit zu unterstreichen, "Schwarm" - übertreffen sich im Erzählen von Schreckensszenarien und Albtraumfantasien. Irrwitzige Situationen entfalten sich: Die Eltern des Mädchens erfinden vor einer fiktiven Sicherheitskommission Ausreden, warum sie ihr Kind nicht schon lange angezeigt haben. Eine heftige Debatte darüber setzt ein, wer dazu prädestiniert wäre, ein Vieraugengespräch mit dem Mädchen zu führen. Am Ende wird es von einem Scharfschützen getroffen.

Dann ein Zeitsprung rückwärts in die Vergangenheit und das Opfer lüftet das Geheimnis um das Paket: Sie hat darin einen tödlich verletzten Vogel verpackt. Der Text ist als Ergebnis eines Workshops im australischen Adelaide entstanden, den der Autor zusammen mit dem australischen Regisseur Benedict Andrew veranstaltet hat.

Die Grundsituation eines Kinderspiels um den Vorgang "Verstecken" war den Schauspielern vorgegeben worden und ist von denen auf ganz unterschiedliche Weise umgesetzt worden: als Monolog, als situativer Dialog, als Chor oder als persönliches Bekenntnis. Die für von Mayenburg neue Produktionstechnologie bringt Gewinn und Verlust. Auf der einen Seite gewinnt sein Text an spielerischer Leichtigkeit, die Konflikte erscheinen als weniger durchkalkuliert, auf der anderen fehlt es an stilistischer Geschlossenheit.

In Burkhart Kosminskis Inszenierung steht das chorische Sprechen neben der Zweierszene, die absurde Situation, an der alle beteiligt sind, neben dem bemühten Erklären des Sachverhalts für das Publikum. Auch schauspielerisch geht es bunt durcheinander. Einige Darsteller nutzen das Textmaterial, um bruchstückhaft Figurenverhalten spielen zu können, andere bleiben beim illustrierenden Nacherzählen. Partnerspiel entsteht für Momente, wenn sich Sven Prietz als Ermittler aufspielt und den Eltern Erziehungsfehler nachweisen will und Klaus Rodewald als Vater sich trotzig verteidigt und später den kollektiven Befund ("Wir haben alle keine Fehler gemacht") bejubelt. Weil der Regisseur irgendwann erkennt, dass dieses Stück vom Publikum nicht als aktuell und dringlich empfunden wird, hat er mit hinzuerfundenen Zutaten nachzuhelfen versucht. Im Hintergrund laufen Ausschnitte eines Videofilms, der uns Amoklaufszenen in einem Schulgebäude vorführt. Lehrer in realer Gestalt oder als verfremdete Strichmännchen werden von überdimensional großen Maschinengewehren hingemäht und verspritzen literweise Blut. Wenig überzeugend, weil solche "Regieeinfälle" nicht zwingend aus der dramatischen Vorlage erwachsen. So konnte letztlich der Beweis nicht erbracht werden, warum dieses Stück gespielt werden muss.