Großbritannien

Change Bell Ringing

London: Palace of Westminster mit Big Ben (03.06.2014)
London: Palace of Westminster mit Big Ben © picture alliance / Daniel Kalker
Von Gabi Biesinger  · 28.07.2014
Im Königreich Großbritannien wird das Change Bell Ringing, das Wechselläuten mit großer Hingabe gepflegt. Einsamkeit oder Menschenflucht suchen die modernen Glöckner dabei allerdings nicht: Es gibt an die 45.000 aktive Bell Ringer.
Donnerstagabend in einer kleinen Seitenstraße nicht weit vom Tower of London. An dem schmiedeeisernen Tor am Hintereingang zum verwilderten Kirchgarten von St. Olave trudeln nach und nach junge Leute ein.
"Ich heiße Rebecca und bin heute Abend hier, um Kirchenglocken zu läuten. Ich habe das Läuten gelernt, als ich zehn Jahre alt war. Meine Eltern läuten und haben mich immer mitgenommen in den Glockenturm, sie sind auch zu anderen Kirchen gereist und haben dort geläutet. Und als ich alt genug war, wollte ich es auch unbedingt lernen."
Rebecca ist 22 Jahre alt, sie hat gerade Examen gemacht, nach ihrem Biologiestudium an der Queen Mary Universität. Als sie damals zum Studieren aus ihrem Heimatort Lewis in Sussex nach London kam, hat sie sich als erstes bei der University of London Society of Bell Ringers angemeldet. Bei der Gemeinschaft der Glöckner - so hatte sie auf einen Schlag ihr lieb gewonnenes Hobby und einen Freundeskreis in der neuen Stadt:
"Nach dem Läuten gehen wir auch immer noch in den Pub und trinken ein paar Bier. Obwohl ich jetzt nicht mehr an der Uni bin, komme ich trotzdem noch hierhin. Man ist hier quasi Mitglied auf Lebenszeit und auch später immer wieder willkommen."
Jeden Donnerstagabend wird anderthalb Stunden lang in der St. Olave Church trainiert, Sonntags wird für den Gottesdienst geläutet. Sophie taucht aus der Dunkelheit auf. Sie hat den Schlüssel für den Glockenturm: Enge Stufen führen hinauf in die Glockenstube. In dem kargen weiß gekalkten viereckigen Raum hängen acht Seile von der Decke. An der Wand ein paar Stühle, in der Mitte ein Tisch.
Zur Krönung der Königin gegossen
Ryan Noble, der in diesem Jahr der Master der Bell Ringer ist und die Truppe organisiert klettert mit mir die steile gewundene Treppe noch weiter nach oben, zu den acht Glocken. Die wurden 1953 zur Krönung der Königin gegossen. Die Glocken sind an Rädern befestigt, so dass man sie nicht nur seitlich schwingen sondern um 360 Grad herumzuschleudern kann. Diese Aufhängung ist die Voraussetzung für das Wechselläuten. Ryan lässt den Klöppel sanft an die Glocke schlagen:
"Sie sind ziemlich laut, und wenn man sie einmal komplett rumwirbelt sind sie natürlich noch lauter. Viele Kirchen in London haben zwölf Glocken, aber wir läuten überall, von sechs bis zwölf Glocken. In Birmingham gibt es 16 Glocken, aber nur insgesamt drei Kirchen weltweit haben so viele Glocken, Perth in Australien und eine gibt es noch in Irland."
Unten in der Glockenstube haben sich inzwischen ein gutes Dutzend Leute versammelt. Ryan gibt Anweisungen, wer welches Glockenseil übernimmt und setzt sich dann hin. Luke soll eine halbe Yorkshire-Abfolge dirigieren. Die Bell Ringer sprechen nicht von Melodien oder Rhythmen, sie sprechen von "methods", Abfolgen, die nach ihren Erfindern oder Regionen benannt sind. Lincolnshire Surprise Major, Cambridge Surprise Royal oder Stedmans' Triples heißen die Abfolgen. Letztere ist benannt nach dem Pionier des Wechselläutens, Fabian Stedman. Der Pfarrerssohn veröffentlichte 1677 das erste Buch über Wechselläuten.
Mit dem Handzug wird die Glocke einmal um sich selbst geschwungen, das Seil wickelt sich um das Rad, bei Rückzug wird das Seil wieder abgewickelt, die Glocke ertönt noch einmal. Die Glöckner können aufrecht stehenbleiben, sie müssen sich nicht bücken oder besonders strecken. Aber manchmal wird drei, vier Stunden am Stück geläutet und dann ist das echte körperliche Arbeit.
