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Neue Interpretationen
Eigenwillige Duos

Vier Werke aus dem frühen 20. Jahrhundert: In dieser spannenden Phase des Übergangs zwischen einer erschöpften musikalischer Vergangenheit und einer vielversprechenden ungewissen Zukunft schreiben Leoš Janáček, Igor Strawinsky, Sergej Prokofjew und Maurice Ravel sehr eigenwillige Duos. Diese wurden jetzt neu interpretiert.

Von Raoul Mörchen | 13.03.2016
    Der Komponist Igor Strawinsky.
    Der Komponist Igor Strawinsky. (picture alliance / dpa / UPI Media)
    Mit Raoul Mörchen und vier Werken für Violine und Klavier aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Es sind Werke aus einer spannenden Phase des Übergangs zwischen einer erschöpften musikalischen Vergangenheit und einer vielversprechenden und zugleich äußerst ungewissen Zukunft: In diesem Übergang schreiben Leoš Janáček, Igor Strawinsky, Sergej Prokofjew und Maurice Ravel sehr eigenwillige Duos, die in der Geigerin Sarita Kwok und dem Pianisten Wei-Yi Yang beim Label GENUIN Classics zwei ausgesprochen energische Interpreten finden.
    Janáček blieb lange unbemerkt
    Es ist unbegreiflich, warum diese Musik so lange überhört wurde. Wie konnte man sie ignorieren, obwohl sie mit so viel Wut und Leidenschaft auf sich aufmerksam macht? Und so anders ist, als alles andere um sie herum.
    Mit dem alten Leoš Janáček hatte einfach niemand gerechnet. Bis er 50 war, kannte man ihn allenfalls als fanatischen Sammler mährischer Volkslieder. Seine Werke galten als harmlose Duzendware. Lange unbemerkt blieb seine so folgenreiche Idee, nicht nur die Melodien von Liedern und Tänzen, sondern die Melodien der Sprache selbst zu notieren. Sein erster Geniestreich, die Oper Jenufa, war 1904 immerhin ein Achtungserfolg, doch es dauerte noch bis in die 20er Jahre, bis Leoš Janáček, der mittlerweile 70jährige, auch international wahrgenommen wurde.
    Vielgerühmte Spätphase
    Seine Violinsonate hat an der Entwicklung durchaus Teil. Sie steht am Anfang der heute so vielgerühmten Spätphase, sie trägt die allerbesten Züge des alten Komponisten, und doch: Die meisten großen, klassischen Geiger wie Heifetz, Stern, Szeryng oder Milstein haben sie nicht angerührt. Erst in den letzten zwanzig, dreißig Jahren änderte sich das, und zwar gründlich. Und so ist auch die neue Aufnahme der aus Australien stammenden Geigerin Sarita Kwok und des taiwanesischen Pianisten Wei-Yi Yang zunächst bloß ein weiterer Eintrag in einer mittlerweile stetig wachsenden Diskographie. Man könnte ihn glatt übersehen, diesen Eintrag, zumal die beiden Interpreten hierzulande nahezu unbekannt sind. Doch das wäre schade: Nur selten schließlich kann eine Aufnahme ihre Hörer derart elektrisieren und beunruhigen.
    Emotionale und radikale Komposition
    Man bekommt regelrecht Gänsehaut, folgt man den beiden Professoren der Yale-University, folgt man Sarita Kwok und Wei-Yi Yang durch Janáčeks Sonate. Dass der Komponist nichts vorausplante, dass ihn Leidenschaft und Jähzorn mehr motivierten als irgendeine Struktur es konnte, dass alles, was plötzlich anfängt, ebenso plötzlich wieder abreißt, dass Janáček den Notentext wie im Rausch vollgestopft hat mit Anweisungen und viel zu vielen Vorzeichen, so dass am Ende kaum ein Durchkommen ist – man kann all das tatsächlich hören in dieser so radikal ungeschönten und riskanten Aufnahme.
