Großer Kater statt große Party

Von Michael Frantzen · 06.10.2009
Wie kaum ein anderes Land in Europa hat die Weltwirtschaftskrise Lettland aus der Bahn geworfen. Als "klinisch tot" bezeichnete der lettische Notenbankchef die Wirtschaft des Balten-Staates. Täglich gehen gut 200 Firmen Bankrott, über 17 Prozent beträgt die Arbeitslosigkeit. Der einstige baltische Tiger ist hoch gesprungen und flach gelandet.
Eigentlich hat Guntis Gerwoless alles richtig gemacht. Sein Traktor etwa, mit dem er seit dem frühen Morgen den Acker durchpflügt: Kommt aus Schweden - und gilt als einer der besten weltweit. Genau wie das Kühlhaus für die Milch, dessen blitzblanke Chrombehälter und blinkenden Lichter sich gut in jedem Science-Fiction-Film machen würden. Ist "Made in Germany" – Guntis springt vom Traktor und zeigt stolz auf das Etikett, das in der Sonne glitzert. Es ist noch einmal warm geworden – in Kurland, der Kornkammer Lettlands.

Zu Sowjetzeiten, vor der Unabhängigkeit des Baltenstaates Anfang der 90er, hätte der Landwirt von all dem nur träumen können; dass der Hof, für den der Urururgroßvater einst 18 Gold-Rubel zahlte, wieder einmal in neuem, alten Glanz erstrahlen würde. Vor kurzem erst hat der Anfang 50-Jährige die Fassade des Wohnhauses streichen lassen: Weiß das Untergeschoss, rot die zwei oberen Stockwerke. So wie früher. Zum ersten Mal huscht ein Lächeln über Guntis sonnengegerbtes Gesicht. Ehe man sich versieht, ist es auch schon wieder verschwunden.

Guntis Gerwoless: "Ich bin langsam mit meinem Latein am Ende. Die Kosten steigen, steigen und steigen. Wir müssen jetzt gut 70 Centimes, also einen Euro, für den Liter Diesel zahlen. Und gleichzeitig bekommen wir immer weniger für unser Fleisch und unsere Milch. Vor einem Jahr haben uns die Molkereien noch 25 Centimes für den Liter gezahlt. Jetzt können wir froh sein, wenn es 15 sind. Wie soll ich da meinen Kredit zurückzahlen? Das ist doch nicht normal. Diese verdammte Krise treibt uns noch in den Ruin."

Die "Krisis" – die Krise – wie in den meisten lettischen Familien ist sie auch bei den Gerwoless Dauerthema. Guntis kennt die Zahlen fast schon auswendig: Die Wirtschaft des 2.3 Millionen-Landes: Ist allein im ersten Quartal des Jahres um 18 Prozent geschrumpft; die Arbeitslosigkeit: Auf über 17 Prozent gestiegen. Tag für Tag - meldet das Arbeitsministerium - gehen gut 200 Firmen Bankrott.

Bankrott gegangen ist auch der alte Krämerladen von Talsi, der beschaulichen Kreisstadt vier, fünf Kilometer entfernt vom Hof der Gerwoless. "Von einen Tag auf den anderen", erzählt Guntis Frau Maija und fährt sich mit der Hand durch das rot gefärbte Haar. Auf dem Wochenmarkt oberhalb des Dorfangers, wo sie manchmal dienstags Milch und Beeren verkauft, spekulieren die Marktfrauen schon darüber, wer als nächster daran glauben muss. "Maija", fragen sie, "was ist mit deinem Tante-Emma-Laden?" Vier Mal die Woche geht die Bäuerin hier nebenbei arbeiten, steht sie für den Besitzer, die örtliche Genossenschaft, an der Kasse – umgeben von Billig-Zigaretten, die trotz Fotos von Raucherlungen auf den Packungen reißenden Absatz finden und kleinen, schwarzen Schachteln, die sich bei näherem Hinsehen als Kondome entpuppen.