Wie eine Fremdsprache
Die Konzentration steht den Glöcknern ins Gesicht geschrieben, manche haben die Augen geschlossen. Läuten ist Teamarbeit und präzise Abstimmung. Jeder Glöckner muss sich die einzelnen "methods" einprägen, Abfolgen lernen wie eine Fremdsprache. Sophie zeigt ein kleines Büchlein, in dem die Abfolgen erklärt sind: Die Zahlenreihen, die durch Linien verbunden sind, erinnern ein bisschen an ein Strickmuster.
"Das ist ein Glöcknerkalender. Da sind die ganzen Abfolgen erklärt. Wenn man der Linie folgt, sieht man, wie sie auf und abläuft, und am Ende der Klang aller Glocken nacheinander immer einen Kreis bildet."
Das ganze sieht ziemlich kompliziert aus, aber Physikstudent Tim winkt ab:
"Man braucht wirklich nicht Mathe studiert zu haben, um das zu kapieren. Etwas Gefühl für Rhythmus oder die Logik von Mustern reicht. Es ist ein bisschen wie Musik."
Etwa 45.000 aktive Bell Ringer gibt es in Großbritannien schätzt Rupert Littlewood. Der Erdkundelehrer ist der Präsident der UL Society of Bell Ringers. Zum Läuten kam er über seinen Onkel, der als Redakteur für die "Ringing World" arbeitet, das wöchentlich erscheinende Fachmagazin für den Glockenfreund.
Durch die Familie zum Glockenläuten
Dort werden neu gehängte Glocken vorgestellt und alle Ereignisse erfasst, zu denen geläutet wurde. Das können Großereignisse wie königliche Hochzeiten oder Beerdigungen sein. Oder man verabredet sich einfach, um eine bestimmte Abfolge zu läuten und das dokumentieren zu lassen. Rupert schildert, dass die meisten jungen Leute durch die eigene Familie zum Glockenläuten kommen. Und dass es trotzdem Nachwuchsprobleme gibt.
"Es gibt den Dachverband der Bell Ringer, die immer um Nachwuchs werben, denn die, die das Hobby betreiben, werden immer älter. An Universitäten ist Wechselläuten ziemlich etabliert und hat einen guten Ruf. Aber aus anderen Bereichen haben wir kaum Nachwuchs, dabei ist das doch so eine gesellige Angelegenheit."
Etwa 5tausend Glockentürme mit Wechselgeläut stehen in Großbritannien. Und manche Glöckner träumen von dem großen Ziel, möglichst viele dieser Türme abzugrasen schmunzelt Tom:
"Man nennt das 'Tower-Grabbing'. Ich finde es zwar auch ganz interessant, mal wo anders zu läuten, wegen der Atmosphäre, aber manche Leute haben richtige Listen auf denen sie abhaken, wo sie überall schon geläutet haben."
Ganz oben auf der Liste steht Westminster Abbey. Dort sei es am schwierigsten reinzukommen, erzählen die Bell Ringer. Man darf nur nach persönlicher Einladung läuten. Irgendwie scheinen sich die Glöckner in der Westminster Abbey sehr viel darauf einzubilden, dass die Königsfamilie dort so häufig zu Gast ist, wird vermutet. Aber auch die berühmte St. Paul's Kathedrale gehört zu den Top-Kirchen.
Glöckner handverlesen
In der St. Pauls Kathedrale treffe ich den pensionierten Paul Mounsey, der mir den Glockenturm zeigt. Durch unendliche Gänge und Stuben, in denen Talare ausgebessert oder goldene Kronleuchter gelagert werden, führt Paul mich in die Glockenstube. Auch in St. Pauls sind die Glöckner handverlesen:
"St. Paul's wird als die wichtigste Kathedrale des Lands gesehen, wo bedeutende Gottesdienste gefeiert werden. Und viele Leute möchten hier gerne mal läuten. Wir haben hier aber eine feste Gilde von Glöcknern, die alle ausgewählt wurden. Und manchmal nehmen wir neue Glöckner darin auf, wenn wir meinen, dass sie besonders gut sind."
Es gibt in der St. Pauls Kathedrale zwar auch offene Proben, bei den Gäste von anderen Kirchen läuten dürfen. Aber 30 Glöcknerinnen und Glöckner gehören zum festen Team von St. Pauls, das bei Gottesdiensten läutet.
