Große Denker am Berg der Wahrheit

Von Holger Heimann · 24.03.2013
Das Festival "Eventi Letterari Monte Verità" erinnert mit prominenten Autoren, wie Hans Magnus Enzensberger und Peter Sloterdijk, an den legendären Berg der Wahrheit als Ort der Künstler und Freigeister. Es ging um Utopien und Obsessionen, Triumphe und Fehlschläge.
Einst war die Anziehung enorm. Lang ist die Reihe von Schriftstellern und Künstlern, die, allen voran Hermann Hesse, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts vom kleinen Fischerdorf Ascona am Lago Maggiore hinauf den Monte Verità, den Berg der Wahrheit, erklommen. Ihr Antrieb war Neugier. Denn geleitet von der Sehnsucht nach einem anderen, wahrhaftigeren Leben hatte hier im Tessin eine Kommune von Aussteigern und Freigeistern ihren Traum vom Idyll verwirklicht.

20 Jahre währte das lebensreformerische Experiment der nackten Sonnenanbeter, glaubensfesten Vegetarier und hingebungsvollen Propheten. An das kulturelle Erbe der Utopisten anzuknüpfen und den Mythos des Bergs neu zu beleben – dies war jetzt das Ziel des viertägigen Literaturfestivals Monte Verità. Die Idee dazu hatte Marco Solari, Präsident des Filmfestivals in Locarno und Chef des Tourismusverbandes der Region:

"Der Monte Verità ist natürlich ein Ort, auf welchem sehr viel gedacht worden ist in der Vergangenheit, dann schlief man ein bisschen ein. Und da war es naheliegend zu sagen, machen wir es doch, machen wir etwas daraus. Wecken wir den Monte Verità doch aus dem Dornröschenschlaf. Machen wir etwas durchaus mit Ambition, mit Ehrgeiz. Versuchen wir ganz große Namen unserer heutigen Literaturszene zu gewinnen."

Letzteres ist gelungen: Hans Magnus Enzensberger und Peter Sloterdijk sind nach Ascona gekommen, aus Triest ist Claudio Magris angereist, aus Moskau Vladimir Sorokin - eingeladen, um nachzudenken über "Utopien und herrliche Obsessionen".

Enzensberger hat dereinst ein Gedicht mit "Utopia" überschrieben und darin Unordnung und Anarchie als paradiesische Zustände gefeiert. Doch das ist lange her. Und so erzählte Enzensberger, der in seinem Buch "Meine Lieblings-Flops, gefolgt von einem Ideen-Magazin" eine ganze Reihe gescheiterter Projekte aufgelistet hat, in Ascona nunmehr vom Gewinn des Misslingens:

"Scheitern ist ein relatives Scheitern. Weil ich mir etwas vorgenommen habe, was nicht einlösbar ist."

Die für ihn so typische Heiterkeit scheint leicht und beschwingt zu machen: zu Fuß ist der 83-Jährige den Berg hinaufgegangen, ganz so wie dessen Bewohner vor hundert Jahren auch. Auf die ferne Zeit blickt er mit einer Mischung aus Belustigung und Sympathie:

"Mini-Utopien haben ja einen gewissen Charme, die kann man sich raussuchen. Es ist ja keine Zwangsveranstaltung gewesen hier. Die sind ja freiwillig gekommen."

Folgt man Peter Sloterdijk, so ist auf dem Monte Verità ohnehin nur ein Projekt, nicht aber eine Utopie gescheitert:

"Utopien sind schlicht und einfach Gegenbilder zur Wirklichkeit. Und Gegenbilder zur Wirklichkeit sind selber keine Wirklichkeiten, sondern Maßstäbe. Aber Maßstäbe scheitern nicht, sie werden angelegt oder nicht angelegt. Sie werden aktualisiert oder nicht aktualisiert."

Das Experiment der frühen Hippies vom Monte Verità scheint von heute aus betrachtet jedoch eher Attraktion als Maßstab zu sein. Impulse für den ohnehin zuweilen diffusen Utopiediskurs während des Festivals lieferte die Vergangenheit jedenfalls kaum. Vielleicht sollte man bei einer Premiere aber auch nicht zu mäkelig sein und allein schon die Idee und die Energie, mit der sie in die Tat umgesetzt wird, preisen. Doch die Organisatoren selbst wollen an höchsten Ansprüchen gemessen werden. Marco Solari formuliert es so:

"Irgendwie müssen wir versuchen, ein bisschen etwas Spezielles zu sein und dürfen uns einfach nicht mit der Mittelmäßigkeit begnügen."

Zu den herausragenden Literaturfesten wird man Ascona nach diesem Auftakt wohl noch nicht zählen können. Dafür war vom einstigen Zauber des Monte Verità dann doch ein bisschen zu wenig zu spüren während der Tage. Dem ambitionierten Programm ist das noch am wenigsten anzulasten, auch wenn nicht bei jedem Auftritt die Verbindung zum Grundgedanken des Festivals offensichtlich wurde.

Vielmehr dämmert der Berg selbst noch vor sich hin. Der Ort der Freigeister und Utopisten ist zu einem Kongresszentrum der Zürcher Universität geworden. Dominiert wird er von einem Hotel im Bauhausstil, das der Bankier Eduard von der Heydt 1929 errichten ließ, nachdem er das legendäre Areal vorher erworben hatte. Es ist ein eher kühles Ambiente für die Auftritte der Schriftsteller, Philosophen und Musiker – weit entfernt von den Szenen der Ausgelassenheit, die sich hier einst abgespielt haben müssen. Die Gebäude von damals stehen derweil verlassen. So ist die Casa Anatta, das 1902 erbaute Wohnhaus der Gründer der Naturistenkolonie seit 2009 geschlossen. Der großartige Bau, der mit den abgerundeten Ecken ganz dem theosophischen Geist seiner Bewohner entsprach, ist eingerüstet. Ein Notdach verhindert, dass es weiterhin in die Casa Anatta hineinregnet. Dieses Jahr soll endlich mit den Renovierungsarbeiten begonnen werden, 2015 dann die ausgelagerte Ausstellung zur Geschichte des Monte Verità zurückkehren.

Noch mehr Zeit darf nicht ungenutzt verstreichen, mahnt Andreas Schwab, Chronist des Wahrheitsberges, und beklagt:

"Es fehlt ein Herz. Wenn der Monte Verità von seiner Vergangenheit entkleidet ist, ist er ein Seminarhotel, wie es viele andere gibt."

Das ist dem Festival jedenfalls gelungen: an die berühmte Vergangenheit zu erinnern. Eine Stimmung, die den Berg erneut zu einem Magneten machen könnte, muss sich hingegen noch entwickeln. Einen Anfang gibt es jetzt.