Maija Gerwoless: "Es kommen immer mehr Leute zu uns, die kein Geld haben. Besonders schlimm ist es am Monatsende, da lässt mindestens die Hälfte anschreiben. Und du weißt genau: Die meisten werden es nicht zurückzahlen können. Rentner sind darunter, aber auch immer mehr Mütter von Kleinkindern, die ihren Job verloren haben wegen der Krise. Denen ist das unglaublich peinlich, Talsi ist ja nicht besonders groß, da kennt jeder jeden. Du siehst sie dann, wie sie die Straßenseite wechseln, wenn sie das nächste Mal an unserem Laden vorbeikommen. Mir geht das richtig an die Nieren. Ich meine, wir sind keine Wohltätigkeitsorganisation, wenn wir so weitermachen, sind wir irgendwann pleite. Aber was soll ich tun? Wenn jemand vor dir steht und sagt: Wenn du mir jetzt nicht Butter und Mehl gibst, erhänge ich mich."

Schulte: "Man kann nur existieren. Schon lange nicht mehr normal leben. Besonders im Winter, wenn man die Heizung und Strom bezahlen muss. Das ist wirklich sehr bedauernswert. Und plötzlich sind wir einfach die, die aus der Gesellschaft ausgestoßen werden."

Gut 130 Kilometer östlich von Kurland entfernt, in der lettischen Hauptstadt Riga, kann es Ausma Schulte immer noch nicht fassen. 49 Jahre lang hat die Studienrätin Deutsch unterrichtet, die meiste Zeit am renommierten Zweiten Gymnasium von Riga - einem strahlend weißen, neo-klassizistischen Bau direkt neben dem Nationaltheater. Und jetzt das! Dass sie eine der in Osteuropa üblichen Mini-Renten bezieht: 220 Lats, rund 310 Euro – das sei zwar unfair, aber: Das habe sie noch verkraften können. Meint die Rentnerin, der man ihre 75 nicht ansieht. Doch dass der Staat ihr Anfang des Jahres die Rente um zehn Prozent gekürzt hat: "Eine Frechheit." Ihre Augen funkeln. Energisch streicht sie die Tischdecke in ihrem kleinen Wohnzimmer glatt.

Noch härter trifft die Witwe die neuste Sparmaßnahme von Regierungschef Dombrovksis: Jeder Rentner, der sich nebenbei etwas dazu verdient, erhält nur noch ein Drittel seiner Pension. Bislang hat Ausma Schulte neun Stunden die Woche an ihrer alten Schule Abiturienten in Deutsch unterrichtet. Aber das rechnet sich jetzt nicht mehr.

Frau Schulte sei nicht die einzige pensionierte Lehrerin, die sie verlassen habe – betont der stellvertretende Schulleiter des Gymnasiums, Gin Gunbars:

"Mit Frau Schulte sind fünf weitere Lehrer gegangen. Wie sollen wir diese Lücke schließen? Wir haben so und so schon Probleme, unsere Lehrer zu halten – wegen der Gehaltskürzungen: Seit Anfang des Jahres erhalten sie ein Fünftel weniger Lohn. Das sind durchschnittlich nur noch 350 Lats im Monat. Brutto wohlgemerkt. Da überlegen sich meine Lehrer doch zwei Mal, ob sie weiter unterrichten. Sie können mit 350 Lats in Riga nicht vernünftig leben."

Wenn man so will, hat Gin Gunbars – ein stiller Mann, der trotz seiner Anfang 40 immer noch etwas von einem Musterschüler hat - Glück gehabt. Seine Schule stand nicht auf der Streichliste der lettischen Regierung für das neue Schuljahr Anfang September. Allein zehn Schulen mussten in Riga ihre Pforten schließen, auf dem Land waren es noch viel mehr. Viertausend Lehrer und Lehrerinnen wurden entlassen – Opfer eines "finanziellen Kahlschlages", wie die Wochenzeitung "Baltic Times" kommentierte.

Ilga Brixna hat es auch erwischt. Seit dem ersten Juli ist die Germanistik-Dozentin in Rente. Dabei lief ihr Vertrag noch bis 2011. Doch was sollte sie schon tun? Wenn der Direktor der "Universität von Lettland" Millionen sparen muss und den Rotstift unter anderem beim Masterstudiengang Germanistik ansetzt. Aufnahmestopp! Und so verbringt die 63jährige ihre Tage nicht mehr in den alterwürdigen Gemäuern der Rigaer Universität, sondern zu Hause – in einem windschiefen Haus voller Bücher, in dem Goethes "Werther" und Schillers "Don Carlos" auf Tuchfühlung gehen mit ihren alten Manuskripten.
Brixna: "Nächtelang überleg ich mir, wie es weitergehen wird. Und kann nicht schlafen. Meine Rente ist auch nicht besonders groß. Also, ich hab wirklich Befürchtungen, wie ich die Rechnungen bezahlen kann. Und ob ich davon leben kann. Dazu kommt noch, dass meine Töchter auch noch arbeitslos geworden sind. Und die große Tochter hat zwei Kinder. Sie hat einen Freund. Der hat zum Glück noch (klopft auf Tisch) Arbeit. (lacht) Automechaniker. Aber da gibt's ja auch weniger Aufträge. So! Und da müssen wir damit leben. Ich weiß auch nicht wirklich: Ich hab Existenzangst."