Oder bei besonderen Ereignissen, wie etwa der Beerdigung der ehemaligen Premierministerin Margret Thatcher im vergangenen April. Wer wann läutet wird übrigens ganz einfach durch ein computergesteuertes Buchungssystem koordiniert. Die Glöckner geben an, wann sie können und werden entsprechend eingesetzt. Aber es kann auch passieren, dass bei einem bestimmten Anlass plötzlich alle läuten wollen, erklärt Paul Mounsey schmunzelnd:
"Wir bestellen immer 13 oder 14 Glöckner, auch wenn es nur zwölf Glocken sind. Aber es könnte ja passieren, dass mal einer mit der Bahn oder im Verkehr stecken bleibt. Und wenn plötzlich mal das Interesse sehr groß ist, zum Beispiel bei einer bestimmten Beerdigung zu läuten, dann haben die Vorrang, die am längsten dabei sind."
Im Internet findet man einen Videoausschnitt des Läutens zu Ehren von Margret Thatcher. Die Glocken wurden bei der Trauerfeier gedämpft geläutet, damit sie nicht zu fröhlich klingen. In den Kommentaren zu dem Video im Internet geht den Glockenfreunden das Herz auf: Fantastic Bells, großartige Glocken lobt eine Laura. Es ist ein Genuss diese Glocken halb gedämpft zu hören, schwärmt ein Simon. Ein vollständiger Läutzyklus, ein sogenannter "Peal" umfasst 5000 Wechsel in der Reihenfolge des Läutens der einzelnen Glocken und dauert drei bis vier Stunden.
"Es wurden schon Zyklen mit 40.000 Wechseln geläutet, das sind dann über 24 Stunden. Es ist nicht erlaubt, einen Glöckner zwischendurch auszuwechseln. Man kann sich aber Wasserflaschen hinstellen und zwischendurch daraus trinken. Aber nur ganz alleine, es geht nicht, dass einem jemand die Flasche an den Mund hält."
Landesweiter Wettbewerb
Die Regeln bei den Bell Ringing Societies sind streng. Und besonders streng geht es bei den Wettbewerben zu. Einmal im Jahr messen sich die englischen Glöckner landesweit. Das junge Team von der University of London ist in diesem Frühjahr seit Jahrzehnten zum ersten Mal wieder bei den Vorausscheidungen dabei. Bisher fanden sich nie mehr zwölf Glöckner, die gut genug waren. Toll, dieses Mal mitmachen zu können, freut sich Ryan:
"Seit dreißig Jahren sind wir zum ersten Mal dabei. Und wir haben gerade beim Frühstück auf einer Serviette ausgerechnet, dass unser Durchschnittsalter im Team 24 Jahre ist. Keiner von uns war geboren, als wir das letzte Mal mitgemacht haben. Und wir sind diesmal das jüngste Team."
Noch nie haben die Bell-Ringer von der University of London den Wettbewerb gewonnen. In den 80er-Jahren wurde das Team mal Zweiter. Aber heute sind die sechs Studenten und sechs Studentinnen sehr zufrieden, als sie vom Glockenturm kommen und die Sektkorken knallen lassen: Mal sehen wie es ausgeht, lacht Rupert. Später im Pub werden dann die Ergebnisse verkündet. Tom Hinks von der Jury beschreibt, wie die Richter das Läuten des Uni-Teams bewertet haben:
"Es begann sehr schwungvoll, das Team hat am zügigsten von allen geläutet. Leider gab es zu viele Fehler zwischendrin und in der dritten Runde passte einiges nicht. Das Tempo lag bei drei Stunden und 20 Minuten."
Am Ende ist es leider nur Platz sechs von sieben. Das Uni-Team kommt nicht in die Endrunde. Kein Problem. Mariko hat einen Kuchen gebacken auf dem alle 12 Team-Mitglieder als Marzipanmännchen mit ihren Glockenseilen abgebildet sind. Der wird fachmännisch angeschnitten. Und Ryan beschwört gut gelaunt den Olympischen Geist:
"Auch wenn wir nur Sechster von Sieben geworden sind, ist das okay. Für uns ist es ungewohnt, zwölf Glocken zu läuten. Wir sind das jüngste Team und können offenbar sehr viel schneller läuten als ältere Menschen. Kein Grund zur Enttäuschung. Dabei sein ist alles."