    Janáček mutet seinen Interpret unendlich viel zu, und Kwok und Yang geben diese Zumutung eins-zu-eins weiter. Denn in der Zumutung steckt die Essenz von Janáčeks Musik: die Unmittelbarkeit ihres Willen und ihres Ausdrucks. Sie spricht ohne Umschweife direkt zu ihrem Publikum, und manchmal schreit sie es regelrecht an. Kwok und Yang haben die Not dieser Musik ganz offenbar verstanden.
    Eigentümliche Distanz zur Musik bei Prokofjew
    Was für Janáček recht ist, ist für Strawinsky nicht billig. Sein Duo Concertante, Strawinskys einziges Originalwerk für Geige und Klavier, plagt keine Sorgen, es will nichts ausdrücken und bleibt auf Abstand. Strawinsky schwärmte vom Ideal einer ästhetischen Objektivität, Gefühle waren ihm peinlich. Das unterscheidet ihn von Janáček – und vereint ihn mit Prokofjew. Auch bei Prokofjew spürt man diese eigentümliche Distanz zur Musik, selbst wenn sie etwas mehr Wärme versprüht und sich bodenständiger gibt und volkstümlicher. Die Fünf Melodien, die Sarita
    Kwok und Wei-Yi Yang ausgewählt haben für ihr Recital, waren ursprünglich Lieder ohne Worte in der Nachfolge Mendelssohns. Prokofjew hat sie später umgearbeitet und ihre Konturen geschärft – sie sind aber auch in der Instrumentalfassung noch betont freundlich.
    Abwechslung bei Ravel
    Der Übergang von Strawinsky zu Prokofjew ist nicht nahtlos, der von Janáček zu Strawinsky ist kein Bruch. Nicht auf diesem Album. Sarita Kwok und Wei-Yi Yang gelingt es, das Individuelle individuell klingen zu lassen und es doch kenntlich zu machen als Teil ein und derselben Epoche. Das gilt auch für die zweite Violinsonate von Maurice Ravel. Sie beschließt das Recital, das gerade einmal die Zeitspanne von zwanzig Jahren umfasst und doch unterschiedlichste Positionen vereint. Darauf wohl spielt der doppeldeutige Titel des Albums an: Das englische Wort INTERCHANGE bedeutet Abwechslung, aber auch Austausch.
    Abwechslung gibt es gerade bei Ravel reichlich. Seine Sonate wirkt wie wahllos zusammengewürfelt. Auf den entrückten, weltfernen Eröffnungssatz folgt ein launischer Blues und schließlich, als Kehraus, ein rasendes Perpetuum mobile. Für die Interpreten heißt das: schnell umschalten und nicht festhalten an einer Gangart, einem Klang, einer Stimmung. Sarita Kwok und Wei-Yi Yang scheint das auch gar nicht in den Sinn zu kommen. Lieber lassen sie sich überraschen von den Launen des Komponisten. Die beiden Professoren aus Yale sind so wenig professoral und akademisch, wie man es sich nur wünschen kann. Statt ihre enormen technischen Ressourcen sicher zu verwalten, werfen sie sie mutig jedes Mal neu in die Waagschale. Sie gehen auf Risiko – und gewinnen.
    Das Finale der zweiten Violinsonate von Maurice Ravel, gespielt von Sarita Kwok und Wei-Yi Yang. Die neue Platte des Duos von der US-amerikanischen Yale-University trägt den Titel INTERCHANGE – Austausch oder auch: Abwechslung – und enthält außerdem das Duo Concertante von Igor Strawinsky, die Fünf Melodien von Sergei Prokofjew und die Violinsonate von Leoš Janáček. Erschienen ist das Album beim Label Genuin Classics und wurde Ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.
    Vorgestellte CD:
    Interchange - Violin & Piano Duos of the 20th Century
    Werke von Janáček, Strawinsky, Prokofjew und Ravel
    Sarita Kwok, Violine
    Wie-Yi Yang, Klavier
    GENUIN Classics GEN 16548