Existenzangst – das Wort kommt in Toms Grevins Vokabular nicht vor. Der blasse Mittzwanziger mit dem trendigen Seitenscheitel ist einer der gefragtesten DJs des Landes:

"Vielen Leuten im Show-Business geht es zurzeit eigentlich ganz gut. Ich kann nicht klagen. Es gibt bei uns dieses Sprichwort: Wenn der letzte Tag kommt, geht der Lette erst einmal einen Trinken. Ich bin Resident-DJ in Rigas angesagtestem Club: Der Milchbar. Der Laden hat im Februar aufgemacht und ist jedes Wochenende pickepacke voll. Es ist verrückt. Ich glaube, die meisten sagen sich angesichts der Krise: Jetzt erst recht!"

Meint Rigas bekanntester DJ – nur um hinzuzufügen, seine Freunde sähen das genauso. Kameramann ist einer, Grafikerin eine andere, viele Musiker; die im selben Alter sind wie Toms. Und ähnlich ticken: Kein Auto, keine Eigentumswohnung, keine Riesen-Kredite. Den einzigen Kredit, den der DJ zurückzahlen muss, ist für seinen Mac: 20 Lats im Monat. "Was habe ich schon zu verlieren?" – meint Toms lakonisch.

"Das ist natürlich bei Leuten anders, die im Monat 1000 oder 1500 Lats für ihr Auto zurückzahlen müssen. Oder ihre Luxuswohnung. Vor ein paar Jahren herrschte ein richtiger Konsumrausch. Alles auf Pump. Die Banken haben dir die Kredite förmlich hinterher geworfen. Bei einigen konntest du sogar welche per SMS abrufen. Es gehörte zum guten Ton, sich zu verschulden. Es war cool, eine Wohnung zu kaufen; einen deutschen Sportwagen; was auch immer. Jeder dachte sich: Macht nichts, Ende des Jahres verdiene ich so und so viel mehr Geld als vorher."

Die Zeiten sind vorbei. Besonders gut lässt sich das in Rigas pittoresker Altstadt mit ihren Jugendstilpalästen und Patrizierhäusern erkennen. In den letzten Jahren ging es hier nur "Stop-and-Go" voran, verstopften fabrikneue Audi Quattros und Straßenpanzer der Marke Hummer das Kopfsteinpflaster; ließ sich Valerijs Kargin, der Besitzer der Parex-Bank, vorzugsweise in seiner Maybach-Limousine herumkutschieren.

Das war einmal. Die Straßen sind wieder frei, Kargin musste seine Bank – die zweitgrößte des Landes - im November 2008 an Vater Staat verkaufen – für ganze zwei Lats.

"Geschieht ihm recht!" Ieva Jurgevica verzieht das Gesicht. Die blonde 30-Jährige ist nicht besonders gut zu sprechen auf Banker. Seit sieben Uhr morgens ist die Geschäftsfrau jetzt schon auf den Beinen. Um halb neun hat sie ihre zwei kleinen Kinder zur Großmutter gebracht, bevor sie sich in ihr Büro gesetzt hat. Spät abends wird sie es wieder verlassen. Alltag für Ieva.

Seit gut drei Jahren macht die Frau mit dem offenen Gesicht die Buchhaltung für 70 kleine und mittelständische Unternehmen. Sieben haben bereits dichtgemacht – die "Krisis" – meint sie. Doch so schnell lässt sich Ieva nicht entmutigen. Hat ja noch andere Feuer im Eisen. Da ist nämlich noch ihr Internet-Portal für lettische Künstler.

"Wir sind seit zwei Monaten online. Bislang sind 15 Künstler in meiner Kartei. Die meisten kommen vom Land, sie haben dort kaum die Möglichkeit, ihr Kunsthandwerk zu verkaufen. Die Einheimischen haben dafür kein Geld. Und welcher Tourist verirrt sich schon in abgelegene Gegenden in Ostlettland, an der Grenze zu Weißrussland? Mein Online-Portal bietet ihnen die Chance, ihr Kunsthandwerk zu vertreiben. Man darf jetzt in der Krise doch nicht einfach den Kopf in den Sand stecken. Ich gebe den Künstlern zwar kein Geld, aber eine Chance, die sie nutzen können."

Seine Chance nutzen – das will auch Guntis Gerlowess in Kurland. Noch wirft die Schreinerei, sein zweites Standbein neben der Landwirtschaft, Gewinn ab. Doch die Frage ist, wie lange sich die Leute in Talsi und Umgebung noch maßgeschneiderte Fensterrahmen und Gartenmöbel leisten können? Guntis hebt die sehnigen Hände.

An seiner Milch verdient er schon lange nichts mehr. Kein Einzelfall: Ende Januar blockierten Hunderte Bauern mit ihren Traktoren eine Hauptzufahrtsstraße in Riga, um vom Staat höhere Milchpreise einzufordern. Vergeblich. Als einziges Zugeständnis erlaubt die Regierung den Bauern jetzt, ihre Milch direkt vom Tankwagen aus zu verkaufen.

Guntis Gerlowess: "Wir tun das auch. Doch das bringt nicht viel. Sie können hier auf dem Land nicht so viel verlangen wie in Riga. Wir haben schon überlegt, einmal die Woche nach Riga zu fahren. Aber: Uns fehlt die Kraft, die 250 Kilometer hin und zurück zu fahren. Außerdem müßten wir einen speziellen Kühlwagen kaufen – damit die Milch nicht schlecht wird. Das rentiert sich doch vorne und hinten nicht."

Schon Anfang des Jahres stürmten Tausende Letten das Parlament – aus Wut über den Sparkurs der damaligen Regierung. Der Straßenprotest fegte die alte Regierung hinweg. Doch auch die neue will weiter sparen. Mehr als 700 Millionen Euro allein dieses Jahr. So verlangt es der IWF, ohne dessen 7,5 Milliarden-Euro-Kredit der "baltische Tiger", der längst zum "baltischen Komapatienten" mutiert ist, längst zahlungsunfähig wäre.

Massive Einsparungen plus Steuererhöhungen – das ist die bittere Medizin, die Premierminister Dombrovskis seinen Landsleuten auch nächstes Jahr verabreichen will. An den Kragen gehen soll es unter anderem Immobilienbesitzern.

Der Germanistik-Dozentin Ilga Brixna aus Riga wird bei dem Gedanken schon ganz mulmig. Sie kramt aus der Schublade des wuchtigen Eichen-Schreibtisches in ihrem Arbeitszimmer unterm Dach einen Artikel hervor. Mit Textmarker hat sie die wichtigsten Stellen markiert:

"Also, diese Immobiliensteuer – drei Prozent. Das ist Wahnsinn für uns. Das hat man vor. Und Einkommenssteuer. Und dann weiß ich nicht. Wir haben ein Haus von meinem Großvater geerbt. Anfang des Jahrhunderts gebaut. Und da überlege ich mir: Meine Güte, wenn's hoch kommt, dann muss ich da ausziehen. Weil ich das nicht mehr bezahlen kann."

Solche Sorgen muss sich Toms Grevins nicht machen. Mit seinem Verdienst als DJ und dem Geld für seine Radiosendung kommt er ganz gut über die Runden. Mögen die anderen auch gegen den Sparkurs der Regierung protestieren – Toms hält sich da raus. Politik interessiert ihn nicht. Lettlands gesamte Politikerkaste – für den Musiker ist sie eine einzige "Krisen-Gesellschaft"; für die er nur Spott übrig hat:

"Es gibt da diesen Witz: Barack Obama geht zu Gott und fragt ihn: Lieber Gott, wie lange wird die Krise mein Land noch plagen? Gott sagt: Na gut, bei dir: Noch fünf Jahre. Und Obama fängt an zu weinen. Dann kommt Medwedew, der russische Präsident und stellt dieselbe Frage. Und Gott sagt: Bei dir – zehn Jahre. Und Medwedew fängt an zu weinen. Schließlich kommt unser lettischer Ministerpräsident zu Gott. Und Gott fängt an zu weinen."